Nach Messerangriff in Schweden: „Freundliche Stadt“ sucht Antworten

Die Angriffe eines jungen Geflüchteten auf Passanten hatten wohl keinen Terrorhintergrund. Vielleicht waren psychische Probleme die Ursache.

Herz aus Rosen und Kerzen vor einem Baum

In Vetlanda erinnern ein Herz aus Rosen sowie Kerzen an die Opfer der Attacken Foto: Reinhard Wolff

VETLANDA taz | Freitagnachmittag in Vetlanda. Eine südschwedische Kleinstadt auf halbem Wege zwischen Malmö und Stockholm. Gelegen mitten in Småland mit seinen rot-weißen Holzhäusern, der schwedischen Postkartenidylle. Zwei Tage zuvor war die Stadt plötzlich in den Schlagzeilen. „Possible terrorist attack“ titelte der britische Guardian, „Man Armed With Ax Injures 8“ meldete die New York Times.

Das mögliche Terrormotiv ist mittlerweile fraglich, die Axt war ein langes Küchenmesser. Mit dem stach der Täter sieben Passanten nieder, verletzte sie teils leicht, teils lebensgefährlich. Gemeinsam war den Opfern zwischen 35 und 75 Jahren offenbar nur, dass sie ihm zufällig begegneten, bevor die Polizei ihn mit einem Beinschuss stoppen und festnehmen konnte.

48 Stunden später sind die Polizeiabsperrungen in der Innenstadt abgebaut. Auf dem Marktplatz parkt ein einsamer Streifenwagen. „Wir wollen in erster Linie Präsenz zeigen“, sagt Polizist Stefan Klein: „Und erreichbar sein, wenn jemand Fragen oder eine Information hat.“ Sein Kollege beruhigt derweil einen Mann mit einem Kinderwagen: „Nein, wir glauben nicht, dass noch irgendeine Gefahr besteht. Alles deutet auf einen Einzeltäter hin. Und der ist ja gefasst.“

An die Attacken und Opfer erinnern ein großes Herz aus roten Rosen und Kerzen vor „Gretas Blumenladen“ neben dem Rathaus. Ein Mann versucht seinen beiden Kindern zu erklären, was es damit auf sich hat: „Die Leute wollen so zeigen, dass sie an die Menschen denken, denen weh getan wurde.“

Langes Warten auf Polizei und Krankenwagen

Thomas Ahlgren betreibt den Zeitungsladen im Reisezentrum von Vetlanda. „Hier im Warteraum nebenan“, deutet er durch die Glastür, „gibt es eine Kundschaft, die sich da regelmäßig aufhält“. – „Naja und er gehörte auch dazu“, sagt Ahlgren. Ob der Mann ihm irgendwie aufgefallen sei? „Da waren ein paar kleinere Zwischenfälle. Darüber muss man aber nicht reden.“ Am Tag der Tat sei ihm der Mann aber „irgendwie seltsam“ vorgekommen.

Ahlgren erzählt: Viertel vor drei sei es gewesen. Er habe einen Vater mit seinem Sohn bedient und kurz nachdem beide gegangen waren, sei eine junge Frau hereingestürzt: „Ruf 112 an, da hat jemand auf einen eingestochen und der blutet richtig stark.“ Er habe die Nummer gewählt, zugleich sicherheitshalber die Tür nach draußen abgeschlossen „und als ich mich umdrehe, schwankt durch die andere Tür der Mann, den ich gerade bedient hatte, herein und bricht zusammen“.

Mit einem Handtuch habe er versucht, dessen Blut – „die Wunde war gleich unter dem Herzen“ – zu stoppen und auf die Ambulanz gewartet. „Es hat ewig gedauert. Sicher 20 Minuten.“

In der Stadt ist schon lange Thema, dass Polizei und Rettungsdienst hier nicht mehr fest stationiert sind, sondern erst aus dem 30 Kilometer entfernten Eksjö kommen müssen.

Bis dahin war in der Kleinstadt Vetlanda nie etwas los

Dabei ist Sicherheit das Aushängeschild der Kommune mit 27.000 EinwohnerInnen, von denen knapp 14.000 im Zentralort wohnen. Auf ihrer Website präsentiert sie sich als „einer der sichersten Orte in Schweden“. Beim letzten Ranking des Nachrichtenmagazins Fokus bekam Vetlanda erneut einen Spitzenwert in der Kategorie Sicherheit und landete zum 15. Mal in Folge in der Rubrik „Hier lebt man am besten“.

„Freundliches Vetlanda“ hat die Stadt ihre Facebook-Seite überschrieben und wirbt mit „echten Erlebnissen, Nähe und Ruhe“. „In Vetlanda war nie etwas los“, erinnert sich ein Journalistenkollege, der in den 1980er Jahren sein Volontariat bei der Lokalzeitung eines Nachbarorts absolvierte.

„Nun ist bei uns etwas passiert, was wir nie für möglich gehalten haben“, sagt Bürgermeister Henrik Tvärno: „Plötzlich ist alles in Frage gestellt, was wir bislang für selbstverständlich hielten.“ Der 47-jährige Sozialdemokrat spricht von „Albtraum“, „Tragödie“, „unfassbar“ und „Schock“.

Letzteren spüren vor allem diejenigen, die den 22-jährigen Täter kannten. Man habe sich mit „Hej!“ gegrüßt, berichtet eine Nachbarin aus dem Mietshaus, in dem er wohnte, im Rundfunk. Wie es eben üblich sei. In der Nachbarwohnung ein Gewalttäter, der einen siebenfachen Mordversuch begangen hat? „Ich verstehe gar nichts mehr.“

Nachbarin, Trainer und Bruder sind fassungslos

Und sie erzählt, dass sie plötzlich Angst bekommen habe. In der Nacht vom Mittwoch auf Donnerstag habe sie es nicht mehr in ihrer Wohnung ausgehalten und mit ihrer kleinen Tochter bei einer Freundin übernachtet.

„Ich bin total schockiert“, sagt auch Henryk Szymkowiak. Der 78-Jährige boxte einst in Polens Nationalmannschaft und ist jetzt Trainer bei einem Klub in Jönköping. Ein von ihm trainierter 18-jähriger Flüchtling aus Afghanistan gewann einen schwedischen Juniortitel.

Ja, den Mann aus Vetlanda habe er auch trainiert: „Er war schüchtern, aber motiviert. Manchmal etwas übermotiviert. Aber er hatte wirklich Talent.“ Szymkowiak sagt: „Ich wollte es nicht glauben, als ich sein Gesicht plötzlich auf dem Polizeivideo erkannte.“

Die Boxbegeisterung seines zehn Jahre jüngeren Bruders T. erwähnte gleich sein ältester Bruder, der mit seiner Familie in Kabul lebt, als Journalisten ihn kontaktierten. Terrortat? Das halte er für völlig abwegig. Sein Bruder habe sich nie „für so etwas“ interessiert. Aber Boxen sei sein großes Hobby gewesen.

Vielleicht habe er ein paar zu kräftige Schläge auf den Kopf bekommen und sei nicht mehr gesund. Nach dem Tod der Eltern sei er vor fünf Jahren plötzlich von zu Hause verschwunden. Erst später habe er sich aus dem Iran und dann aus Schweden gemeldet. Er wollte sich dort ein neues Leben aufbauen.

2016 war T. einer von Zehntausenden unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, die damals nach Schweden kamen. Der 17-Jährige stellte einen Asylantrag, bekam 2017 eine vorläufige Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, lebte erst in einer Asylunterkunft in einem südschwedischen Ort und begann am dortigen Gymnasium einen Sprachkurs.

Kritik an Hinhaltetaktik der Flüchlingspolitik

Schwedisch ist für viele Afghanen schwer. Für T. war es anscheinend besonders schwer, denn auch Englisch, die Verständigungsbrücke, beherrscht er offenbar nicht besonders gut.

„Wenn es nun bloß nicht wieder so eine Ausländerdebatte gibt“, sagt die Verkäuferin in „Björns Buchhandel“. Zwei Gymnasiastinnen, die an der Kasse warten, schalten sich ein: „Wir haben einen afghanischen Mitschüler, der schon Angst hat, dass man ihn jetzt auch für einen Mörder oder Terroristen hält.“

Am Samstag hat der Kleiderladen gegenüber dem Rathaus ein handgemaltes Schild an den Eingang gestellt: „Zusammen sind wir stark, Vetlanda.“ Hundert Meter weiter in der Fußgängerzone haben sich drei Männer mit den grün-weißen Fahnen der rassistischen „Nordischen Widerstandsbewegung“ aufgestellt. Zwei weitere mit deren Logo auf der Jacke versuchen Flugblätter mit ihrer Hasspropaganda loszuwerden. Die meisten PassantInnen machen einen Bogen um sie.

Gibt es eine Mitverantwortung der schwedischen Flüchtlingspolitik für die Tat, wenn auch ganz anders als die Neonazis das suggerieren? Seit fünf Jahren wird über die Asylanträge der damals unbegleiteten Minderjährigen aus Afghanistan nicht entschieden. Sie werden mit befristeten Aufenthaltsgenehmigungen in ständiger Angst und Unsicherheit gehalten. Wer nach einer Ausbildung nicht binnen sechs Monaten einen festen Arbeitsplatz nachweisen kann, muss mit Abschiebung nach Kabul rechnen.

Organisationen und Einzelpersonen, die sich um diese Flüchtlinge kümmern, berichten von wachsenden psychischen Problemen und prangern regelmäßig diesen unerträglichen Zustand an.

Schon lange wird eine Amnestie gefordert. Zwei Tage, bevor T. ein Brotmesser in den Rucksack packte und zum Reisezentrum radelte, veröffentlichten die schwedische Kirche, das Rote Kreuz und andere Hilfsorganisationen erneut einen gemeinsamen Appell an die Regierung, den Aufenthaltsstatus der Afghanistan-Flüchtlinge endlich zu regeln. Die Zeitung Expressen warnte: „Verzweifelte junge Männer können genauso gefährlich werden wie Terroristen.“

Bis zum 19. März soll die Anklageschrift gegen T. vorliegen. Ein psychiatrisches Gutachten soll klären, ob er schuldfähig ist. Ein Gerichtsprozess wird wohl noch vor dem Sommer stattfinden. Vielleicht kann der wenigstens einige Antworten auf die Fragen geben, die man nicht nur in Vetlanda stellt.

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