Musikalisches Duell auf Fußball-Basis: So klingt Aufstieg
Der Experimentalmusiker Matthew Herbert vertonte das Aufstiegs-Spiel des FC St. Pauli als Duell gegen das Ensemble Resonanz. Gewonnen haben beide.

Mit dem Abpfiff im Millerntor-Stadion war am Sonntagnachmittag der FC St. Pauli in die Erste Fußball-Bundesliga aufgestiegen und die Musiker:innen in der Hamburger Laeizshalle hatten Feierabend. Alles war glattgegangen. Bei der Probe am Freitag hatte Matthew Herbert noch ein mulmiges Gefühl geplagt. Hatte er mit „The Game“ zu hoch gepokert?
Für dieses Projekt hatte der Musiker, Komponist und Produzent, bekannt für seine Experimente mit einem Pferdeskelett oder gesampelten Schweinegeräuschen, einen ambitionierten Plan gefasst: Er wollte das Zweitliga Spiel des FC St. Pauli gegen den VfL Osnabrück mit dem Kammerorchester Ensemble Resonanz in der Hamburger Laeiszhalle live austragen. Als musikalisches Duell. Und es gelang. Der Weg dahin war aber weit und dass die Musiker:innen ausgerechnet das Spiel vertonten, das mit dem Aufstieg der Hamburger in die Erste Liga endete, war nicht geplant.
Als Verstärkung hatte er ein paar Musiker aus London mitgebracht. Die Briten traten in der Rolle der Underdogs an – als VfL Osnabrück. Eine Wahl hatten sie nicht: Schon aus Lokalpatriotismus wollte das Ensemble Resonanz, das mit einigen Gäst:innen an den Start ging, unbedingt den FC St. Pauli unterstützen. Schließlich ist die Bühne des Ensembles, der Resonanzraum, im Hochbunker an der Feldstraße, also vis-à-vis zum Millerntor-Stadion, wo der FC St. Pauli seine Heimspiele wie das gegen Osnabrück austrägt.
„Davor fürchte ich mich ein bisschen“, sagt Herbert am Freitag vor einer der Proben. „Wir haben uns ja bisher noch nicht so richtig als Gruppe eingrooven können.“
Fußball ist schneller als Musik
Der Londoner fragte sich, ob es wirklich allen Beteiligten gelingen wird, den passenden (Spiel-)Rhythmus zu finden. Einfach, weil ein Fußballmatch unheimlich schnell ist. Schneller als eine traditionelle Komposition. „Meistens können die Instrumentalist:innen nur 20 oder 30 Sekunden am Stück agieren“, sagt Herbert. „Sie müssen immer wieder neu einsetzen und improvisieren.“
Um dieses Prozedere ein wenig zu erleichtern, hatte Herbert rund 20 Klangbilder erschaffen – teils für Standardsituationen wie Einwurf, teils für verschiedene Spielsequenzen. Die Basis dafür lieferten ihm Tonaufnahmen aus vorhergehenden Spielen des FC St. Pauli. Bei einem hat er selbst im Millerntor-Stadion gesessen. Als Zuschauer. Allerdings sei das schon mindestens sechs Jahre her, schätzt er.
„The Game“ hatte er noch länger in der Mache. 2012 schlug ihm die Hamburger Kulturbehörde vor, in das Thema Fußball einzutauchen. Er wusste sofort, dass der FC St. Pauli perfekt zu seinen Plänen passen würde. Die Vereinsphilosophie, das soziale Engagement – damit konnte er sich identifizieren: „Ich wollte kein Team, das Millionen hat“, sagt er.
Allein mit seiner Zielstrebigkeit kam Herbert, der gleichermaßen Anhänger des FC St. Pauli und des Londoner Fußballklubs Arsenal ist, trotzdem nicht weiter. Das Fußballprojekt wurde immer wieder verschoben. Die Fußball-Europameisterschaft, die am 14. Juni in Deutschland startet, hat das Projekt letztlich gerettet, weil rund um die EM ein Kulturprogramm von der Stiftung „Fußball & Kultur Euro 2024“ aufgesetzt worden ist. In Hamburg setzte sich, auch dank der Initiative des Reeperbahn-Festivals und des FC St. Pauli, Herberts Idee von der Vertonung eines Fußballspiels unter dem Namen „The Game“ durch. Damit stand die Finanzierung.
Am liebsten wäre Herbert eine Gratis-Open-Air-Veranstaltung nahe des Millerntor-Stadions gewesen. Im Hintergrund: das zu vertonende Spiel in Echtzeit auf einer riesigen Leinwand. Das hätte aber das Budget gesprengt. Also wurde ein Kompromiss gefunden: die Hamburger Laeiszhalle.
Dort traten die Band von Herbert und das Ensemble Resonanz am Sonntag musikalisch gegeneinander an, zur Live-Übertragung des Spiels samt der Fangesänge, denn die spielten eine nicht unwesentliche Rolle. „Wir hören ihnen zu und geben ihnen Raum“, sagt Herbert zu Beginn der Probe am Freitag zu den Musiker:innen.
Bei der Probe flimmerte das Zweitliga-Spiel SC Paderborn gegen HSV auf den Bildschirmen. Als die Paderborner das einzige Tor der Partie schossen – und damit alle Aufstiegschancen des HSV beendeten –, machten alle Musiker:innen mit ihren Ratschen einen Riesenradau. Danach ging es weiter.
Dirigentin Friederike Scheunchen leitet das Ensemble Resonanz an – bei der Probe alias HSV. Mal hält sie vier Finger in die Höhe, mal mehr oder weniger. Auf diese Weise symbolisiert sie den Musiker:innen, in welchem der rund 20 Soundmodulen Herberts sie sich bewegen sollen.
Auf der Gegenseite geht es freigeistiger zu. Herbert ist mit seinen Loops beschäftigt und lässt seine Musiker:innen herumprobieren. Ins Zentrum rückt zuweilen der Jazzer Byron Wallen. Er und der Trompeterkollege, der das Ensemble Resonanz verstärkt, geben die Stürmer. Sie übernehmen Freistöße oder Eckbälle.
So tasten sich die Musiker:innen im Laufe des Spiels aneinander heran, Schritt für Schritt. „Ich bin froh, dass ihr dieses Risiko mit mir eingeht“, bedankt sich Herbert am Ende der Probe. „Es ist fast so, als würde man eine Oper schreiben, ohne die Geschichte zu kennen. Tatsächlich verändert sich die Storyline alle zehn Sekunden.“
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