Missbrauchsfall in Lügde: Immer neue Pannen
Weiteres kinderpornografisches Material wurde zufällig entdeckt. Die SPD erneuert ihre Rücktrittsforderung an Innenminister Herbert Reul.
Reul weiß, was ihn erwartet. In und nach der Ausschusssitzung erneuerte der Innenexperte der Sozialdemokraten, Hartmut Ganzke, die Forderung nach dem Rücktritt des 66-Jährigen. Nach einer ganzen Kette von Fehlern der Polizei bei den Ermittlungen zum tausendfachen sexuellen Kindesmissbrauch auf einem Campingplatz im lippischen Lügde habe Reul längst „das Vertrauen der Bevölkerung verloren“, sei die Glaubwürdigkeit des Ministers „erschüttert“. Endlich „liefern“, also für ein erfolgreiches Ende der Untersuchung sorgen, müsse der CDU-Mann, fordert auch Verena Schäffer, parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen.
Denn zumindest politisch ist Reul für einen großen Teil des Behördenversagens verantwortlich, das mindestens 40 Kinder und Jugendliche zu Opfern massiver Gewalt gemacht hat. Über Jahre soll der Hauptverdächtige Andreas V. sie zusammen mit einem Komplizen sexuell missbraucht und dabei gefilmt haben. Die Polizei Lippe hatte schon im Jahr 2002 Hinweise, der mutmaßliche Haupttäter könne sich an einem achtjährigen Mädchen vergangen haben.
2016 wurde der Mann erneut angezeigt. Dennoch wies das Jugendamt im niedersächsischen Bad Pyrmont dem heute 56-Jährigen noch Anfang 2017 ein sechsjähriges Mädchen als Pflegekind zu – Lügde liegt im Weserbergland an der Landesgrenze. Verhaftet wurde Andreas V. erst im Dezember 2018.
Beweise vom Abrissunternehmen gefunden
Es folgte eine Reihe weiterer, kaum vorstellbarer Ermittlungsfehler. Im Februar musste Minister Reul einräumen, dass 155 DVDs mit kinderpornografischem Material aus den Räumen der Polizei Lippe verschwunden sind. Zwar übernahm das Polizeipräsidium im ostwestfälischen Bielefeld, zwar schickte Reuls Innenministerium Sondermittler – doch aufgeklärt ist der Verlust der Beweise bis heute nicht.
Mitte April zeigte der Abriss der vermüllten Behausung des Dauercampers Andreas V. einmal mehr, wie nachlässig die Ermittler seit Dezember gearbeitet hatten: Weitere Datenträger tauchten auf, die irgendwo zwischen Campingwagen und Holzhütten versteckt waren. Gefunden wurden die vom privaten Abrissunternehmer – Polizisten waren bei der Zerstörung des Tatorts nicht vor Ort. „Zur Räumung des Hambacher Forsts schicken Sie Tausende Polizisten in den Wald – aber zur Sicherung des Tatorts für Kindesmissbrauch in NRW schlechthin ist kein Beamter da“, kritisierte der SPD-Abgeordnete Andreas Bialas, selbst Polizist.
Dabei seien zumindest auf einer der beim Abriss „gefundenen CD-ROM kinderpornografische Filme“ gespeichert, musste Reul bei der Innenausschuss-Sondersitzung am Dienstagnachmittag einräumen. Allerdings versuchte der Minister, Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Zeugen zu wecken: „Der Abrissunternehmer will elf VHS-Kassetten, zwei CD-ROMS, zwei Disketten, eine Mini-CD gefunden haben“, sagte er. Gerüchte, der Unternehmer aus Bad Pyrmont stehe der rechtsextremen Reichsbürger-Bewegung nahe, wollte Reul aber nicht ausdrücklich bestätigen: „In Niedersachsen wird er nicht als Reichsbürger geführt“, sagte der Minister.
Dass ein dem Hauptbeschuldigten Andreas V. gehörender Geräteschuppen vier Monate lang von der Polizei übersehen wurde, erklärte Reul dagegen mit einem „Flatterband“, das zu Beginn der Ermittlungen von der Polizei Lippe „falsch gezogen und dann von niemandem hinterfragt wurde“ – auch hier gab es also jede Möglichkeit, Beweise zu vernichten.
Bis heute scheint sich Reul deshalb nicht sicher, ob die mittlerweile auf 79 Beamte aufgestockte Ermittlungskommission „Eichwald“ alle Beweise gesichert hat. In Lügde werden in den kommenden Tagen nochmals alle Camper befragt. Offizielle Begründung: Es solle sichergestellt werden, dass sich auch wirklich jedes Opfer den Ermittlern offenbaren kann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden