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Mitbestimmung in der PandemieThüringen startet Coronabürgerrat

In der Coronakrise sollen die BürgerInnen des Freistaats ab Dienstag die Politik beraten. Ähnliche Gremien gibt es auch schon in anderen Ländern.

Justiz- und Migrationsminister Dirk Adams von den Grünen in Thüringen hatte die Coronabürgerrat-Idee Foto: Martin Schutt/dpa

Dresden taz | Einer Mode folge man nicht, dementiert Thüringens Justiz- und Migrationsminister Dirk Adams von den Grünen. Aber wenn das Kabinett in Erfurt am Dienstag aller Voraussicht nach einen Coronabürgerrat beschließt, dann stehen dafür klar die Bundesländer Baden-Württemberg und Berlin Pate, in denen es solche Beratungsgremien schon gibt.

Adams kam die Idee nach eigenen Angaben bei einem Webinar Mitte November. „An welcher Stelle nehmt Ihr die Bürger mit ins Boot?“, fragte bei dieser Videokonferenz unter anderem der Bundesverband „Mehr Demokratie“.

Mit dem Bürgerforum sollen jetzt also immerhin ein paar Bürger mit eingebunden werden. Die sollen ein „Additiv“ zum Landtag und den wissenschaftlichen Beiräten bilden. „Das Kabinett lädt in der Krise Gäste wie Wissenschaftler oder den schwedischen Botschafter ein, warum nicht ebenso eine Bürgervertretung?“, begründet Adams sein vehementes Eintreten für ein solches Beratergremium.

In Stuttgart ist aus dem Beteiligungsportal des Landes Baden-Württemberg ein Bürgerforum Corona hervorgegangen, das am 16. Dezember erstmals tagte. Seit September 2019 arbeitet außerdem auf Bundesebene ein Bürgerrat, der momentan außenpolitische Empfehlungen geben soll. Auf kommunaler Ebene gilt der Coronabürgerrat in Augsburg als Vorbild.

Beraten – nicht entscheiden

Das Auswahlprinzip ist überall ähnlich. Zwar haben sich in Thüringen bereits Bürger teils mit Lebenslauf für die Teilnahme am Coronabürgerrat beworben. Doch das widerspräche dem Postulat eines repräsentativen Bevölkerungsquerschnitts und würde das Risiko einer einseitigen Dominanz von politisch aktiven Menschen oder Protestlern mit sich bringen.

Ausgeschrieben wird nur die Durchführung des Verfahrens durch ein Beratungsinstitut. Nach einem Schlüssel, der Alter, Geschlecht, Wohnsitz, Bildungsstand oder Herkunft berücksichtigt, werden mit Hilfe des statistischen Landesamtes und der kommunalen Melderegister Bürger ausgelost und angeschrieben.

Die meisten der Angefragten seien nicht sofort zur Mitarbeit bereit, sagt Justizminister Adams, fühlten sich nicht kompetent oder hätten Hemmungen, „plötzlich dem Oberbürgermeister gegenüberzusitzen“. Etwa zehn- bis zwanzigmal mehr Bürger als die angestrebten 40-50 Teilnehmer müssten angeschrieben werden.

Sie sollen aber nicht etwa als ein weiteres Vertretungsgremium ad hoc Beschlüsse der Ministerpräsidenten oder der Landesregierung „absegnen“. Denn ein Bürgerrat kann nur beraten und nicht entscheiden. Erwartet werden vielmehr langfristige Empfehlungen und Perspektiven. Als klassisches Beispiel in der aktuellen Coronakrise nennt Adams die Impfstrategie oder die Einschränkungen der Grundrechte.

In einer MDR-Fernsehdiskussion kritisierte der FDP-Landtagsabgeordnete Dirk Bergner das Vorhaben als „durchsichtige Alibinummer“ und verlangte stattdessen eine stärkere Einbindung des Parlaments. Auch von „organisierter Verantwortungslosigkeit“ war die Rede. Die Thüringer Landesregierung aber will, wenn sich das Kabinett heute verständigt, in den nächsten 4-6 Wochen den Coronabürgerrat etablieren.

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12 Kommentare

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  • Eine Befragung einer ziemlich kleiner Gruppe hat mit (echter) Beteiligung, (echt) direkter (echter) Demokrate rein gar nichts zu tun.

    Unter #Bürgerbeteiligung, #Direkte Demokratie könnte die taz Echtes bringen. Könnte...

    • @vjr:

      Wird sie vermutlich aber nicht, weil Bürgerräte das neue Lieblingsbaby der Grünen sind, seitdem sie festgestellt haben, dass Volksabstimmungen leider auch mal ganz anders ausgehen können, als von ihnen gewünscht (siehe Hamburg damals). Bürgerräte bieten die wunderbare Chance, dass Mitbestimmung in der Hand des Bürger(tum)s bleibt....und das gefällt der Partei der Bourgeoisie natürlich sehr.

  • Eine Befragung einer ziemlich kleiner Gruppe hat mit (echter) Beteiligung, (echt) direkter (echter) Demokrate rein gar nichts zu tun.

    Unter #Bürgerbeteiligung, #Direkte Demokratie könnte die taz Echtes bringen. Könnte...

  • Beim bundesweiten, derzeit laufenden Bürgerrat "Deutschlands Rolle in der Welt" gibt es jedenfalls schon mal keinen Querschnitt der Bevölkerung, es fehlen Menschen mit niedrigerem Bildungsabschluss. Und in Ba-Wü hat der Corona-Bürgerrat mit 80 Prozent der Stimmen ein Ende aller Restriktionen empfohlen, was nicht nur allen Virologen, sondern vor auch den Umfragen der letzten Monate komplett widerspricht. Wo genau ist da nun der Mehrwert? Ich hab bei den Aktivist_Innen von Mehr Demokratie und Co immer den Eindruck, die glaubten, ein Bürgerrat als solcher sei immer ein Gewinn für die Demokratie, egal, welchen Quatsch er am Ende produziert. Aber wenn ein Parlament Unsinn verzapft, führt das doch auch zu Politikverdrossenheit.

    • @Suryo:

      Ja, leider.

  • "Das Auswahlprinzip ist überall ähnlich. Zwar haben sich in Thüringen bereits Bürger teils mit Lebenslauf für die Teilnahme am Coronabürgerrat beworben. Doch das widerspräche dem Postulat eines repräsentativen Bevölkerungsquerschnitts und würde das Risiko einer einseitigen Dominanz von politisch aktiven Menschen oder Protestlern mit sich bringen."

    Daher sollten die Bürger mit den meisten Candy Crush Punkten in den Bürgerrat.

    • @Strolch:

      Spieler:*innen mit vielen Candy Crush Punkten sind dafür überqualifiziert und versuchen sicherlich, auf anderer Ebene politisch Einfluss zu nehmen.

  • Wenn ich mir die Meinungen und Vorstellungen von Bürgern so anhöre (z.B. Kontrovers im DLF - gerade heute), da sind doch die Ansichten des "Bürgers" wenig tauglich...

    "Es muss schneller/mehr geimpft werden" sagt jeder zweite - unter vollkommener Missachtung das man das Zeug auch Herstellen können muss, und das man die Produktion nicht mal eben so einfach steigern kann. Nicht einmal mittelfristig.



    Ein Frau meinte: Masken genügen doch: alle Geschäfte und Lokalitäten und andere Einrichtungen sofort wieder öffnen.

    Ganz ehrlich wenn ich so etwas höre läuft es mir kalt den Rücken herunter. Das Ganze gepaart mit Politikern die vor Wahlen stehen.

    Das einzig Vernünftige wäre das Primat der Wissenschaft! Wissenschaftler und Ingenieure sind darin ausgebildet mit komplexen Systemen um zu gehen. Wir wären in der Lage sinnvolle Entscheidungen zu treffen.

    • @danny schneider:

      Also das dumme Volk endlich von der Macht entfernen und die Geeignetsten herrschen lassen? Dieses Modell ist klassisch als Aristokratie bekannt.

      Weiß nicht wie ernst dieser Denkanstoß gemeint ist, aber bei der Vorstellung, dass kühl berechnende Ingenieure sich anschicken, das gesellschaftliche Leben wie eine Produktionsanlage zu programmieren und optimieren, da läuft’s mir kalt den Rücken runter.

      • @Ruhig Blut:

        So wie das beschreiben ist, meinst du wohl eher eine Technokratie. In dieser Form werden die Geeignetsten anhand ihrer spezifischen Wissens- & Bildungsbefähigungen ausgewählt (ggf. auch gewählt). -> z.B. Drosten for Pandemie-Minister



        Nicht nach Herkunft, Status, Partei oder Lobbyzuordnung.

        • @BlackHeroe:

          Naja, dann überleg mal wer am besten über deren Auswahl entscheidet. Welche Art Fachleute sollen es denn sein, wieviele von welchen und welche Ansätze verfolgen die jeweils in ihren Disziplinen und Fachbereichen? Und wenn sie denn ausgewählt sind, wessen Interessen priorisieren sie im Konfliktfall? Dummerweise ist Politik immer ein Aushandeln von Interessenkonflikten, sowas wie Neutralität im politischen Handeln existiert schlicht nicht.



          Kurzum, diese Idee führt schnurgerade wieder zurück zur Machtfrage.

    • @danny schneider:

      Am Besten die Demokratie zugunsten einer Aristokratie ganz abschaffen, nicht das die Bürger noch falsch wählen. Wobei die Aristokraten dann entscheiden, wer zu ihnen gehört. Wird sicherlich hervorragend funktionieren.