Nach Messerattacke in Zug bei Brokstedt: Angreifer faselte von Anis Amri
Der Mann, der zwei Menschen tötete, soll sich in seiner U-Haft mit einem Attentäter verglichen haben. Hamburgs Justizsenatorin hat das verschwiegen.
Das geht aus der Personalakte von A. hervor, die der Justizbehörde zum Zeitpunkt des Ausschusses bereits vorlag. A. saß, eine Woche bevor er in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg mutmaßlich mit einem Messer auf Zugreisende einstach und dabei zwei junge Menschen tötete, noch in der JVA in Untersuchungshaft.
„Es gibt nicht nur einen Anis Amri, es gibt mehrere, ich bin auch einer.“ Das soll A. beim Verschließen der Hoftür gesagt haben, so stehe es in seiner Gefangenenpersonalakte, wie Thomas Baehr, Srecher der Hamburger Justizbehörde mitteilt. Zuvor soll er bei der Vorbereitung auf die Freistunde auf dem Hof „vor sich hingestammelt“ haben: „Großes Auto, Berlin, das ist die Wahrheit.“ Auf dem Weg zum Hof habe er einen Bediensteten zweimal gefragt, ob er auch „unter die Reifen“ wolle.
Zwar werden die Bediensteten nach Angaben der Justizbehörde geschult, das gesamte Vollzugsverhalten auf Hinweise zu beobachten, die auf eine extremistische Haltung oder Radikalisierung zurückzuführen sind. Als solche gewertet wurden die Äußerungen von A. aber nicht. Daher wurden sie von der JVA der Aufsichtsabteilung der Justizbehörde nicht gemeldet – und blieben letztlich ohne Konsequenzen.
Personalakte im Ausschuss unterschlagen
Holger Schatz, Staatsrat der Justizbehörde, erklärte im Ausschuss am Donnerstag, dass A. Stimmen gehört sowie einen Mithäftling und einen Vollzugsbeamten angegriffen hatte. Von einer Personalakte war keine Rede. Auch, dass sich Ibrahim A. in Haft als Anis Amri bezeichnet hatte, verschwiegen die Vertreterinnen und Vertreter der Justizbehörde.
Aber warum? Über konkrete Inhalte der Akte habe man die Öffentlichkeit bislang nicht informiert, „um die strafrechtlichen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft nicht zu gefährden“, erklärt Baehr.
Dennis Thering, justizpolitischer Sprecher der CDU, ist empört: „Dem Justizausschuss wurden entscheidende Informationen vorenthalten, obwohl diese bereits der Justizbehörde bekannt waren. Damit erscheint deren Wirken im ganz neuen Licht.“
Was Senatorin Gallina im Ausschuss ebenfalls nicht erzählte: Die für A. zuständige Ausländerbehörde in Kiel wurde von den Hamburger Behörden nicht bei seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft informiert – erst recht nicht darüber, wie sich A. in der Haft verhielt. Erst am Donnerstag – 15 Tage nachdem A. aus der JVA Billwerder entlassen wurde – habe das Landgericht Hamburg die Ausländerbehörde per E-Mail und Fax über die Aufhebung des Haftbefehls gegen A. informiert. Vorher habe es keine aktenkundige Information über die Haftentlassung gegeben, sagte Kerstin Graupner, Sprecherin der Stadt Kiel, der Deutschen Presse-Agentur am Freitag.
Auch Kai Wantzen, Sprecher des Hanseatischen Oberlandesgerichts, bestätigte der taz: „Im Rahmen einer internen Überprüfung war aufgefallen, dass eine frühere Mitteilung im Bereich des Landgerichts versehentlich unterblieben war.“
Opposition redet bereits von Rücktritt
Dieses Versagen fällt nun auf Justizsenatorin Anna Gallina zurück, sie gerät weiter unter Druck. In einer Sondersitzung des Justizausschusses wird sie sich erneut den Fragen ihrer Kolleginnen und Kollegen stellen müssen, da sind sich die Fraktionen einig. Hört man in die Reihen der Opposition, könnte es für die Senatorin richtig unbequem werden – noch mehr als im letzten Ausschuss.
„Wenn es sich bewahrheitet, dass Ibrahim A. in der Haft mit Attentaten drohen konnte und trotzdem ohne Konsequenzen auf freien Fuß gesetzt wurde, wird Justizsenatorin Gallina nun endgültig nicht mehr zu halten sein“, so Thering, der auch Vorsitzender der CDU-Fraktion ist.
Auch Cansu Özdemir von den Linken fordert die Senatorin zu Konsequenzen auf. „Und sie muss sich fragen, ob sie nach all den früheren Problemen rund um ihre Person und ihre Behörde und angesichts der Tat in Brokstedt in der Lage ist, ihr Amt weiter auszuüben. Es reicht.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Rücktrittsforderungen gegen Lindner
Der FDP-Chef wünscht sich Disruption