Mythen zu Sex im Alter: 55-jährig, ledig, sucht …
Sie, Mitte 50, schlank, sucht ihn für die zweite Lebenshälfte. Dabei wird Sex im Alter sowieso weniger – oder nicht? Wir räumen mit Klischees auf.
D ie Geschichte von Gunda machte die Runde, solche Geschichten werden gern weitererzählt unter Frauen und Männern in höherem Alter. Die Geschichte geht so: Gunda, 55 Jahre alt und schon länger getrennt, suchte einen Partner – für Freizeit, für Sex, für länger. Sie formulierte eine Kontaktanzeige, ganz konventionell. Nichts tat sich. Dann noch ein Versuch, mit dem Zusatz „55-Jährige, gerne dominant, sucht …“ Eine Flut von Antworten folgte, mit sexuellen und sogar finanziellen Angeboten der Männer. Auch jüngere Männer sollen dabei gewesen sein. Auch nette.
„So weit ist es gekommen“, seufzt Freundin Suse*, 62, „ohne Rollenspiele läuft offenbar nichts mehr im Alter.“ Was aus Gunda und ihren männlichen Kontakten wurde, ist nicht überliefert. Aber was geht und was nicht mehr geht in Sachen Liebe im Alter, das beschäftigt Millionen, auch Jüngere, denn auch ihnen steht das Alter schließlich irgendwann mal bevor.
Neue Bücher sind dazu erschienen, darunter ist Kai Lippens: „Das Herz kriegt keine Falten“ (rororo, 2020), in dem der heute 63-jährige Autor von seiner persönlichen Suche mit und ohne Dating-Apps nach einer Lebenspartnerin und von seinen beruflichen Recherchen zu diesem Thema erzählt.
Candace Bushnell, 61, Autorin der Fernsehserie „Sex and the City“, wiederum hat einen neuen Roman verfasst, der jetzt auf Deutsch erschienen ist. „Is there still Sex in the City?“ (DuMont, 2020) lautet der Titel auch der deutschen Ausgabe. Darin geht es um die Suche einer Mittfünfzigerin und ihren Freundinnen nach männlichen Bekanntschaften in und um New York City, dem angeblich härtesten Pflaster für die heterosexuelle Männersuche.
Die bange Frage lautet: Stimmen all die düsteren Klischees über die Liebe im Alter? Was lässt sich ihnen entgegensetzen?
Klischee Nummer 1: Ältere Heteromänner wollen immer nur sehr viel jüngere Frauen.
Das ist der Stimmungskiller Nummer 1 für die Frauen, so liest man es immer wieder. Aber auch wenn Prominente in der Bild-Zeitung mit ihren jugendlichen Drittfrauen angeben, sieht die Wirklichkeit anders aus. Nur bei 6 Prozent der heterosexuellen Paare ist der Altersunterschied größer als zehn Jahre, sagt eine Erhebung des Statistischen Bundesamts von 2018. Bei gleichgeschlechtlichen Paaren ist dieser Anteil übrigens höher, da liegt jedes fünfte Paar mehr als zehn Jahre auseinander. Das Modell „Jahreswagen“, in dem der Heteromann in späteren Jahren die gleichaltrige Partnerin gegen eine Jüngere austauscht, ist nicht weit verbreitet.
Aber wie sieht es aus bei der Partnersuche, wenn man sich als Single frisch auf den Markt begibt? Kai Lippens (der Name ist übrigens ein Pseudonym) hat sich aus Recherchegründen bei einer Online-Partnervermittlung mal als ältere Frau ausgegeben, die einen gleichaltrigen Mann sucht. Das Ergebnis war ernüchternd, aus Frauensicht. „Diverse Mittsechziger suchen 45- bis maximal 54-Jährige“ schreibt er. Also doch.
Andererseits: Was ist mit den Partnern der Madonnas, Heidi Klums und Brigitte Macrons, die sich offenbar zu älteren Frauen hingezogen fühlen? Ist das nicht auch ein Trend?
Klischee Nummer 2: Immer mehr ältere Frauen sind mit jüngeren Männern zusammen.
Bei etwa jeder vierten nicht ehelichen Partnerschaft ist die Frau älter als der Mann, auch das sagt die Statistik. Tendenz steigend. Bushnells Heldin und ihre Freundinnen haben erst Erfolg bei der Männerfahndung, als sie gezielt sehr viel jüngere Männer suchen. Da ploppen auch Kontakte bei „Tinder“ auf.
Es gebe „jetzt eine ganze Generation junger Männer, denen die Vorstellung gefällt, mit einer zwanzig, vielleicht sogar dreißig Jahre älteren Frau ins Bett zu gehen“, behauptet Bushnell. „Milf' – Mother I’d like to fuck“ – das sei einer der meistgegoogelten Anfragen auf Pornoseiten gewesen. Hm. Eine „Mutter, die ein Typ gerne vögeln will“ zu sein, ist Geschmacksache, zumal man ab 60 ja auch schon eine „Gilf – Grandmother I’d like to fuck“ sein könnte.
Das Narrativ von der älteren Frau mit dem jüngeren Mann ist aber sehr zu begrüßen: Es ist ein Modell, das Vielfalt in die starren Muster bringt. Und Vielfalt ist gut. Aber hilft das Internet dabei, eine solche Vielfalt zu ermöglichen?
Klischee Nummer 3: Das Internet schafft neue Möglichkeiten der Partnersuche.
Jein. Dating-Seiten zeigen bei den Älteren ein Ungleichgewicht, das Klischee Nummer 1 bestätigt. „Es sind viele. Es sind zu viele. Du guckst in Dutzende, Hunderte Gesichter (…) Der scheinbare Luxus der großen Auswahl macht es zugleich vertrackt. Die potenzielle Partnerin wird zur Nummer, zur 17, die dich heute Mittag interessiert“, schreibt Lippens, der sich auch für gleichaltrige Frauen interessiert und prompt unter einem weiblichen Überangebot erstickt.
Bei älteren Frauen sieht es jedoch oft ganz anders aus: Sie berichten von einem eher kargen männlichen Angebot im Netz. Sie begegnen sogar einer „Freakshow“ im Netz, schreibt Lippens, der Frauen auf Partnersuche auch beruflich interviewt hat. Fairerweise muss man aber das ganze Bild sehen. „Frauen sind auch Sexisten, auf ihre Weise“, sagt Freundin Suse, „mir hat Eva damals erzählt, dass sie Männer unter 1,75 Meter Körpergröße, mit Stirnglatze und subalternem Büroberuf auf Dating-Seiten sofort wegklickt.“ Wie alt Eva damals war, ist nicht überliefert.
Suses Bekannter Kurt, 66 Jahre alt, ein bisschen Althippie, hat auch seine Erfahrungen mit der Dating-Plattform „Parship“ gemacht: „Was schon stört, ist die Tatsache, dass Frauen immer erst die wirtschaftliche Situation wissen wollen. Das Romantische klappert dann so hinterher“, sagt er. Kurt ist weiterhin Single und lebt in einer WG.
Trotzdem eröffnet das Internet Kontaktmöglichkeiten, auch für ältere Frauen, wenn sie zum Beispiel Bekanntschaften für Aktivitäten suchen. Auf Websites wie „hamburgersingles.de“ oder „berlinersingles.de“ zum Beispiel initiieren viele 50-, 60- und 70-Jährige halbprivate Lesungen, verabreden sich für Hardrock-Konzerte oder planen gemeinsame Kiezspaziergänge. Die Geschlechter sind gemischt, und es gibt nicht von vornherein Exklusionskriterien.
Vielleicht ist das Online-Dating, wo man direkt aufeinanderknallt, einfach die falsche Begegnungsform. Erst recht im Alter, wenn wir alle eigenbrötlerischer werden?
Klischee Nummer 4: Die Partnersuche im Alter ist schwieriger, weil man als Persönlichkeit festgefahren ist.
„Je älter wir werden, desto zementierter wird unser Denken, desto fester sind unsere Gewohnheiten, Weltanschauungen und Rituale“, stellt Lippens fest. Da schrecken bei den ersten Dates mit Internetbekanntschaften schon Kleinigkeiten ab. Dann kommen wieder die Klischees, „wieder so eine Rastlose, die hyperaktiv nur unterwegs sein will, wieder so eine mit feministischen kleinen Belehrungen (...) Je mehr man datet, desto mehr Enttäuschungen“, so Lippens.
In der Gruppe der 55- bis 64-Jährigen lebt nicht nur jede vierte Frau, sondern auch jeder vierte Mann allein. Vielleicht kann man in späteren Jahren gut ohne feste Zweisamkeit auskommen, vielleicht sogar ohne Sex? Vielleicht aber auch nicht.
Klischee Nummer 5: Der Sex wird sowieso weniger ab 60.
Stimmt in dieser Absolutheit nicht. Man muss den Kontext sehen. Paare in Deutschland im Alter zwischen 18 und 30 haben im Schnitt siebenmal im Monat Sex. In der Altersgruppe der 61- bis 75-Jährigen schlafen Paare nur noch dreimal im Monat miteinander. Das ergab eine Pilotstudie zur Sexualität von Erwachsenen des Universitätsklinikums Hamburg.
Mit dem körperlichen Abbau haben diese Zahlen aber nicht unbedingt zu tun. „Der Unterschied in der Koitus-Frequenz zwischen jungen und alten Paaren ist zum größten Teil auf die längere Dauer der Beziehung zurückzuführen“, hat der Hamburger Sexualforscher Gunter Schmidt festgestellt. „Vergleicht man 30-, 45- und 60-Jährige, die in gleich langen Partnerschaften leben, dann findet man nur geringe Unterschiede in der sexuellen Aktivität.“ Unter den 60- bis 82-jährigen Befragten einer Erhebung der Berliner Humboldt-Universität, basierend auf Daten der Berliner Altersstudie II, war ein Drittel sogar sexuell aktiver als Jüngere.
Es gibt also große Unterschiede. Und das ist auch gut so. Manche älteren Paare schlafen keine dreimal im Monat miteinander. Sie haben keine Lust, sie setzen sich mit Hitzewallungen und Prostataproblemen auseinander oder haben auch schon mal den Beipackzettel von Viagra gelesen. Trennen würden sich viele aber trotzdem nicht, im Gegenteil. Sich intim mit dem Langzeitpartner oder der -partnerin verbunden zu fühlen ist auch mit sehr wenig Geschlechtsverkehr möglich, zeigt die Erhebung der Humboldt-Universität.
Wenn Sex, muss es dann überhaupt Geschlechtsverkehr sein? Und braucht man zum Sex einen Partner? Sexuelle Fantasien lassen im Alter nicht unbedingt nach, auch das hat die Forschung an der Humboldt-Universität ergeben. Und die Sexindustrie boomt. Früher galten Vibratoren als eine Art armselige „Witwentröster“. Aber heute seien Sex Toys vom „Hilfsmittel zum eigenständigen Spielzeug geworden“, sagt die feministische Sexualberaterin Laura Méritt. Man kann die Toys gemeinsam mit dem Partner benutzen. Oder eben auch allein.
Daten des UKE Hamburg ergaben, dass von den 61- bis 75-jährigen Frauen immerhin 38 Prozent Erfahrungen mit der Benutzung von Dildos und Vibratoren haben. Selbst die Stiftung Warentest hat sich mit dem Thema schon beschäftigt und etwa dem Klitoris-Sauger „Satisfyer Pro 2 Next Generation“ mit der „neuartigen Saugtechnologie“ die Note „gut“ verliehen. Der ist relativ erschwinglich, und „das Ding funktioniert“, sagt Suse über ihr Gerät, „es zuzelt so an der Klitoris, eigentlich ganz süß, man kann sich die Intensitätsstufen selbst einstellen. Da haben sich die Techniker schon Mühe gegeben.“
Klischee Nummer 6: Ohne Partnerin oder Partner droht die Alterseinsamkeit.
In der Pilotstudie des Universitätsklinikums Hamburg wünschten sich von den befragten 61- bis 75-jährigen Alleinlebenden fast die Hälfte keine feste Beziehung mehr. Der Anteil der allein lebenden Frauen, die sich nicht mehr fest binden wollten, war höher als der Anteil der Männer. Man kann den Verdacht äußern, da reden sich die alleinstehenden Frauen was schön. Aber stimmt das?
„Es ist auch eine Rechnung“, sagt Suses Freundin Beate, 67, „im hohen Alter bist du sowieso allein, Männer sterben meistens früher. Also. Ich habe zudem Angst, dass ein neuer Partner, wenn der so fünf Jahre älter ist, in wenigen Jahren zum Pflegefall werden könnte. Da fühlte ich mich dann verpflichtet, mich zu kümmern.“ Suse findet es „echt herzlos“, wenn Beate so redet. Beate aber sagt, es gehe ihr „super“. Sie hat enge Freundinnen, ein paar ältere platonische männliche Freunde, Kinder und Enkelkinder. „Ich hab nix am Hut mit dieser ganzen Dating-Diktatur“, sagt sie. „Was nicht heißt, dass sich nicht noch was ergeben könnte.“
Ein von Lippens zitierter Psychologe empfiehlt für das Alter, „zweigleisig“ zu fahren – also auch emotionale Haltesysteme außerhalb einer Zweierpartnerschaft zu entwickeln. Trennung, Scheidung und Tod können schließlich jede Langzeitpartnerschaft beenden. Und es kann sein, dass man niemanden mehr findet, mit dem eine enge Zweisamkeit möglich ist. Vielleicht sind es die Frauen, die hier Vorreiter sein müssen.
Seit über zwei Jahren werden Frauen, die sich offen gegen rechts positionieren, mit dem Tod bedroht. Absender: „NSU 2.0“. Steckt ein Polizist dahinter? Eine Spurensuche in der taz am wochenende vom 05./06. September. Außerdem: Die Theaterhäuser öffnen wieder – mit strengem Hygienekonzept. Was macht Corona mit der Kunst? Und: Eine Kräuterwanderung im Schwarzwald. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Auch in Bushnells Roman fällt auf, dass die Frauenfreundschaften stabiler sind als die heterosexuellen Beziehungen zu Männern. Wobei auch das nicht immer der Wahrheit entspricht, schließlich ist auch eine Freundschaft nur selten frei von Kränkungen, Reibungen oder Streit – ähnlich wie bei romantischen Paarbeziehungen. Bei Freundschaften müssen die Codes von Bindung und Verlässlichkeit ständig neu verhandelt werden, auch dafür gibt es keine Blaupausen.
Kai Lippens lernt auf seiner Suche schließlich Leonie kennen, ohne Internethilfe, ganz analog, bei einem Konzert. Dann verabredet man sich zum Fußballgucken. „Es ist ein Miteinander ohne großen Liebesknall am Anfang. Als ob wir einfach mittenmang anfangen“, schreibt er über seine neue Freundin, die ein Jahr jünger ist als er. Vielleicht hat die Liebe in späten Jahren doch mit Zufall zu tun. Man trifft jemanden, ganz ohne Algorithmus, und hat eine schöne Zeit. Das kann passieren. Und wenn nicht, geht das Leben trotzdem weiter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht