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Mordraten in US-Städten wie ChicagoKein Tag ohne Gewalt

In Chicagos South Side ist Gewalt schon lange allgegenwärtig. Aber in diesem Jahr gab es dort mehr Morde als in den vergangenen. Ein Wahlkampfthema.

Damiean Anderson wurde mehrfach in Chicago angeschossen Foto: privat

Chicago taz | Es war ein ganz normaler Sommertag im Jahr 1989. Die beiden Teenager Rodney Phillips und sein Cousin Dorian Huff saßen auf den Stufen eines sozialen Wohnbaus an Chicagos berüchtigter South Side. Nach einer verbalen Konfrontation mit einem privaten Sicherheitsbeamten war einer der beiden tot.

„Ich sah, wie das Leben langsam seinen Körper verließ“, sagt Phillips, dessen Erinnerungen an den 9. August 1989 noch immer so frisch sind, als wäre es erst gestern gewesen. Der Sicherheitsbeamte schoss seinem Cousin in den Rücken, als dieser davonlief, erinnert er sich.

Der Name des Todesschützen war Ollie Rodgers. Dieser gab zu Protokoll, dass er einen Schuss abgab, nachdem ihn Huff mit einem Revolver bedroht habe. Dem Polizeibericht zufolge wurde am Tatort auch tatsächlich ein Revolver sichergestellt. Rodgers wurde für den Tod von Huff nie zur Rechenschaft gezogen.

Für den damals 16 Jahre alten Phillips war der Tod seines Cousins ein traumatisierendes Erlebnis. Gewalt, Schießereien und der Tod waren allerdings schon damals nichts Neues für ihn. Sie gehörten zum täglichen Leben in Chicagos South Side.

Jahrzehnte des systemischen Rassismus

„Es gab keinen Tag ohne Gewalt“, erinnert sich der mittlerweile 47-Jährige. „Wenn es keine Schießerei war, dann war es eine Messerstecherei oder eine Prügelei. Für mich war es einfach ein Teil meines Lebens. Es war normal.“

Phillips brauchte Jahre, um aus der Gewaltspirale zu entkommen. Er saß wegen diverser Delikte mehrere Male hinter Gittern und lebte für viele Jahre auf der Straße. Er war sowohl Opfer von Gewalt als auch Täter. Vor mehr als zehn Jahren gelang es ihm endlich, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen. Seitdem arbeitet er mit verschiedenen gemeinnützigen Organisationen in der Stadt, die allesamt das Ziel verfolgen, die Zahl der Tötungsdelike in Chicago zu senken.

Viele der Probleme, mit denen Chicagos South Side bis heute zu kämpfen hat, sind historisch bedingt, dazu zählen Jahrzehnte des systematischen Rassismus gegenüber Schwarzen, vor allem in Bezug auf den Erwerb von Immobilien, Armut und eine Flut von Schusswaffen.

In den ersten neun Monaten dieses Jahres wurden in Chicago bereits mehr Morde verübt als im gesamten Vorjahr. Wie die Polizeibehörde mitteilte, gab es in der Stadt seit Jahresbeginn 645 Morde. Dies entspricht schon jetzt einer Steigerung von 54 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Trump sieht sich als Kandidat für „Recht und Ordnung“

Laut dem University of Chicago Crime Lab war der 31. Mai 2020 zudem der gewalttätigste Tag in der Stadt seit 60 Jahren. An diesem Tag kamen bei Gewalttaten 18 Menschen ums Leben. Was hinter dem dramatischen Anstieg der Tötungsdelikte steckt, ist unklar. Auch welche Rolle die Coronapandemie dabei spielt, ist nur schwer zu sagen.

Nach dem gewaltsamen Tod des Afroamerikaners George Floyd durch einen weißen Polizisten in Minneapolis kam es auch in Chicago zu Protesten und Ausschreitungen. Präsident Trump drohte daraufhin, Truppen in die Stadt zu entsenden. Weitere Vorfälle von Polizeigewalt wie der Tod von Breonna Taylor sowie die Schüsse auf Jacob Blake verschärften die öffentliche Debatte nur noch.

Gewalt und Rassismus waren daher im diesjährigen US-Wahlkampf zwei allgegenwärtige Themen. Trump bezeichnet sich selbst gern als Kandidaten für „Recht und Ordnung“. Seinem demokratischen Herausforderer Joe Biden wirft er vor, die Randale wie aktuell in Philadelphia zu unterstützen. Biden weist das zurück und erklärt, dass es für Gewalttaten und Plünderungen keine Entschuldigung gäbe.

Ausgerechnet diejenigen, die Polizeigewalt und Rassismus am eigenen Leib erfahren haben, halten rein gar nichts von Politikern oder von Wahlen. „Ich bin kein großer Fan von Politikern“, sagt Phillips, der nach seiner Zeit als Gangmitglied aktuell bei der Metropolitan Peace Initiatives tätig ist. „Ich halte Politiker für bezahlte Manipulatoren. Sie verdienen ihren Lebensunterhalt, indem sie lügen.“

„Wahlen sind nichts als Schall und Rauch“

Dass es vor allem unter den Schwarzen ein großes Misstrauen gegenüber der Politik gibt, dürfte nicht wirklich verwundern. Seit Gründung der USA haben politische Entscheidungen zur Unterdrückung der schwarzen Be­völkerungsschicht beigetragen, angefangen mit dem Verfassungskonvent von 1787.

„Als Kind und Jugendlicher spielte Politik für mich keine Rolle“, sagte Damiean Anderson, der in Chicago aufwuchs. „Erst als ich älter wurde, als ich im Gefängnis saß, lernte ich mehr über Politik und die Welt. Trotzdem bin ich der Meinung, dass die Wahlen nichts weiter sind als Schall und Rauch.“

Anderson, der früher Kontakte zu den örtlichen Gangs in der South Side pflegte, darf sich glücklich schätzen, überhaupt noch am Leben zu sein. Er wurde bei einer Auseinandersetzung von mehreren Kugeln getroffen. Der 26-Jährige beschreibt die Schießerei jedoch nüchtern als einen Fall von „zur falschen Zeit am falschen Ort“.

Trotz der weitläufigen Abneigung gegenüber der Politik und Politikern, ein echter Strukturwandel in der South Side wird sich nur vollziehen, wenn sowohl die Politik wie auch andere Interessengruppen gemeinsam an einem Strang ziehen, sagte Vaughn Bryant, Vorsitzender der Organisation Communities Partnering 4 Peace.

„Es ist die Aufgabe der Regierung, Umstände zu schaffen, die es jedem ermöglichen, erfolgreich zu sein“, sagte Bryant. „Nach Jahrzehnten der systematischen Unterdrückung ist es allerdings schwer, die Karre aus dem Dreck zu ziehen.“

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6 Kommentare

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  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    Zitat: "Aber in diesem Jahr gab es dort mehr Morde als in den vergangenen."

    Zynisch gesprochen, ein Land mit unbegrenzten Möglichkeiten. Urgestein der Demokratie, hahiha



    Dort gibt es mehr Tote durch Schusswaffen als durch Autounfälle.



    Das ist nicht fantastisch sondern Realität.

    • @17900 (Profil gelöscht):

      "Dort gibt es mehr Tote durch Schusswaffen als durch Autounfälle."

      Durchschnitt Verkehrstote USA 2014-2019: 30547



      Durchschnitt Schußwaffentote USA 2014-2019: 12292



      Quelle:



      de.statista.com/st...waffen-in-den-usa/



      de.statista.com/st...le-in-nordamerika/



      Dann wäre da noch die Realität,das cw.zwei Drittel davon Selbstmorde sind:www.spiegel.de/pan...rde-a-1121772.html.



      Was Sie behaupten ist also eine "Falsch-Nachricht", auch Gerücht genannt.Manche würden es sogar "Lüge"nennen!

      • @Mustardmaster:

        Die Selbstmorde sind extra: ca. 20.000. Plus die Unfälle mit Schusswaffen: 500 - 1000 oder mehr. Also kommen wir auf mindestens 30.000 Tote durch Schusswaffen.

  • Dass Obama in dieser Sache nichts wirklich Nachhaltiges weitergebracht hat, ist ein trauriger Fakt seiner Präsidentschaft.



    Von Bush davor oder Trump jetzt war und ist ja nichts anderes zu erwarten.



    Obama hätte viel vehementer Sozialreformen anpacken und schärfer gegen "red mapping" auftreten müssen. Das hätte verhindert, dass er schon zu Beginn seiner 2. Amtszeit eine lame duck gewesen wäre.



    Gerade "sein" Chicago ist weiterhin Symbol dieser Negativspirale, das ist bitter.

    • @Gerold Heinemaaks:

      Es erstaunt mich immer wieder, welche seltsamen Vorstellungen taz-leser:innen zum Thema ‘Machtverhältnisse in den USA‘ erkennen lassen.

      Obama wollte kein russischer oder deutscher Diktator werden, sondern US-Präsident. Er hat nie behauptet: „Yes, I Can!“ Als Demokrat aus Überzeugung (und nicht nur dem Namen nach) hat er gehofft, er könnte mit Hilfe seiner Landsleute etwas bewegen. Er hat sich geirrt. 2009 gab es in den USA auch nicht mehr „mündige Bürger“, als 1989 in der DDR.

      Nach Jahrzehnten der Gehirnwäsche wollen (auch) die US-Amerikaner lieber Zuschauer sein als Akteure beim Kampf um die Demokratie. Sie wollen ihre Führer siegen sehen wie ihr Lieblings-Footballteam: Sie wollten von ihrem Platz auf der Bank aus jubeln oder stöhnen, aber sie wollten auch durch ein Gitter getrennt bleiben. Zum eigenen Schutz und auch zum Schutz der Spieler.

      So geht Demokratie leider nicht. Wer sie nicht selber lebt, der kann sie einfach nicht begreifen. Wäre das anders, müssten sich (auch) Obama- oder Biden-Fans längst eingestehen, dass sie schlechte Karten haben, selbst wenn ihr Kandidat siegt. Die Möchtegern-Diktatoren haben einfach schon viel zu viel Macht. Nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in den staatliche Institutionen und natürlich in den Parteien. Und zwar auf allen Ebenen.

      Das will ein „Wahlvolk“ allerdings nicht wahr haben. Lieber bleibt es mehrheitlich zu desinformiert, zu egoistisch und zu feige, als seine Heldenträume aufzugeben. Drei Affen in einem.

      Aber warum in die Ferne schweifen? Auch hierzulande klingen Obama-Kritiker wie Fußballfans, die sich, eine Bierflasche in jeder Hand, vom Sofa aus über die Akteure auf dem Rasen erregen. Die meisten von ihnen scheinen zu glauben, sie wären Stürmer, Außen- und Innenverteidiger, Torwart, Schieds- und Linienrichter in Personalunion. Warum sie ihren Hintern nicht hoch kriegen und zur Abwechslung mal selbst gegen einen Ball treten, können sie allerdings niemandem erklären.

  • „Es ist die Aufgabe der Regierung, Umstände zu schaffen, die es jedem ermöglichen, erfolgreich zu sein“

    Da ich stimme ich dem Artikel zu.., aber auf jeden Fall eine heikle Sache, wenn man sich vorstellt.