Mitstreiterin über Esther Bejarano: „Sie hat gelernt, sich zu öffnen“
Helga Obens hat in Hamburg einen „Platz der Bücherverbrennung“ initiiert. Sie war auch Vertraute der Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano.
taz: Frau Obens, seit wann bedrückt Sie die Shoah?
Helga Obens: Angefangen hat es, als ich zwölf war. Da habe ich auf dem Weg zur Schule das „Tagebuch der Anne Frank“ gelesen. Da hat mich so bewegt, dass ich meine Eltern schwer beschimpft habe, weil sei nichts dagegen unternommen hatten. Sie waren dann immer ganz aufgelöst und erzählten mir von meinem Großvater, der die NSDAP wegen Wahlbetrugs verklagt hatte. Das hat mich nicht besänftigt. Später, mit 20, habe ich ein Jahr in England gelebt, einen Teil der Familie von Sigmund Freud, der 1938 vor den Nazis dorthin geflüchtet war, kennengelernt. Ihr Schicksal und dieses Jahr in London überhaupt haben mich geformt und mir eine andere Weltsicht vermittelt.
Nämlich?
Die Notwendigkeit, sich zu engagieren. Als ich – gelernte Buchhändlerin – zum Beispiel merkte, dass die pensionierten KollegInnen nicht von ihrer Rente leben konnten, dachte ich, man muss was tun, bin in die Gewerkschaft eingetreten und Betriebsrätin geworden, natürlich ehrenamtlich.
Waren Sie auch politisch aktiv?
Ich war zehn Jahre lang Mitglied der DKP und habe viele alte GenossInnen aus der politischen Linken kennengelernt. Zum Beispiel ein jüdisches Geschwisterpaar, das die Shoah dank ihrer christlichen Ehemänner überlebt hatte. Allerdings mussten ihre Männer als Kommunisten und Widerstandskämpfer 1942 ins „Strafbataillon 999“ an die russische Front, was einem Todesurteil gleichkam. Sie haben knapp überlebt. Solche Geschichten waren mir damals noch nicht so vertraut und haben mich sehr bewegt.
Trotzdem sind Sie 1986 aus der DKP ausgetreten. Warum?
Aus persönlichen Gründen. Ich bin ein Mensch der Bewegung. Ich muss Freiräume haben und selbst entscheiden, wo ich etwas bewirken will. Etwa in der Anti-AKW-Bewegung oder in Nachbarschaftsinitiativen. 2007 habe ich an den Protesten gegen G8 in Heiligendamm teilgenommen. Dabei war ich da schon ganz schön alt für solche Aktionen. Parallel habe ich drei Kinder großgezogen und immer Vollzeit gearbeitet. Aber das politische Engagement war für mich eine Anstrengung, die nötig war.
75, gelernte Buchhändlerin, hat im 2. Bildungsweg ihr Diplom an der Hochschule für Wirtschaft und Politik erlangt. Seit 1981 ist sie im Hamburger Arbeitskreis „Bücherverbrennung – nie wieder!“, in der Anti-AKW-Bewegung, in Geflüchteten- und Gedenkinitiativen, seit 2000 auch im Auschwitz-Komitee aktiv.
Ab wann engagierten Sie sich in der Erinnerungskultur?
Seit den frühen 1980er-Jahren. Da fiel mir auf, dass in meiner, der Buchhandelsbranche, nicht über die Bücherverbrennung der Nazis von 1933 gesprochen wurde, das schien ein Tabu zu sein. Gemeinsam mit einem Kollegen habe ich mich dann auf die Spuren der Bücherverbrennung in Hamburg begeben, mit GewerkschafterInnen und WissenschaftlerInnen gesprochen. Wir erfuhren, dass BuchhändlerInnen und BibliothekarInnen damals durchaus beteiligt waren.
Wie das?
Sie hatten im vorauseilenden Gehorsam Listen mit „schädlichem Schrifttum“ zusammengestellt. Nach einigen Jahren und merkwürdigen Widerständen, die wir nicht verstanden, haben wir 1985 in Hamburg-Eimsbüttel, am authentischen Ort, den „Platz der Bücherverbrennung“ eröffnet. Zuerst gab es dort wenige Aktionen. Aber mein erster Auschwitz-Besuch im Jahr 2000 hat mich so tief berührt, dass ich dachte, jetzt müssen wir mehr tun.
Nämlich?
Ich habe alle meine Kräfte zusammengenommen, MitstreiterInnen gewonnen und im Mai 2001 die erste Zwölf-Stunden-Lesung organisiert, die bewusst über 23 Uhr hinausging. Denn um 23 Uhr hatten die Bücherverbrennungen der Nazis begonnen und wir wollten zeigen, dass sie nicht gewonnen hatten. Es kamen rund 2.000 Menschen und teilweise wurde es chaotisch, weil alle lesen wollten. Das haben wir einige Jahre durchgehalten. Irgendwann wurde es zu anstrengend und wir haben die Marathonlesung auf sieben Stunden verkürzt. So läuft es bis heute.
Und wie entstand Ihre Freundschaft zur kürzlich verstorbenen Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano?
Flüchtig kannten wir uns seit Ende der 1970er-Jahre, und seit den 1980ern standen wir uns sehr nahe. Wir trafen uns, manchmal suchte ich sie in ihrer Boutique auf. Ab der Jahrtausendwende war klar, dass ich so etwas wie ihre Assistentin würde. Aber ich war auch ein Memorial, eine Gedächtnisstütze, eine Multiplikatorin für Esther. Sie liebte es, telefonierend den Kontakt zur Welt zu halten und alle möglichen Leute zu informieren. Wir haben während der letzten 20 Jahre jeden Tag mindestens eine Stunde telefoniert.
Welche Themen bewegten sie besonders?
Wunden, die ihr durch Achtlosigkeit und zunehmenden Antisemitismus zugefügt wurden, nahmen einen großen Teil ein. Das verletzte sie: diese wehrhafte Frau, die gelernt hatte, sich zu verteidigen und nach den ersten schwierigen Anläufen ihre Geschichte zu erzählen – und so zu erzählen, dass ihr zugehört wurde. Sie hat insgesamt vor vielen Tausenden SchülerInnen gesprochen. Und nach jedem Klassenbesuch habe ich zu ihr gesagt: Du hast sie gegen Faschismus geimpft. Dieser Dialog mit der Jugend war ihr unglaublich wichtig.
Hat sie jemals ihre ganze Geschichte erzählt?
Vermutlich ein einziges Mal – im Herbst 1945, als sie kurz nach ihrer Emigration ins damalige Palästina aus Atlit, einem britischen Gefängnis bei Akko, freigelassen wurde. Die Shoah-Überlebenden aus Europa mussten ja zunächst in ein Internierungslager in Quarantäne. Esther war mit einer Freundin da, und weil sie eine Anlaufadresse bei Esthers Schwester hatten, konnten sie Atlit danach verlassen. Die erste Nacht haben sie in deren winzigem Häuschen verbracht und ohne Pause durcherzählt. Esther sagte später, sie hätten nicht aufhören können zu reden. Auch ihr Mann wusste sicher viel, aber er wagte nie zu fragen. Und ihren Kindern hat Esther wenig erzählt, um sie zu schonen. Auch sie selbst wollte ein anderes Leben führen und nicht immer an Auschwitz denken.
Wann änderte sich das?
1979, als die NPD ihren Stand vor Esthers Boutique in Hamburg-Eimsbüttel aufbaute. Als da plötzlich wieder Nazis in Schwarz-Weiß-Rot auf der Straße standen. Das war für sie ein furchtbarer Anblick, auf den sie nicht vorbereitet war. Ihre Freunde hatten ja gesagt, in Hamburg gebe es keine Nazis. Als Esther das sah, hat sie verstanden, dass sie reden muss.
Fiel es ihr leicht?
Nein. Aber ihr war klar, dass die Menschen ihr nur zuhören, sich berühren lassen, wenn sie sich öffnet. Das war eine enorme Herausforderung für sie. Beim ersten öffentlichen Auftritt erstickte ihre Stimme in Tränen, und sie brach zusammen. Mit der Zeit hat sie gelernt, ohne diese Ausbrüche darüber zu reden. Trotzdem hat sie auch im Alter immer gesagt: Wenn sie frei darüber spricht, strengt es sie an. Dann hat sie Flashbacks, die Erinnerung kommt ganz nah. Aber wenn sie liest, was sie aufgeschrieben hat, fällt es ihr nicht so schwer.
Sie hätte ja irgendwann aufhören können.
Ja, aber das war nicht Esthers Sache. Sie hat das als ihre Aufgabe empfunden. Und es war ein ganz konkreter Auftrag der LeidensgenossInnen im KZ, die sagten: „Wenn du raus kannst, dann geh und berichte davon.“ Wegen ihrer christlichen Großmutter wurde Esther dann tatsächlich ins KZ Ravensbrück verlegt und hat dort überlebt. Ihrem Vater dagegen wurde seine christliche Mutter zum Verhängnis, weil er einer jüdischen Gemeinde in der Schweiz nicht jüdisch genug war. Sie stellte ihn nicht als Kantor ein, sodass die Familie nicht dorthin emigrieren konnte.
Haben Esthers Eltern überlebt?
Nein. Sie sind ins litauische Kaunas/Kowno deportiert und dort von den Deutschen erschossen worden. Eine Schwester ist in Auschwitz ermordet worden. Die andere Schwester emigrierte, wie erwähnt, nach Israel, der Bruder in die USA, wo er vergeblich versuchte, Visa für die Familie zu organisieren.
Wie erging es Esther nach 1945 in Palästina?
Sie wurde zur Armee eingezogen, war im Musikcorps und hat zum Glück überlebt. In den Kämpfen um die Gründung des Staates Israel waren ja 30 Prozent der Getöteten Shoah-Überlebende. Später nahm Esther Gesangsunterricht, sang im Arbeiterchor und vor Soldaten, leitete Kinderorchester und -chöre. Singen war ihr ein großes Bedürfnis und sie hatte, wie ihr Vater, eine besondere Stimme. Vielleicht hat sie das befreit.
Und warum ist sie 1960 nach Deutschland gezogen?
Zum einen, weil sie die Hitze, das Wüstenklima nicht vertrug. Zum anderen, weil ihr Mann, in guter Nachbarschaft mit AraberInnen aufgewachsen, immer wieder zum Militär einberufen würde und nicht auf sie schießen wollte. Die beiden wollten eigentlich in die USA, aber Esthers Mann hätte als Mitglied der kommunistischen Partei kein Visum bekommen. Also gingen sie nach Deutschland. Die FreundInnen in Israel haben das nicht verstanden: Man hatte durchzuhalten und zu Israel zu stehen. Als ich 2008 mit Esther in Israel war, habe ich versucht zu erklären, wie wichtig es für uns Deutsche war, dass sie zurückkam und erzählte. Es war schwer zu vermitteln.
Und was wird ohne Esther Bejarano aus dem Auschwitz-Komitee?
Der Auftrag bleibt. Wegschauen ist nicht möglich, wir müssen uns weiter äußern. Aber es wird schwerer ohne die Autorität der Überlebenden. Esther war eine der letzten, die für sie sprechen konnte. Und wir anderen sind ja nur die Nachgeborenen.
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