NSU-Richter Manfred Götzl: Der Stoische
Ein Scheitern des NSU-Prozesses ist vorerst abgewendet. Das ist vor allem Richter Manfred Götzl zu verdanken. Auch für ihn steht viel auf dem Spiel.
Gerade erst hat am Montag der 223. Verhandlungstag des NSU-Prozesses begonnen. Und nun das: Der einzige Zeuge des Tages bleibt fern. Ausgerechnet jetzt, da man sich endlich wieder Sachfragen widmen kann. Aber Götzl verzieht keine Mine.
„Wir klären, warum der Zeuge nicht erschienen ist“, teilt er nüchtern mit. Und lässt seine Richterkollegen Verfassungsschutzerkenntnisse über die vier Mitangeklagten verlesen, die noch ins Verfahren eingebracht werden müssen. Teilnahmen an rechten Stammtischen, Kontakte zum NSU-Trio. Wenig Neues, aber Götzl lauscht aufmerksam, als ginge es um den letzten Mosaikstein zum Tatnachweis.
Alles wieder Routine also. Dabei stand der Prozess vor einer Woche noch auf der Kippe wie noch nie. Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe hatte zum wiederholten Mal beantragt, ihre drei ursprünglichen Verteidiger zu entlassen: Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl, Anja Sturm. Diesmal sattelte sie noch eine Strafanzeige wegen Verletzung der Schweigepflicht drauf. Zuvor hatte das Anwaltstrio bereits entnervt einen Antrag auf Entpflichtung gestellt.
8. November 2011: Nach ihrer Flucht und dem Selbstmord ihrer Kumpanen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt stellt sich Beate Zschäpe in Jena der Polizei. Begleitet wird sie von Gerald Liebtreu, einem lokalen Anwalt.
Der merkt bald, dass ihm die Sache zu groß wird. Als Zschäpe zur U-Haft nach Köln-Ossendorf wechselt, übergibt Liebtreu an einen dort ansässigen Anwalt: Wolfgang Heer. Der engagiert zudem den Koblenzer Wolfgang Stahl. Die beiden Juristen haben bereits zuvor wiederholt zusammen verteidigt. Gemeinsam arbeiten sie sich in den riesigen Verfahrensstoff ein.
Im Sommer 2012 stößt noch die Berlinerin Anja Sturm dazu. Sie kennt Heer und Stahl von einem Strafverteidigerkolloquium. Stahl und Sturm arbeiten anfangs auf eigene Kosten – erst nach Erhebung der Anklage werden sie offiziell ernannt und für ihre Arbeit bezahlt.
16. Juli 2014: Zschäpe stellt den ersten Entpflichtungsantrag gegen ihre drei Verteidiger: Sie habe kein Vertrauen mehr zu den Anwälten, denn diese stellten die falschen Fragen. Richter Manfred Götzl lehnt den nur wenige Sätze umfassenden Antrag ab.
10. Juni 2015: Knapp ein Jahr später will Zschäpe nun Anja Sturm entpflichten. Diese gehe unvorbereitet in die Prozesstage und habe dort „Anvertrautes“ ausgeplaudert. Sturm und ihre Kollegen weisen die Vorwürfe vehement zurück. Auch Richter Götzl lehnt ab.
6. Juli 2015: Der Strafsenat ernennt den Münchner Mathias Grasel zum vierten Pflichtverteidiger Zschäpes. Der hatte die Angeklagte schon länger in der JVA besucht. Grasel verspricht eine Verteidigung „nach Wunsch“ der Angeklagten.
20. Juli 2015: Heer, Stahl und Sturm stellen Anträge, aus dem Mandat entlassen zu werden: Eine „optimale“ Verteidigung Zschäpes sei nicht mehr möglich. Götzl weist das Ansinnen noch am gleichen Tag zurück.
21. Juli 2015: Diesmal will Zschäpe Wolfgang Heer entpflichten – denn dieser habe gegen ihren Willen mit Richter Götzl über ihre Aussagebereitschaft gesprochen. Später erweitert die Angeklagte den Antrag auf Sturms Kollegen.
Am Freitag lehnt der Strafsenat auch diesen Antrag der Angeklagten Zschäpe als unbegründet ab. (ko)
Dass das Verfahren am Montag noch läuft, ist vor allem einem zu verdanken: Manfred Götzl. Er ließ schon vergangene Woche stoisch weiterverhandeln, als wäre nichts geschehen. Den jüngsten Zschäpe-Antrag lehnte er schon am Freitag ab, als unbegründet. Auch die Selbstaufgabe von Heer, Stahl und Sturm wies Götzl zurück. Zschäpes Strafanzeige wiederum ließ die Staatsanwaltschaft München nicht zu.
Götzl beruhigt die Gemüter
Sicher, der Konflikt gärt weiter. Auch am Montag wechselt die Angeklagte kein Wort mit ihren Anwälten Stahl, Sturm und Heer, verwehrt ihnen jeden Gruß. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit bis zur nächsten Attacke. Heute aber bleibt es ruhig. Zschäpe verfolgt den Prozess unbeteiligt mit verschränkten Armen. Götzl hat die Gemüter wieder beruhigt.
Für den 61-Jährigen geht es um einiges. Seit mehr als 30 Jahren arbeitet der Franke und zweifache Vater an Gerichten. Jahrelang verfolgte er als Staatsanwalt Kapitaldelikte, galt als unnachgiebig. Dann wechselte er auf die Richterbank. Seit fünf Jahren ist Götzl höchster Richter am Münchner Oberlandesgericht, zuständig für Staatsschutzdelikte – sein Ruf blieb. Er verurteilte den Mörder des Modemachers Rudolph Moshammer und den Wehrmachtsoffizier Josef Scheungraber für die Ermordung von 14 Zivilisten in Italien 1944. Beide lebenslänglich.
Dennoch: Das NSU-Verfahren ist der größte Prozess in Götzls Karriere. 10 Morde einer rechtsterroristischen Zelle, 3 Anschläge, 15 Überfälle. Eine mehrjährige Verhandlung mit über 500 Zeugen, im internationalen Fokus.
Götzl kämpft mit zwei Endszenarien
Götzl trägt dabei das größte Risiko: Er muss den Prozess zusammenhalten, ihn vorantreiben. Und er muss mit zwei Endszenarien kämpfen, deren schlechterer Variante er zuletzt bedenklich nahe kam. Götzl kann ein historisches Urteil sprechen. Oder er kann ein Fiasko verkünden: das Platzen des Prozesses. Es wäre eine Katastrophe für die Angehörigen der Mordopfer und Verletzten der Sprengstoffanschläge, die eine Verurteilung und einen Schlussstrich herbeisehnen.
Am Montag bleiben Götzl nur kleine Schritte. Der Zeuge Tom T. habe sich mit einem Attest krankgemeldet, verkündet der Richter. Dann folgt eine weitere Geduldsprobe. Am Mittag stellen gleich 23 der Opferanwälte einen Großantrag. Sie wollen alle Bundesverfassungsschutzakten, die kurz nach Auffliegen des NSU im November 2011 geschreddert und teilweise rekonstruiert wurden. Zudem soll der Verantwortliche, ein Verfassungsschützer mit dem Tarnnamen Lothar Lingen, vorgeladen werden.
Minutenlang trägt die Berliner Anwältin Antonia von der Behrens den 18-seitigen Antrag vor. Die Akten seien „gezielt vernichtet“ worden, weil sie offenbar „kritische Informationen“ zum NSU-Komplex enthielten.
Aus Sicht der Nebenklage soll mit dem Antrag eines der bis heute größten NSU-Fragezeichen aufgearbeitet werden. Noch dazu, da unter den geschredderten Akten, die des V-Manns Michael von Dolsperg alias „Tarif“ waren. Der hatte behauptet, von einem NSU-Unterstützer gebeten worden zu sein, das untergetauchte Trio zu beherbergen. Der Verfassungsschutz aber habe ihn abgehalten – und damit eine Chance vertan, die Neonazis zu schnappen. Der Bundesverfassungsschutz dementierte. Dennoch kostete die Schredderaktion dem damaligen Präsidenten Heinz Fromm das Amt.
Am Ende dann folgt ein Fingerzeig an Götzl. Man verweise auf „das Gebot der Wahrheitsfindung“, das den Richter verpflichte, „jedes taugliche und erlaubte Mittel einzusetzen“, wenn auch nur die „entfernte Möglichkeit“ eines Erkenntnisgewinns bestehe. Daher sei der Beweisantrag „zwingend“ zu befolgen.
Es muss Götzl wieder gegen den Strich gehen. Nach all dem Trubel nun noch einen neuen Komplex eröffnen? Und hatte er nicht Zeugen stets akribisch befragt, um die Wahrheit gerungen? Was soll die Belehrung?
Götzl führt die Regie
Es gibt kaum einen Prozesstag, in dem Götzl nicht klarmacht, wer in dem Verfahren die Regie führt: er selbst. Gern unterstreicht er diesen Anspruch auch lautstark, zuletzt, als der Druck stieg, häufiger. „Es reicht, unterbrechen Sie mich nicht!“, herrschte er Anwälte an.
Auf der Verteidigerbank schütteln Heer und Stahl die Köpfe über den Antrag. Und Götzl? Verfolgt ungerührt die Ausführungen. Sagt am Ende: „Gut.“ Man werde beraten, später. Auch hier folgt der Richter seinem Plan: keine weitere Eskalation.
Unbeirrt hat Götzl bisher Detail für Detail der Anklage abgearbeitet, Zeugen unnachgiebig befragt – auch solche aus der rechten Szene, die sich an nichts mehr erinnern möchten. Als Zschäpe sich wiederholt krankmeldete, reduzierte Götzl die Verhandlungstage von drei auf zwei pro Woche. Er will den Prozess nicht nur zu Ende führen, sondern auch keine Revision zuzulassen.
Und doch werfen ihm einige nun seinen ersten großen Fehler vor: Er gestand Zschäpe den Münchner Anwalt Mathias Grasel als vierten Verteidiger zu. Das sollte der Besänftigung dienen – stattdessen keilte Zschäpe mit dem neuen Rechtsbeistand erst richtig los gegen ihre alten Verteidiger.
Götzl schafft sich eine Reserve
Ein Fehler? Man kann es auch anders sehen. Nichts sprach dafür, dass Zschäpe Ruhe geben würde. Mit Grasel hat sich Götzl nun eine Reserve geschaffen – für den Fall, dass Sturm, Heer und Stahl doch noch erfolgreich hinschmeißen. Dann müsste der Neue Zschäpes Verteidigung zu Ende führen, auch wenn er längst noch nicht in das Verfahren eingearbeitet ist.
Am Montag rührt sich Grasel nicht, starrt die meiste Zeit auf seinen Laptop. Immer wieder beugt sich Zschäpe tuschelnd zu ihm hinüber. Grasel nickt verständig, lächelt. Alles unauffällig, keine neuen Angriffe. Und nun ist es nur noch ein Verhandlungstag, dann geht der Prozess in eine vierwöchige Sommerpause.
Was aber, wenn sich Zschäpe demnächst auch von Grasel abwendet, auch ihn entlassen will? Götzl wird auch dieses Szenario mitbedacht haben. Es dürfte seinen Zeitplan nicht erschüttern, der ein Urteil im Frühjahr 2016 erwarten lässt. Bei Heer, Stahl und Sturm liegt der erste der drei Entpflichtungsanträge ein Jahr zurück. Das Trio ist bis heute im Mandat. Auch bei Grasel dürfte es dauern. Und Götzl lässt keinen Zweifel, dass ihn wenig davon abbringt, weiterzuverhandeln. Immer einen Tag mehr. Bis zum Urteil.
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