Mit komplexen Identitäten umgehen: Von Vögeln lernen
In ihrer Jugend prallten Realitäten aufeinander. Suchend schreibt Elisabeth Wellershaus nun über Identitäten in „Wo die Fremde beginnt“.
„Zunächst waren es Vögel, die ich während der Pandemie neu entdeckte. Nebelkrähen, die sich mit Elstern anlegten, weil sie um Brutreviere kämpften. Mauersegler, die aus dem Süden zurückkamen und sich in den Ritzen des Hauses gegenüber einnisteten. Winzige Bewegungen, die vor meinem Fenster stattfanden, die vorbeizogen und flüchtig blieben“, schreibt Elisabeth Wellershaus.
Diese „winzigen Bewegungen“ sind Begegnungen von Lebewesen, die ihr Miteinanderleben miteinander aushandeln müssen. Immer wieder von Neuem. Das gilt für Vögel wie auch für Menschen, besonders im urbanen Raum, wo viel Leben auf wenig Platz trifft.
Dieses Aushandeln, das Wellershaus zu Pandemiebeginn von ihrem Fenster aus in Berlin-Pankow beobachtete, legte den Grundstein für ihr erstes Buch. In ihm begibt sich die Autorin auf die Suche nach dem, was uns alle ausmacht und was wir wohl ein Leben lang zu ergründen versuchen: die eigene Identität.
Dass diese nicht so einfach zu definieren ist, lässt bereits der Untertitel erahnen: „Über Identität in der fragilen Gegenwart“. Wie fragil diese Gegenwart aktuell ist, lässt sich nicht bloß an medialen Debatten ablesen. Auch in den Alltagsbegegnungen erleben viele, wie fragil, ja gar zerbrechlich die Gesellschaft mit ihren ganzen individuellen Identitäten ist.
Wo beginnt die Fremde?
Was gerade noch als gewiss galt, wirkt nun verschoben. Vieles lässt sich vielleicht als Lernprozess verbuchen, manches bleibt uns aber schlicht fremd. Hier setzt Wellershaus an, versucht das Konzept Fremdheit anhand der eigenen Geschichte, der eigenen, vermeintlich starren Identität zu begreifen. Um, wie es auch der Buchtitel bezeugt, herauszufinden, „Wo die Fremde beginnt“ und wie man ihr begegnen kann.
Knapp 150 Seiten nimmt sich Wellershaus für dieses für sie nicht ganz neue Thema. Bereits in ihrer Arbeit als Journalistin und Redakteurin beim Zeit Online-Newsletter „10nach8“ sowie dem mehrsprachigen Kunstmagazin Contemporary And beschäftigte sie sich mit Fremdheit, meist als etwas ihr von außen Zugeschriebenem.
1974 in Hamburg geboren, wuchs Wellershaus im bürgerlichen Stadtteil Volksdorf mit ihrer Mutter und bei den Großeltern lebend auf. Unterbrochen wird der Hamburger Alltag von sommerlichen Besuchen an der spanischen Costa del Sol, wo der aus Äquatorialguinea geflohene Vater bis heute lebt.
Eindrücklich beschreibt Wellershaus, wie sie zwischen diesen beiden Lebensrealitäten balanciert: „Mein schwereloses Mittelmeerleben und die bodenständige deutsche Vorstadt: Immer wieder krachten sie mit Karacho ineinander. Weil sie das Fremde aneinander witterten und kaum aushielten.“
Anpassungsversuche wegen Fremdzuschreibung
Ihr spanisches Leben riecht nach einem „Hauch aus Orangen, Churros und starken Putzmitteln“. In ihm ist Platz für den Männer küssenden, besten Freund ihres Vaters und die für kurze Zeit als normal geltende Ferienliebe zwischen den Eltern.
In Volksdorf wiederum gelten sie und die Mutter als unkonventionell. Abgefedert wird das vermeintliche Anderssein dort von den Großeltern, denn „mit den beiden Alteingesessenen hatten wir das Ideal der heilen Kleinfamilie auf verschobene Weise erfüllt“. Nach deren Tod beginnen Wellershaus’ Anpassungsversuche, um dort, wo ihr andere stets Fremdsein zuschreiben, nicht aufzufallen.
Elisabeth Wellershaus: „Wo die Fremde beginnt“. C.H. Beck, München 2023, 158 S., 22 Euro
„Verbindungen und Knoten entwirren, die meinen eigenen Alltag ausmachten“, wollte sie, so steht es im Buch. Ähnlich formuliert sie es bei einem gemeinsamen Spaziergang entlang der Panke, die durch die Berliner Stadtteile Pankow und Wedding fließt. Viel ist sie hier spazieren gegangen, als es wenig anderes gab, was man in der Stadt machen konnte.
Von den „Grundpfeilern aus Wohlstand, Sicherheit und Homogenität“, die ihr aktuelles Pankower Primärzuhause in einer Baugruppe tragen, über die physisch abgerissene, durch Gentrifizierung aber klar markierte Grenze bis hinein in den Wedding, wo „fremde Armut, fremde Kulturen, fremde Sprachen und die Fremdheit fehlender Möglichkeiten existieren“, schreibt sie. Entwirren mit dem Ziel, neue Gewissheiten bezüglich Gemeinschaft und Kollektivität zu gewinnen, sagt sie, sei der Plan gewesen.
Auf dem Sandweg vor uns landen zwei Rotkehlchen. Winzig wirken sie zwischen all den anderen Vögeln, die ihren temporären Lebensraum in der Grünanlage errichtet haben: Riesige, gefährlich wirkende Krähen, gesellschaftlich geächtete Tauben und freche Spatzen fliegen umher, Stare und auch die ein oder andere Amsel sind zu sehen.
Sehnsucht nach Verbundenheit
Beim Thema Vögel wirkt Wellershaus enthusiastisch. Das Beobachten der geflügelten Stadtbewohner ist inzwischen eine Leidenschaft innerhalb ihrer Familie. Begeistert erzählt sie von Dara McAnulty und seinem „Tagebuch eines jungen Naturforschers“. Der 19-jährige Umweltaktivist aus Irland, dessen Spitzname lon dubh, zu Deutsch Amsel, ist, gewährt in seinem Buch einen ganz eigenen Blick auf die Welt, ist McAnulty doch Autist.
Auch er musste sich in seinem Leben oft neu verorten, familiärer Umzüge, aber auch Mobbingerfahrungen wegen. „Manche Menschen meinen, dass Wurzeln durch Steine und Mörtel entstehen, aber unsere wachsen wie unterirdische Pilzgeflechte in alle Richtungen, verbinden sich zu einem Grundstock gemeinsam gelebten Lebens, sodass wir, egal wohin wir gehen, immer verwurzelt bleiben“, schreibt er im Vorwort.
Dass Wellershaus McAnultys Tagebuch gelesen hat, merkt man ihrem Stil an. Ähnlich poetisch beschreibt sie, was sie sieht, wem sie begegnet. Auch ihr Zuhause verortet sie wie McAnulty nicht an einem einzigen Ort, an dem es stoisch festzuhalten gilt. „Hier wie dort“ kann es liegen.
Was in ihren Worten aber immer mitschwingt, ist der Wunsch nach Verbundenheit – eine allgemeingültige Sehnsucht, die nicht selten in identitätspolitischen Debatten häufig kritisierten Kollektivzugehörigkeiten mündet. Wellershaus weiß um die Problematik hinter identitären Zuschreibungen, beobachtet, wie die damit einhergehende Abgrenzung uns isoliert.
Der Mensch als multikollektives Wesen
Als Menschen sind wir eben doch anders als Pilzgewächse, denen ihre unterirdischen, oberflächlich nicht sichtbaren Wurzeln reichen, um verbunden zu sein. Wir aber müssen sehen und fühlen, wenn nicht auch mit anderen Sinnen wahrnehmen, damit wir uns verbunden fühlen können. Die „Gewissheit, Teil eines diasporischen, globalen Ganzen zu sein“, entglitt Wellershaus während der Pandemie mit ihren engmaschigen Lockdowns. Was sie in ihrem Buch versucht, ist, zusammenzubringen, was aktuell getrennt wirkt.
Ihrem Aufwachsen als Schwarzes Kind in der Hamburger Vorstadt stellt Wellershaus deshalb andere Lebensrealitäten gegenüber: die der in London wohnhaften Cousine, mit der die Autorin die äquatorialguineische Familie väterlicherseits sowie Erfahrungen afropäischen Lebens teilt; die von S., der als syrischer Flüchtling in Brandenburg lebt und dort zwischen Alteingesessenen und Neuzugezogenen vermittelt; die von Mutter und Tante, deren Aufwachsen von einer Generation Kriegstraumatisierter geprägt wurde.
Es geht Wellershaus darum, aufzuzeigen, dass wir alle „multikollektive Wesen mit einer Vielzahl persönlicher Zugehörigkeiten“ sind. Dass wir eben auch in Fremdheit miteinander verbunden sein und die Erfahrungen anderer uns „als Kompass zur Verortung dienen“ können. Wenn sie eines gelernt habe, dann, dass wir die uns inhärenten Unterschiede auszuhalten lernen müssten, „ohne die Abweichungen des anderen zum Vorwand für Abwertung zu nehmen“, zitiert sie die Schriftstellerin Toni Morrison.
Wellershaus' Buch ist ein „Suchen und Vortasten“, ein Versuch, über die eigenen Erfahrung zu sprechen und sie mit größeren gesellschaftspolitischen Themen zu verknüpfen. Dass dies keine eindeutigen Ergebnisse liefert, keine universale Lösung für die identitätspolitischen Debatten unserer Zeit präsentiert, ist kein Manko.
Es zeigt vielmehr, wie komplex unsere Identitäten tatsächlich sind, wie das Gefühl von Fremdheit uns alle ereilt, sobald wir Gewohntes verlassen, und wie uns die Sehnsucht nach Zugehörigkeit prägt. Wenn es eine Gewissheit gibt, dann vielleicht die, dass es kaum eine gibt, schreibt Wellershaus. Ihre Fremde sei durchzogen von Grauzonen, „die sich der Eindeutigkeit verweigern. Allein die Solidarität mit dem Unbekannten scheint den genauen Weg zu kennen.“ Alles andere bleibt – die Vögel wissen es – ein Aushandeln.
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