Nach Polizeieinsatz: Weiter Zittern um Hambacher Forst
Am Freitag hieß es kurz, der von Rodung bedrohte Wald sei gerettet – dann wieder doch nicht. Die Kohleaktivist*innen sind verärgert.
Es wäre eine kleine Sensation gewesen: Der Spiegel meldete am Freitagmittag, dass die Kohlekommission in Berlin beschlossen habe, den Kohleausstieg schon in den kommenden Jahren vom Westen Deutschlands her zu beginnen. Sechs Kohlekraftwerke im Rheinischen Revier sollten abgestellt werden – damit sei auch der Hambacher Forst gerettet.
„Die gesamte Meldung entbehrt jeder Grundlage“, teilte das Wirtschaftsministerium im Auftrag der Geschäftsstelle der „Kommission Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ am Freitag mit.
„April, April“, kommentierte Antje Grothus, Aktivistin von der Bürgerinitiative „Buirer für Buir“ und Mitglied der Kohlekommission, diese Meldung. „Angesichts solcher immer wieder vorkommenden erfundenen Leaks bin ich kurz davor, das Vertrauen in den gesamten zivilgesellschaftlichen Prozess zu verlieren. Die ernsthafte Aufgabe der Kohlekommission sollte ohne solche Störfeuer von außen ablaufen können.“ Es würde außerdem auch gar nicht reichen, wenn der Wald bleibt – es gehe schließlich auch um die Dörfer.
Aktivist*innen: Fortführung des Konfliktes
Anstatt also zu feiern, stellen sich auch die Aktivist*innen im Hambacher Forst auf eine Fortführung des Konfliktes ein. Am Donnerstag hatte die Polizei nach Wochen der relativen Ruhe erneut Räumungen von Rettungswegen durchgeführt und den Wald als Gefahrengebiet ausgerufen.
Aktivistin „Lena“, die ihren Namen nicht veröffentlicht sehen möchte, bezeichnete das Vorgehen und den Verlauf des Einsatzes als „fragwürdig und widersprüchlich“. Zunächst habe es geheißen, dass nur Rettungswege geräumt werden, erzählt sie. Dann seien auch Zelte und Plattformen außerhalb der Wege entfernt worden. Selbst vor der Gedenkstätte zu Ehren des am 19. September tödlich verunglückten Steffen Meyn wurde nicht Halt gemacht. Wie mehrere Augenzeug*innen berichteten, zerstörten RWE-Leute sie – Andenken wie Fotos und persönlichen Botschaften fehlen nun. Das wurde in Aktivist*innen-Kreisen und auf Twitter vielfach als pietätlos verurteilt und als respektlose Provokation bezeichnet.
Polizei und RWE hätten sich gegenseitig die Verantwortung für den Einsatz in die Schuhe geschoben. Offiziell heißt es von der Polizei Aachen, man handle im Sinne der „Verkehrssicherungspflicht“, die RWE garantieren müsse – und man habe dabei lediglich RWE-Mitarbeiter*innen vor „möglichen Übergriffen geschützt“.
Zunächst verlautbarte die Polizei, dass der Einsatz friedlich verlief. Dann wurde eine vermeintliche Bombe gefunden, die sich aber als Attrappe entpuppte. Aktivistin Lena bezeichnete den Fall als „öminös“. Ein anderer Aktivist verwies auf frühere Fälle konstruierter „Gefahren“.
Polizei umstellt Wiesencamp
In einer Polizeipressemitteilung heißt es, dass zwei Menschen „wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung vorläufig festgenommen“ wurden. Sie hätten laut RWE mit Steinen geworfen, ohne jedoch jemanden zu verletzen. Daraufhin umstellte die Polizei das Wiesencamp, in welches sich die Verdächtigen zurückgezogen hätten. Nachdem ein Durchsuchungsbefehl offenbar nicht bewilligt worden war, zogen sie jedoch wieder ab. Man arbeite an einer Sammelklage, um gegen die Vorwürfe der Polizei zu wehren.
Auch Antje Grothus verurteilte die Räumungen und kritisierte das Vorgehen der Polizei. Die Ausrufung eines „Gefahrengebiets“ durch die Beamten sei abermals intransparent vonstatten gegangen. Man werde als Bürger nicht über Rechte und Pflichten aufgeklärt und fühle sich bei Durchsuchungen der Polizei ausgeliefert, sagte Grothus.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
„Die Situation ist undurchsichtig, und vieles passiert genau dann, wenn keine Presse und keine Beobachter da sind“, so Lena. „Ich traue mich schon gar nicht mehr, Prognosen zu treffen, wie es weitergeht, weil man nur falsch liegen kann. Was hier passiert, ist nicht rational, und selbst kurzfristigen Aussagen der Polizei kann man nicht vertrauen. Auf jeden Fall rechnen wir weiterhin mit einer Räumung.“ Derzeit gibt es wieder einige Baumhäuser in dem von Rodung bedrohten Wald.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei VW
Massiver Gewinneinbruch bei Volkswagen
VW-Vorstand droht mit Werksschließungen
Musterknabe der Unsozialen Marktwirtschaft
Verfassungsgericht entscheidet
Kein persönlicher Anspruch auf höheres Bafög
Kamala Harris’ „Abschlussplädoyer“
Ihr bestes Argument
Zu viel Methan in der Atmosphäre
Rätsel um gefährliches Klimagas gelöst
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott