Nach Anschlag in Hanau: Familien gegen das Land Hessen

Angehörige der Opfer des Hanau-Anschlags sehen Versäumnisse bei der Polizei. Jetzt stellen sie eine Dienstaufsichtsbeschwerde.

Fotos der Mordopfer des Hanau-Anschlags auf dem Marktplatz der Stadt

Neun Menschen, erschossen aus rassistischem Hass: ein Gedenken auf dem Hanauer Marktplatz Foto: Boris Roessler/dpa

HANAU taz | Bis heute treibt die Betroffenen des Hanau-Anschlags das Handeln der Polizei und Behörden rund um die Tat um. Immer wieder stellten sie kritische Fragen, sprachen von Versäumnissen. Nun gehen die Familien einen nächsten Schritt: Sie reichen Dienstaufsichtsbeschwerde gegen das Land Hessen ein.

Gestellt wird diese von dem Staatsrechtler Günter Frankenberg und dem früheren hessischen Justizminister Rupert von Plottnitz. Die Anwälte werfen den hessischen Behörden gleich mehrere schwere Fehler vor, für die das Land Hessen die Verantwortung trage – und für welche die Familien entschädigt gehörten.

Konkret benennen sie den unterbesetzten Notruf der Hanauer Polizei in der Tatnacht. Laut Innenministerium waren damals nur zwei Leitungen besetzt, die nach den Schüssen sofort belegt waren. Eine Rufumleitung an eine Leitstelle gab es nicht. Viele Notrufe drangen dadurch damals nicht zur Polizei durch – auch die von Vili Viorel Păun nicht, der den Attentäter Tobias R. mit seinem Auto verfolgt hatte und später von diesem erschossen wurde.

Die Polizei habe damit die Morde begünstigt, weil so schnellere Hilfe unterblieb, argumentieren die Anwälte. Insbesondere gelte dies für den Mord an Păun, der von Beamten von einer Verfolgung hätte abgehalten werden können, wäre er zur Notrufzentrale durchgekommen.

Unterbesetzter Notruf, verschlossener Notausgang

Angeführt wird auch der verschlossene Notausgang an einem der Tatorte, der Arena Bar. Dieser sei bereits seit Jahren zugesperrt gewesen, was Stammgäste gewusst hätten. Ein Zeuge sagte, dass die Polizei darauf gedrängt habe, um bei Drogenrazzien Fluchten zu verhindern. Die Polizei bestreitet das vehement. Frankenberg und von Plottnitz aber betonen auch hier, dass durch den verschlossenen Ausgang Fluchten mehrerer späterer Mordopfer verhindert wurden.

Die Anwälte werfen eingesetzten Polizisten zudem vor, bei dem im benachbarten Arena Kiosk angeschossenen Ferhat Unvar keine Vitalfunktionen geprüft und lebensrettende Maßnahmen eingeleitet zu haben, wie Überwachungsvideos bewiesen. Dort war zu sehen, dass Unvar sich nach den Schüssen zunächst noch hinter einen Tresen schleppt. Ein später eintreffender Beamter stieg aber nur über ihn hinweg. Die Totenurkunde nannte für Ferhat Unvar schließlich einen Todeszeitpunkt erst um 3.10 Uhr.

Zuletzt werfen die Familien den Behörden auch Verletzungen der Totenfürsorge und der postmortalen Würde der Mordopfer vor. So seien sie in der Tatnacht über Stunden nicht über das Schicksal ihrer Angehörigen informiert worden, auch nicht über die geplanten oder bereits erfolgten Obduktionen. Auch Tage später wurde ihnen danach nicht erklärt, wo die Leichname seien. Bei einem der Opfer, Hamza Kurtović, wurde zudem ein „orientalisch-südländisches“ Aussehen notiert, obwohl dieser blond und blauäugig war. Die Opferfamilien nennen diese Vorgänge einen „zweiten Anschlag“.

Anwälte stellen Frist bis 23. April

In ihrem Schreiben, das bereits am Montag an das hessische Innenministerium ging, fordern Frankenberg und von Plottnitz nun alle denkbaren disziplinarrechtlichen Schritte gegen die beteiligten Polizei- und Behördenvertreter vorzunehmen. Zudem müsse Hessen den Betroffenen alle materiellen und immateriellen Schäden ausgleichen. Die Anwälte setzen dafür eine Frist bis zum 23. April.

„Entgegen den Behauptungen des Innenministers gab es aus unserer Sicht gravierende Versäumnisse und Fehlleistungen von Behörden, für die das Land Hessen verantwortlich ist“, erklärten die Anwälte am Mittwoch. Das hessische Innenministerium äußerte sich zu der Dienstaufsichtsbeschwerde vorerst nicht.

Armin Kurtović, Vater des erschossenen Hamza Kurtović, erklärte aber bereits: „Sollte das Innenministerium sich erneut weigern, auf die von unseren Rechtsanwälten dargelegten Versagenspunkte einzugehen, werden wir beim zuständigen Gericht eine Amtshaftungsklage einreichen.“

Schon zuletzt hatten die Familien eine Anzeige zu dem verschlossenen Notausgang gestellt, um Ermittlungen zu forcieren. Gleiches geschah gegen den Vater des Attentäters, dem die Betroffenen eine Beihilfe an der Tat vorwerfen. Zudem fordern die Familien eine unabhängige Untersuchungskommission zu dem Anschlag.

Bei der Tat erschoss der Hanauer Tobias R. am 19. Februar 2020 neun Menschen mit migrantischen Wurzeln, danach auch seine Mutter und sich selbst. Auf seiner Internetseite hatte er einen Verfolgungswahn offenbart, aber auch einen rassistischen Hass gegen Migranten.

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Am 19. Februar 2020 erschoss der Rechtsextremist Tobias R. an drei verschiedenen Tatorten in der Hanauer Innenstadt neun Menschen:

Kaloyan Velkov, ermordet mit 33 Jahren.

Fatih Saraçoğlu, ermordet mit 34 Jahren.

Sedat Gürbüz, ermordet mit 30 Jahren.

Vili Viorel Păun, ermordet mit 22 Jahren.

Gökhan Gültekin, ermordet mit 37 Jahren.

Mercedes Kierpacz, ermordet mit 35 Jahren.

Ferhat Unvar, ermordet mit 22 Jahren.

Hamza Kurtović, ermordet mit 22 Jahren.

Said Nesar Hashemi, ermordet mit 21 Jahren.

Später ermordete der Attentäter seine Mutter Gabriele R., 72 Jahre alt.

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Hier erfährst du mehr

Rechtsextreme Terroranschläge haben Tradition in Deutschland.

■ Beim Oktoberfest-Attentat im Jahr 1980 starben 13 Menschen in München.

■ Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) um Beate Zschäpe verübte bis 2011 zehn Morde und drei Anschläge.

■ Als Rechtsterroristen verurteilt wurde zuletzt die sächsische „Gruppe Freital“, ebenso die „Oldschool Society“ und die Gruppe „Revolution Chemnitz“.

■ Gegen den Bundeswehrsoldaten Franco A. wird wegen Rechtsterrorverdachts ermittelt.

■ Ein Attentäter erschoss in München im Jahr 2016 auch aus rassistischen Gründen neun Menschen.

■ Der CDU-Politiker Walter Lübcke wurde 2019 getötet. Der Rechtsextremist Stephan Ernst gilt als dringend tatverdächtig.

■ In die Synagoge in Halle versuchte Stephan B. am 9. Oktober 2019 zu stürmen und ermordete zwei Menschen.

■ In Hanau erschoss ein Mann am 19. Februar 2020 in Shisha-Bars neun Menschen und dann seine Mutter und sich selbst. Er hinterließ rassistische Pamphlete.

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