NGO-Aktivistin über Gewalt gegen Frauen: „Die humanitäre Hilfe ist männlich“
Das Auswärtige Amt löse den Anspruch feministischer Außenpolitik nicht ein, sagt Anica Heinlein von CARE anlässlich des Tages gegen Gewalt gegen Frauen. Der Ansatz aber sei trotzdem richtig.
wochentaz: Frau Heinlein, die Angriffe der terroristischen Hamas am 7. Oktober haben sich explizit gegen Frauen, Aktivist*innen, Mütter und Kinder gerichtet. Auch unter den Verschleppten sind überproportional viele Frauen. Was bedeutet das?
In Konflikten weltweit steigt geschlechtsspezifische Gewalt erschreckend an. Trotzdem wird über die Lage von Mädchen und Frauen in Kriegen bislang viel zu wenig gesprochen. Durch die Videos von Vergewaltigungen, die nun verbreitet wurden, hat die Öffentlichkeit das sehr direkt mitbekommen. Dass bewaffnete Gruppen Social Media in dieser Form einsetzen, ist neu. Ich verurteile das zutiefst. Aber jetzt wird sehr sichtbar, was die Realität für viele Frauen und Mädchen in Konflikten ist.
Was folgt aus dieser Sichtbarkeit?
Erschreckend wenig. Wir müssen weg von der Symptombetrachtung, wir müssen an die Ursachen ran.
Geschlechtsspezifische Gewalt in Konflikten stärker in den Blick zu nehmen, hat sich auch Außenministerin Annalena Baerbock zum Ziel gesetzt. Sie selbst haben sich für CARE jahrelang für eine feministische Außenpolitik und darin auch für geschlechtersensible humanitäre Hilfe stark gemacht. Ist die Tatsache, dass es seit einiger Zeit Leitlinien für feministische Außenpolitik gibt, ein Erfolg?
Das war ein wichtiger erster Schritt: Mit der Vision einer gleichberechtigten Welt für alle Menschen, auch mit dem Vorbildcharakter, den Deutschland international bei einer konsequenten Umsetzung hätte, könnten wir einen großen Schritt weiter sein.
Könnten? Merken Sie in der Praxis nichts davon?
Viel zu wenig. Der Wille ist da, aber jenseits des Bekenntnisses hat sich bisher nicht viel getan. Was zum Beispiel immer wieder betont wird, ist, dass das Auswärtige Amt auf Reisen jetzt paritätisch besetzte Delegationen habe. Das reicht natürlich nicht.
Was müsste passieren?
Mein erster Kritikpunkt ist, dass die Leitlinien zur feministischen Außenpolitik nur vom Auswärtigen Amt und BMZ stammen. Wesentliche Ressorts, die auch Außenpolitik machen – Wirtschaft, Umwelt, Verteidigung – tauchen da nicht auf. Diese fehlende Verankerung ist offensichtlich.
Was fehlt Ihnen genau?
Feministische Außenpolitik stellt zivilgesellschaftliche lokale Kräfte in den Mittelpunkt. Aber ich sehe zum Beispiel im Nahostkonflikt gerade nicht, dass der lokalen Bevölkerung zugehört wird, die die Folgen des Ganzen tragen – explizit auf keiner Seite.
Sie engagieren sich mit CARE nicht nur für feministische Außenpolitik, sondern leisten auch humanitäre Nothilfe. Sie versorgen die Menschen mit dem Notwendigsten wie sauberem Wasser, Unterkünften, medizinischer Versorgung, aber auch sicheren Räumen für Frauen und Mädchen. Bekommen Sie momentan Hilfe in den Gazastreifen?
Nein. Die Einfuhr von Hilfsgütern über Ägypten in den Gazastreifen gestaltet sich derzeit noch schwierig. Unsere lokalen CARE Kolleg:innen und Mitarbeiter:innen unserer Partnerorganisationen sind genauso Binnenflüchtlinge wie im Moment die Mehrheit der Menschen im Gazastreifen. Die Kommunikation mit ihnen reißt immer wieder ab. In Gaza selbst sind immer weniger Hilfsgüter verfügbar. Und was über die Grenze kommt, kann kaum verteilt werden, weil es zu wenig Benzin gibt, die Straßeninfrastruktur zerstört ist und die Sicherheitslage den Zugang zu den Menschen in Not erschwert. Entsprechend sind uns im Moment an vielen Punkten die Hände gebunden.
Können Sie politisch Einfluss nehmen?
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Wir sprechen nonstop. Wir sprechen in Washington, New York, London, Paris, Brüssel und Berlin mit unseren politischen Ansprechpartner:innen, dass sie ihren Einfluss auf die Konfliktparteien nutzen. Wir benötigen sicheren Zugang für unsere Hilfsgüter. Wir brauchen ausreichend lange Feuerpausen, um die Menschen in Not verlässlich und sicher zu erreichen. Und wir erinnern immer wieder, dass auch Kriege Regeln folgen müssen. Die Zivilbevölkerung muss geschützt werden. Dazu gehört auch die Freilassung aller Geiseln. Das darf einfach nicht vergessen werden.
Das Ziel feministischer Außenpolitik ist nachhaltiger Frieden. Aus westlicher Perspektive sieht es dafür momentan weltweit so schlecht aus wie lange nicht – oder?
Eine Rekordzahl von Menschen ist im Moment auf humanitäre Hilfe angewiesen. CARE arbeitet derzeit in über 100 Ländern weltweit, davon in 67 aktiven humanitären Krisen. Neben dem Krieg in der Ukraine und dem bewaffneten Konflikt in Gaza gibt es die stillen Krisen, über die im Moment nur noch wenig gesprochen wird. Dazu zählen zum Beispiel Konflikte im Jemen oder in Syrien. Natürlich ist die weltweite Lage derzeit dramatisch. Aber Frieden und das Bekenntnis dazu beginnen immer mit dem ersten Schritt.
Feministische Außenpolitik setzt auf Demilitarisierung, Deeskalation und Diplomatie. Ist diese Art der Politik zum Beispiel in der Ukraine und Gaza nicht schon gescheitert, bevor sie überhaupt richtig begonnen hat?
Nur weil Demilitarisierung und Deeskalation im Diskurs momentan kaum eine Rolle spielen, sind sie nicht weniger wichtig. Im Zentrum von feministischer Außenpolitik steht die menschliche Sicherheit. Die Situation in all diesen Konflikten ist für die Menschen, die dort leben, unhaltbar. Auch praktische humanitäre Hilfe ist oft nur sehr begrenzt möglich, damit müssen wir gerade in Gaza umgehen. Deswegen müssen wir darüber sprechen, wie die Hilfe zu den Menschen kommen kann. Wie sollte das passieren, wenn nicht in Feuerpausen, unter Waffenruhen? Dass Ziele schwer erreichbar scheinen, heißt nicht, dass man sie nicht verfolgen sollte.
ist 43 Jahre alt und leitet die politische Arbeit von CARE Deutschland. Sie besetzt damit unter anderem die Schnittstelle zwischen Projekten in Kriegen und Krisen vor Ort und der deutschen Politik.
Ein Schwerpunkt von CARE (kurz für Cooperative for Assistance and Relief Everywhere), das unter anderem vom Auswärtigen Amt und dem Bundesentwicklungsministerium finanziert wird, ist die humanitäre Hilfe, insbesondere für Mädchen und Frauen. In Deutschland wurde die NGO in der Nachkriegszeit durch die CARE-Pakete bekannt.
Zum Beispiel auf die Ukraine bezogen: Verhandlungen sind mäßig sinnvoll, wenn der Gesprächspartner wie im Fall von Russland nicht verlässlich ist, oder?
Wenn in Phasen wie jetzt in der Ukraine vergessen wird, dass geredet werden muss, sind die Gesprächskanäle dann, wenn man sie braucht, nicht mehr da. So verhärtet die Fronten sind, so schwierig und enttäuschend die Gespräche sein mögen – es ist doch die älteste Weisheit der Welt, dass man im Krieg nicht mit Freunden spricht.
Sondern eben mit Feinden?
Ja, natürlich. Man spricht dort, wo es unangenehm ist. Wenn man die Kanäle nicht offen hält, gibt es sie irgendwann nicht mehr. Und wenn man die zivilgesellschaftlichen Kräfte nicht unterstützt, dann gibt es auch die irgendwann nicht mehr. Das gilt besonders für frauengeführte- und Frauenrechtsorganisationen.
Fast 90 Prozent dieser Organisationen weltweit haben laut dem Women’s Peace and Humanitarian Fund ohnehin permanent Angst, pleite zu gehen und ihre Arbeit einstellen zu müssen. Gerade in Kriegen und Konflikten heißt es dann ganz oft: jetzt vergesst doch mal eure Geschlechtergerechtigkeit – wir müssen Leben retten! Aber wer Geschlechtergerechtigkeit an diesem Punkt vergisst, rettet eben keine Leben.
Gar keine?
Doch, aber die Bedarfe von Männern und Frauen, Jungen und Mädchen in Krisensituationen sind sehr verschieden. Wenn die Bedürfnisse der Hälfte der Menschen ignoriert werden, schafft man längerfristig Probleme, die nur noch schwer zu lösen sind. Und man leistet keine bedarfsgerechte Hilfe.
Haben Sie ein Beispiel?
Wenn sanitäre Anlagen nicht beleuchtet und abschließbar sind, ist das ein Problem für Frauen und erhöht das Risiko für sexualisierte Gewalt. Wenn die Tatsache, dass Frauen schwanger werden und Kinder bekommen können, in der Gesundheitsversorgung nicht mitgedacht wird, was machen die dann in den Camps? Laut UN ist die Müttersterblichkeit in humanitären Krisen fast doppelt so hoch wie der Weltdurchschnitt. Mehr als die Hälfte aller Frauen, die während oder in Folge einer Geburt sterben, sind in humanitären Krisen zu beklagen.
Und die Mehrheit dieser Todesfälle sind vermeidbar – weil man vergessen hat, dass Frauen auch in Krisen Kinder bekommen. Oder eben Versorgung in diesen Fällen als zweitrangig sieht und auf später verschiebt. In einer Krise braucht man Flüchtlingscamps vielleicht von einem Tag auf den anderen. Aber Kriege dauern heute im Schnitt über neun Jahre, die Camps bestehen teils Jahrzehnte. Etwas im Nachhinein zu verändern, ist schwierig, wenn sie erstmal aufgebaut sind. Und das kostet im Zweifel eben Leben.
Können Sie beziffern, inwiefern Mädchen und Frauen in der humanitären Hilfe mitgedacht werden?
Seit langem ist klar, dass Kriege und Konflikte die sowieso ungleiche Situation von Mädchen und Frauen verschärfen. Aber in dem, wie diese Bereiche finanziert werden, wird das überhaupt nicht gespiegelt. Derzeit liegt der weltweite Anteil von geschlechtsspezifischer humanitärer Hilfe bei 2,1 Prozent. Das ist weder bedarfsgerecht noch feministisch.
Das Auswärtige Amt hingegen bekennt sich in seinen Leitlinien zu feministischer Außenpolitik zu hundert Prozent zu geschlechtersensibler und, wie die Leitlinien es ausdrücken, wo immer möglich geschlechterspezifischer humanitärer Hilfe. Das ist zwar grundsätzlich gut – aber bisher steht das nur auf dem Papier. Was genau hinter diesen Begriffen steckt, was die künftigen Minimum-Anforderungen für alle sind, ist noch nicht definiert.
Wir als CARE erwarten uns, dass sehr bald klar ist, was sich praktisch verändert und was das finanziell bedeutet. Denn bisher ist humanitäre Hilfe männlich. Solange das so bleibt, tragen die Konsequenzen davon Frauen und Mädchen in Konflikten.
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