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Mut Im taz-Blog „Heimweg“ berichten Frauen von sexuellen Übergriffen. Der Redebedarf ist immens„Ich bin kein Opfer“

von Katrin Gottschalk

Ich habe über den Blog eine Sprache gefunden. Und es ist ein Ort im Netz, den ich teilen konnte, ohne meine eigene Geschichte zu erkennen gegeben.“ Sätze wie diese sind am vergangenen Mittwoch im taz Café immer wieder gefallen – und sollen die Relevanz des „Heimweg-Blogs“ betonen. Dabei sollte die Veranstaltung ein Abschluss sein. Vor einem Jahr startete die taz das Blog, auf dem mittlerweile über 150 Geschichten veröffentlicht wurden, die von sexualisierter Gewalt und Vergewaltigung erzählen.

Das Blog begann als Reaktion auf die Silvesternacht in Köln 2015. „Ich war persönlich beleidigt“, berichtet taz-Redakteurin Waltraud Schwab während der Publikumsdiskussion im taz Café. Mit den Übergriffen auf Frauen sei sexualisierte Gewalt plötzlich thematisiert worden, allerdings nur deshalb, weil sie mit Rassismus verknüpft wurde. Geschichten wurde Gehör geschenkt, die man sonst täglich in Deutschland erzählen könnte. Denn sexualisierte Gewalt sei so alltäglich wie der Weg nach Hause. Also bat Waltraud Schwab eine Kollegin, sie solle einfach einmal über ihren Heimweg schreiben. „Die Resonanz darauf war überwältigend.“ Mehr taz-Autor_innen schrieben ihre Geschichten auf – und schließlich auch die Leser_innen. So entstand das „Heimweg-Blog“.

Das Darüberreden oder in diesem Fall das Darüberschreiben: Vielen Betroffenen fällt es schwer. Weil sie lückenlose, widerspruchsfreie Geschichten erzählen sollen. Weil es ganz bestimmte Vorstellungen davon gibt, wie sexualisierte Gewalt aussieht. Über diese Bilder schreibt die Autorin Mithu ­Sanyal in ihrem Buch „Vergewaltigung“, aus dem sie an diesem Abend vorliest. Sie schreibt etwa von Natascha Kampusch, die die Öffentlichkeit verwirrte, weil sie nicht als der gebrochene Mensch in den Medien auftrat, den man sich nach Jahren der Gefangenschaft vorstellen würde.

Auch Frauen im Publikum, die ihre Erlebnisse an das Blog schickten, wollen nicht als Opfer gesehen werden. „Wir brauchen ein neues Wort“, meint Mithu ­Sanyal. Wäre „Betroffene“ besser? Ein Opfer ist passiv. Eine Blogautorin im Publikum sagt explizit: „Ich bin kein Opfer.“ Und auch Lea Wagner, die alle bisher veröffentlichten Heimweg-Texte gesichtet hat, betont: Sie habe da keine Opfergeschichten gelesen, sondern Geschichten von Empowerment.

Genau deshalb wollen viele an diesem Abend nicht, dass das Blog geschlossen wird. Mindestens als Archiv möge es weiter bestehen. Und vor allem sichtbarer werden. Gefragt wurde auch, ob es nicht helfen könnte, Geschichten über Gerichtsprozesse zu sammeln? Schließlich würden Übergriffe immer noch zu selten angezeigt.

Empowernd ist auch die Veranstaltung im taz Café, mit konkreten Handlungsideen. Was etwa tun bei anzüglichen Blicken im Bus oder im Park? Nora Lessing, Wissenschaftsjournalistin und ebenfalls Heimweg-Blog­autorin, berichtet auf dem Podium von einem Erlebnis im Sommer auf dem Berliner Tempelhofer Feld. Während sie auf der Wiese lag und las, holte sich ein Mann nebenan einen runter. Ihre Frage „Sag mal, wichst du da?“ habe ihn so irritiert, dass er verschwand. „Ich hatte das Gefühl, er war verwirrt, weil das Objekt plötzlich gesprochen hat.“

An diesem Abend sitzen viele Subjekte im taz Café. Was ihre Geschichten gemeinsam haben, ist der schlichte Fakt, dass sie erzählt wurden. Und sie sollen weiter erzählt werden. In welcher Form das „Heimweg-Blog“ sich dabei entwickelt, wird sich zeigen.

Das Heimweg-Blog zum Nachlesen: blogs.taz.de/heimweg

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