Mithu Sanyals neuer Roman: Welche Perspektive zählt?
Mithu Sanyals vielarmiger Roman „Antichristie“ schließt die postkolonialen Debatten unserer Tage mit der Geschichte der Befreiung Indiens kurz.
Gleich mit ihrem ersten Roman „Identitti“ gelang Mithu Sanyal ein Hit. Zuvor hatte die Kulturwissenschaftlerin mit Sachbüchern („Vulva. Das unsichtbare Geschlecht“ und „Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens“) von sich reden gemacht. Inzwischen ist die 1971 in Düsseldorf geborene Autorin aus dem hiesigen Kulturleben nicht wegzudenken. Sie sitzt in wichtigen Jurys und Gremien (Bachmannpreis, Friedenspreis des Deutschen Buchhandels) und gehört zu den ersten Ansprechpartnerinnen in Fragen postkolonialer Diskurse. Jetzt legt Mithu Sanyal mit „Antichristie“ ihren zweiten Roman vor.
Konnte man ihr Debüt „Identitti“ als Crashkurs in Sachen Rassismus und Identitätspolitik lesen, gibt sie in „Antichristie“ Nachhilfe in Sachen Widerstand. Der gewaltlose Widerstand, den viele mit der Person Mahatma Gandhi verbinden, trifft im Roman auf den bewaffneten Widerstand des indischen Hindu-Nationalisten Vinayak Damodar Savarkar, der hierzulande den meisten unbekannt sein dürfte. Die Frage nach der Trennlinie zwischen Freiheitskampf und Terrorismus ist indes eine altbekannte.
Agatha-Christie, aber dekolonial
Der Roman führt ins Jahr 2022 in einen Writers Room nach London, wo eine antirassistische Agatha-Christie-Neuverfilmung ansteht, der belgische Kommissar Hercule Poirot soll durch einen Schwarzen ersetzt, das Ganze also nach allen Regeln der Kunst dekolonisiert werden.
Mit dabei ist die Kölner Drehbuchautorin Durga Chatterjee, ein Double von Mithu Sanyal und Hauptfigur des Romans, 50 Jahre alt, mit einem Schotten verheiratet, Tochter eines Inders und einer Deutschen. Während sie in London ist, stirbt Queen Elizabeth II., was weltweit Trauerrituale in Gang setzt, natürlich gibt es auch weniger freundliche Stimmen, schließlich ist sie auch die Queen of Kolonialismus gewesen.
Das Geschlecht wechseln
Doch ehe sich Durga versieht, befindet sie sich schon in einem anderen Jahrhundert, genauer im Jahr 1906. Nach Art von Virginia Woolfs Klassiker „Orlando“ reist sie durch die Zeit, wechselt dabei ihr Geschlecht, ist plötzlich ein Mann, mit allem Drum und Dran. Sanjeev heißt er und bekommt erwähnten Savarkar und andere Revolutionäre in London hautnah mit. Damals versammelte man sich auch in Wirklichkeit im sogenannten India House und plante den Systemumsturz. Es sollte allerdings noch bis 1947 dauern, ehe die britische Herrschaft über Indien endete.
„Antichristie“ bietet nicht nur einen Crashkurs in indischer Geschichte, sondern macht mit so ziemlich allem vertraut, was es über das Land und seine jüngere Vergangenheit zu wissen gibt. Wer sich ohnehin dafür interessiert, hat beim Lesen einen klaren Vorteil.
So anschlussfähig wie die universitären Identitätsblasen und ihre medialen Eskalationsschleifen in „Identitti“ dürfte das nicht sein, doch Sanyal steuert mit populären Vehikeln dagegen. Agatha Christies Krimis und ihre Verfilmungen dienen ihr als gutes Rahmengespinst. Daraus ergibt sich in einem der Erzählstränge ein eigener Kriminalroman, in dem kein Geringerer als Sherlock Holmes himself auftritt. Hinzu kommt Sanyals überbordender Witz.
Wie das Chaos einer indischen Straßenkreuzung
Ihr Roman führt nicht nur in die Jahre 2022 und 1906, sondern auch in die 1990er Jahre, als die Protagonistin Durga jung war. Die Zeitsprünge kommen wie Jump Cuts im Film daher, also so abrupt wie ein Auffahrunfall. Überhaupt wirkt die Überfülle in Sanyals Roman wie das Chaos einer indischen Straßenkreuzung, in die von allen Seiten immer neue Verkehrsteilnehmer strömen. In Sanyals Fall ein poetisches Verfahren, das der Komplexität der Welt mit nichtlinearen Erzählweisen beikommt. „Warum gab es keine einfachen Antworten auf komplexe Fragen?“, heißt es dazu passend im Roman.
Mithu Sanyal: „Antichristie“. Hanser, München 2024. 544 Seiten, 25 Euro
In der arrangierten Reizüberflutung lernt man immens viel: über Kriminalromane, Indien, das Empire, Sci-Fi-Serien, Drehbuchschreiben, Agatha Christie, das Kastensystem, Widerstandskämpfer und und und. Sanyal sprudelt über vor Erzähllaune und wartet mit turbulenten Dialogen auf, die zuweilen wie die verlaberten Helden aus Tarantino-Filmen klingen, etwa wenn Durgas Leute sich darüber streiten, wer wo das erste Konzentrationslager gebaut hat.
Wie schon in „Identitti“ kämpft sie mit der Erzählökonomie, merkt nicht, wann sie das Spiel abpfeifen könnte. Davon abgesehen gelingt ihr ein Zeitreiseroman, der die Debatten unserer Tage mit einer gescheiten Geschichte über den Widerstandsgeist von heute und gestern kurzschließt.
Perspektivwechsel
Das Totschlagargument „alles eine Frage der Perspektive“ schmuggelt Sanyal dabei aufs Anschaulichste in ihren vielarmigen Roman. Von Indien aus betrachtet leuchtet das britische Empire nun einmal weniger herrlich als aus dem Buckingham Palace heraus. So erklären sich auch die unterschiedlichen Reaktionen auf den Tod von König Elisabeth. Als Vertreterin eines Unrechtssystems hat sie streng genommen kein Mitleid verdient.
Eine Frage der Perspektive ist schließlich auch das Urteil über die Vergangenheit. So stellt Durga einmal fest: „Ich war inzwischen darin geübt, mein Erstaunen darüber für mich zu behalten, wie anders die Vergangenheit von der Vergangenheit aus aussah.“ Dass manche Perspektiven weniger wert scheinen als andere, macht der Roman spielend klar. Savarkar doziert darin: „Die Dinge ändern sich erst, wenn sich die Machtverhältnisse ändern.“ Der Kampf geht also weiter. In Mithu Sanyals Fall mit Wissensdrang und Amüsierwillen. Man könnte es auch friedlichen Widerstand nennen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Gastbeitrag in der „Welt am Sonntag“
Bequem gemacht im Pseudoliberalismus