Mord an Ukrainern in Murnau: Tödliche Melange aus Politik und Alkohol
Erst zechte er mit ihnen, dann erstach er sie: Das Landgericht München verurteilte einen Russen, der im April 2024 zwei Ukrainer umgebracht hat.

Iouri J., grauer Rauschebart, hellblaues Hemd, schwarzes Blouson, hört sich die Urteilsbegründung scheinbar ungerührt an. Nur sein wippendes Bein und das nervöse Spiel mit einer kleinen Gebetskette deuten auf eine besondere Anspannung.
Oberstaatsanwalt Maximilian Laubmeier hat zuvor in seinem Plädoyer noch einmal geschildert, was am 27. April 2024 in Murnau geschehen war: Demnach sitzt der Russe Iouri J. an diesem Nachmittag schon gut zwei Stunden lang mit den beiden Ukrainern Volodymyr K. und Viacheslav B. vor dem Einkaufszentrum zusammen und – man kann es schwer anders sagen – säuft, als die Situation offenbar eskaliert. Die beiden Ukrainer, 36 und 23 Jahre alt, sind Soldaten und in der Unfallklinik Murnau wegen Kriegsverletzungen behandelt worden.
Schließlich verlässt der Russe die Runde und geht in seine nur 500 Meter entfernte Wohnung. Dort holt er sich ein Outdoor-Messer, kommt zu den beiden anderen Männern zurück und sticht auf sie ein. Zwischen 17.15 und 17.16 Uhr, so lässt sich später konstruieren, findet die Tat statt, dauert nicht einmal eine Minute.
K. trifft er viermal mit dem Messer, vermutlich ist es schon der erste Stich, der die Halsschlagader durchtrennt und tödlich ist. Auf B. sticht der Täter noch mindestens fünfmal ein, zwei Hiebe durchbohren den Hals. Als der Notarzt um 17.27 eintrifft, ist K. bereits tot, B. stirbt kurz darauf in der Klinik. Die Polizei muss nur einer Blutspur vom Tatort zur Wohnung des Russen folgen, um ihn dort kaum mehr als eine Stunde nach der Tat festzunehmen.
Russische Flagge auf die Brust tätowiert
Dass Iouri J. die beiden Männer umgebracht hat, daran besteht kein Zweifel, auch der 58-Jährige selbst hat die Tat gestanden. Nur: War es eine geplante Tat aus politischen Motiven oder eine Affekthandlung im Rausch?
Für Laubmeier ist die Sache klar. „Der russische Angriffskrieg hat Deutschland erreicht“, beginnt er sein Plädoyer. Die beiden Männer „mussten sterben, weil sie Ukrainer waren“. Die drei seien wegen des Ukraine-Kriegs in Streit geraten. Iouri J. hänge einem übersteigerten russischen Nationalismus an und hasse Ukrainer, besonders Soldaten. Dies sei sein „Leitmotiv“ gewesen, getriggert noch dadurch, dass die beiden anderen Männer ihn als „Scheißrussen“ bezeichnet hätten.
Die Staatsanwaltschaft beruft sich bei ihrer Einschätzung etwa auf einen Bewährungshelfer des bereits mehrfach vorbestraften Russen, der im Prozess als Zeuge ausgesagt hat. Ihm zufolge hat sich Iouri J. über die vergangenen Jahre zunehmend radikalisiert. Als Russland den Krieg begonnen habe, habe er geradezu euphorisch reagiert.
Noch kurz nach seiner Festnahme habe er außerdem gegenüber Polizisten gesagt, er hasse Ukrainer, und die beiden Opfer als „Ukrainer-Nazis“ bezeichnet, führt Laubmeier in seinem Schlussvortrag weiter aus. Auch dass der Angeklagte sich auf die linke Brust die Flagge der russischen Föderation habe tätowieren lassen, wertet die Anklage als Indiz für ein politisches Indiz.
Verteidiger sieht nur Totschlag
Gänzlich anders beschreibt J.s Verteidiger Uwe Paschertz die Hintergründe der Tat in seinem Plädoyer. So sei es in dem Streit nur um Alkohol gegangen. Und natürlich sei auch der alkoholisierte Zustand seines Mandanten verantwortlich für dessen enthemmtes Handeln gewesen. Die Ukrainer hätten sich nicht bedankt, als der Russe ihnen je eine Dose Bier spendiert habe, ihm eine Flasche Schnaps weggenommen und ihn dann auch noch beleidigt. Mit dem Messer habe Iouri J. die beiden anderen lediglich einschüchtern und bedrohen wollen, um den Schnaps zurückzufordern.
In seiner Argumentation stützt sich der Verteidiger im Wesentlichen allerdings auf die Aussage des Angeklagten. Dessen Einlassung, die der Anwalt selbst zu Beginn des Prozesses verlesen hat, sei widerspruchsfrei, nachvollziehbar und glaubwürdig. Außerdem sei es nicht erklärbar, warum die drei schon oft „durchaus freundschaftlich“ an dem späteren Tatort zusammengesessen und gezecht hätten, wenn der Hass des Angeklagten auf Ukrainer – wie von der Staatsanwaltschaft behauptet – so groß sei, dass er ihnen das Lebensrecht abspreche.
Anwalt Paschertz hat sogar ein Gutachten in Auftrag gegeben: Anhand von Haarproben der beiden Getöteten sollte festgestellt werden, ob sie Gewohnheitstrinker waren. Wenn ja, so Paschertz’ Gedanke, habe sie ihr übermäßiger Alkoholkonsum vielleicht gar nicht so sehr außer Gefecht gesetzt, wie es die Staatsanwaltschaft annimmt. Die Wehrlosigkeit eines Opfers ist eine Voraussetzung für das Mordmerkmal der Heimtücke. Das Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass beide Ukrainer offenbar sehr regelmäßig sehr große Mengen Alkohol konsumierten.
Während die Staatsanwaltschaft für eine Verurteilung wegen zweifachen Mordes zu lebenslänglicher Haft und eine Feststellung der besonderen Schwere der Schuld plädierte, wollte die Verteidigung die Tat lediglich als Totschlag gewertet und mit maximal zehn Jahren Haft bestraft sehen.
Zweiter Mord aus Verdeckungsabsicht
Das Gericht folgte beim Strafmaß ganz der Staatsanwaltschaft. Nicht aber in der Argumentation. In einem übersteigerten Nationalstolz und dem von der Staatsanwaltschaft angenommenen Hass auf Ukrainer ein „handlungsleitendes Motiv“ zu sehen, vermöge man nicht, so Richter Bott. „Meinungsverschiedenheiten über den Ukraine-Krieg sind jetzt per se keine Seltenheit.“ Man könne lange darüber diskutieren, wie man die einzelnen Indizien gewichte und wo man sie nun „auf der politischen Skala nach rechts oder nationalistisch einsortieren“ müsse.
Auslöser sei in jedem Fall ein Streit gewesen, wohl hätten auch Beleidigungen durch die Ukrainer eine Rolle gespielt. Und selbst wenn der Grund für das Blutbad nur die Flasche Schnaps im Wert von 4,89 Euro gewesen sei, sei dies ein nichtiger Anlass. Zumal dann auffällig sei, dass Iouri J. die Flasche am Tatort zurückgelassen habe.
Die Vorstellung einer Tat im Affekt, also eines Totschlags, falle ihm auch deshalb schwer, weil dadurch, dass Iouri J. erst das Messer holte, eine Pause entstanden sei, in der der Mann wieder zu Sinnen hätte kommen können.
Anders als die Staatsanwaltschaft wertete das Gericht auch das Motiv für den Mord an Viacheslav B. Auf diesen habe J. mit eindeutiger Tötungsabsicht eingestochen, um den Mord an Volodymyr K. zu verdecken.
Anwalt Paschertz will noch prüfen, ob er Revision gegen das Urteil einlegt.
Lesen gegen das Patriarchat
Auf taz.de finden Sie eine unabhängige, progressive Stimme – frei zugänglich, ermöglicht von unserer Community. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ergebnis der Sondierungen
Auf dem Rücken der Schwächsten
Frauen und Krieg
Krieg bleibt männlich
Krieg im Nahen Osten
Definitionsmacht eines Genozids
Schwarz-Rote Finanzen
Grüne in der Zwickmühle
Vertreibung von Palästinensern
Amerikaner in Gaza
Schwarz-rote Sondierungen abgeschlossen
Union und SPD wollen gemeinsam regieren