Mit Kindern über Terror sprechen: Erklären, ohne Angst zu schüren
Gedenkminuten, Polizeischutz, Gespräche im Ethikunterricht – auf die Pariser Anschläge reagieren Schulen und Lehrkräfte unterschiedlich.
Die Vorfreude auf Weihnachten, die Besinnung auf die bevorstehende Adventszeit mögen nicht so recht zur Aufgewühltheit passen, die auch Deutschland derzeit heimsucht. Es würde nicht wundern, sollte sie auch hier, in der deutsch-französischen Staatlichen Europaschule im Norden Berlins anzutreffen sein.
„Die Schüler vergessen schnell, Gott sei Dank“, sagt Joachim Sauer. Der Schulleiter – dunkles Sakko, ergraute Schläfen, hohe Stirn – sitzt in seinem Büro und rekapituliert die Ereignisse dieser Schulwoche. Und ist dabei erstaunt, wie schnell der Alltag zurückgekehrt ist. Die Polizisten blieben zwei Tage. Die Elternvertretung beruhigte sich wieder, nachdem sie unmittelbar nach den Anschlägen in einer E-Mail an elementare Sicherheitsregeln erinnerte: Personen, die man nicht kenne, sollte man nicht die Tür am Haupteingang öffnen. Wer hinein möchte, müsse klingeln oder den richtigen Zahlencode eintippen. Und auch die Gedenkveranstaltung, wundert sich Sauer, liegt erst zwei Tage zurück.
Am Montag kurz vor zwölf, wenige Minuten vor der europaweit begangenen Schweigeminute, sprach Schulleiter Sauer zu SchülerInnen, KollegInnen und ein paar Eltern, die sich spontan zur Gedenkfeier in der Turnhalle eingefunden hatten. Worte, die der Fassungslosigkeit des willkürlichen Mordens Ausdruck verleihen, seinen Zuhörern Mut und Zuversicht einflößen sollten. „Wir müssen nach vorne blicken. Es geht nicht anders“ – so etwa, erinnert sich Sauer. Die Hälfte der rund 350 Schüler an der zweisprachigen Europaschule stammen aus Frankreich oder einem anderen französischsprachigem Land. Bei einigen Anwesenden bemerkte der Rektor Tränen, als er aufblickte.
Seitdem deutsche Sicherheitsbehörden vor Folgeanschlägen in Deutschland warnen, ist Angst auch in den Alltag vieler Deutscher eingekehrt. Und damit in die Klassenzimmer der Republik. Wie sollen die Schulen damit umgehen? Wie erklären PädagogInnen Terror, ohne selbst Angst zu schüren?
Weinende Kinder
Wer mit Lehrern und Eltern spricht, merkt schnell: Die Sorge um die eigenen Töchter und Söhne endet nicht an der Bushaltestelle vor der Schule. Und Kinder streifen ihre Gedanken nicht an der Klassentür ab wie eine Regenjacke.
Manchmal bricht es aus ihnen förmlich hervor, wie bei einem 13-jährigen Jungen mit iranischen Wurzeln, der auf ein Berliner Gymnasium geht. „Mein Onkel ist vom IS getötet worden“, erzählte er seiner Klassenlehrerin. Die Terroristen hätten einen irakischen Grenzort gestürmt. Die Lehrerin wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Ähnlich erging es einer Lehrerin an der Franz-Marc-Grundschule in Berlin-Tegel. Als sie mit ihrer 6. Klasse im Fach Gesellschaftswissenschaften auf die islamistischen Attentäter von Paris zu sprechen kam, musste ein muslimisches Kind weinen: „So sind wir nicht, daran glauben wir nicht, das ist falsch!“ Nach dieser Erfahrung wollte die Lehrerin das Thema nicht weiter ausweiten.
Wie viele Gespräche über den Terror kann man, wie viel muss man den SchülerInnen nach dem 13. 11. zumuten? Die Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) nimmt die PädagogInnen in die Pflicht. In der aktuellen Ausgabe des monatlichen Rundschreibens Praxisinformationen wendet sie sich mit einer eindringlichen Bitte an die ihr unterstellten SchulleiterInnen: Sie sollten in den nächsten Tagen und Wochen „ausreichend Raum“ für die Thematisierung der Anschläge in ihren Schulen zur Verfügung stellen. „Warum tun Menschen anderen Menschen so was an? Kann das auch in Berlin passieren? Kommt der Terror mit den Flüchtlingen?“ Populistischen Forderungen nach Schließung der Grenzen erteilt sie in dem Vorwort eine Absage. Viele andere Antworten aber, so Scheeres, fehlten noch. Es müsse primär darum gehen, dass SchülerInnen über ihre Verunsicherung sprechen können.
„Wichtig ist, dass man den Kindern ein Gefühl der Sicherheit gibt“, bestätigt Klaus Seifried. Seifried ist Leiter des Schulpsychologischen Beratungszentrums Tempelhof-Schöneberg in Berlin. Die Schulen rufen bei ihm an, wenn etwas sehr Schlimmes passiert, etwa bei Gewaltvorfällen oder Schülerkrisen bis hin zum Suizid. Bei der Einschätzung von Amokdrohungen oder der Sicherung vor Terroranschlägen wie an Sauers Europaschule wird die Polizei eingeschaltet. Bei Seifried hat sich eine Woche nach den Anschlägen von Paris jedoch nur eine Grundschulrektorin gemeldet. Sie wollte wissen, ob auch für Grundschüler eine Schweigeminute sinnvoll ist. Seifried bejahte. Viele Schulleitungen haben dies ohnehin in Eigenregie entschieden.
Die Angst nehmen
Auch Grundschulkinder bekämen mit, dass etwas Schlimmes passiert ist, begründet Seifried seinen Rat. Allein schon deshalb, weil ihre Eltern aufgeregt seien. Und weil die Medien pausenlos die entsprechenden Schreckensbilder verbreiteten. Wichtig sei, dass die Erwachsenen – Eltern und Lehrer – ihnen die Angst nähmen: „Bei uns bist du sicher!“ Mit einer diffusen Gefahr wie einem terroristischen Anschlag würde Seifried Jüngere deshalb nicht belasten. Über die Hintergründe solcher Anschläge zu reden sei bei einem Erstklässler nicht altersgerecht.
Zu diesem Ergebnis kamen auch Rektor Joachim Sauer und seine Kollegen an der Europaschule. Die Klassen 1 und 2 wurden aus der Gedenkveranstaltung ausgenommen, „um sie nicht zu belasten“, sagt Sauer. Schüler in diesem Alter seien leicht „beeindruckbar“. Im Ethik-, Politik- oder Geschichtsunterricht höherer Jahrgangsstufen könne man die Attentate und ihre Folgen aber thematisieren.
Über die Hintergründe des Attentats hat auch Cäcilia Völker-Klatte mit ihren SchülerInnen gesprochen. Die 54-Jährige unterrichtet Französisch und Ethik am Berliner Romain-Rolland-Gymnasium. Völker-Klatte war erstaunt, dass selbst die Jüngeren kritisch nachfragten: Warum über die Attentate in Ankara oder Beirut nicht genauso getrauert würde wie jetzt? „Paris ist jetzt nah dran“, sagt Völker-Klatte. Für sie selbst gilt das auch persönlich: Ihre Schwester lebt in Paris. Während der Anschläge war sie in einem anderen Teil der Stadt unterwegs.
Völker-Klatte ist nicht die einzige Lehrkraft, der der Anschlag persönlich nahe geht. Axel Braun unterrichtet Französisch an der Friedrich-List-Schule in Karlsruhe. Braun ist mit einer Französin verheiratet und organisiert seit 24 Jahren einen Schüleraustausch mit einer Partnerschule in Nancy, gute 200 Kilometer von Karlsruhe entfernt. Noch am Wochenende erstellte Braun Arbeitsblätter für seine 12. Klasse und stellte sie der Plattform Lehrer-Online zur Verfügung (siehe Kasten): Textübungen anhand François Hollandes Rede vom Samstag, in der der französische Präsident sein Land und Europa auf den Krieg gegen den IS einschwor. „Der Aktualitätsbezug ist im Bildungsplan erwünscht und gefordert“, sagt Braun, der in Karlsruhe auch Referendare ausbildet.
Empathie entwickeln
Die Vorgaben aus dem Kultusministerium sind nur ein Grund, die Attentate zu behandeln. Der andere ist seine persönliche Verbindung zu Frankreich. Hängt der Unterricht an deutschen Schulen nach dem 13. 11. letztlich davon ab, wie nahe die Attentate der jeweiligen Lehrkraft gehen?
Diesen Eindruck hat Maria Alexopoulou von der Uni Mannheim. Die Historikerin begrüßt, dass LehrerInnen globale Zusammenhänge im Unterricht ansprechen. Sie sieht darin eine Chance, mehr Empathie für Konflikte in anderen Ländern zu entwickeln. Bei der fachlichen Eignung mancher PädagogInnen ist sie skeptisch: „Wer versteht denn wirklich etwas von französischer Einwanderungsgeschichte?“
Vielleicht noch am ehesten die deutsch-französischen Schulen. An der Märkischen Grundschule sind viele Kinder aus Kamerun, Guinea und Kongo. Länder, die mit Frankreichs oder Belgiens Kolonialgeschichte verbunden sind. Gemeinsam mit ihren deutschen und französischen KlassenkameradInnen haben sie bunte Bilder gemalt, die in der Aula ausgestellt sind. Blau-weiß-rot, mit Blumen und Schmetterlingen. Als Vorlage diente der als Peace-Symbol stilisierte Eiffelturm. Auf einem Bild stehen in gekrakelten Lettern die Wörter „paix“ und Frieden – in beiden Sprachen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben