Meta ohne Faktencheck: Das Märchen von der „free expression“
Uneingeschränkte Meinungsfreiheit kann es auf sozialen Medien gar nicht geben. Wir müssen diese deshalb jedoch nicht meiden, sondern klüger nutzen.
E s war einmal eine Plattform, die versprach, ein Ort uneingeschränkter Redefreiheit zu sein. So erzählte es Meta-Chef Mark Zuckerberg letzte Woche in einer unheilvollen „Neujahrsansprache“, wie ein Instagram-Kommentator dessen Video treffend klassifizierte. Doch hinter den friedlichen Regenbogen-Flaggen verbarg sich ein „zensierendes“ System aus Algorithmen, das entschied, welche Worte überhaupt sichtbar wurden. Nun aber, so verkündete Zuckerberg, müsse die „free expression“ wiederhergestellt werden!
Auch die Meta-Plattformen sollen künftig X-gleich zu einer Bastion der freien Rede werden. Ob Zuckerberg hier selbstkritisch sprach oder mit vorgehaltener Pistole – darüber lässt sich spekulieren. Doch eines ist klar: Er bedient damit geschickt ein Narrativ, das anhaltend Konjunktur hat: das der unterdrückten Meinungen, die dringend befreit werden müssen.
Der derzeitige Schirmherr dieses Narrativs ist Elon Musk, der X bereits zum selbsternannten Leuchtturm der Meinungsfreiheit umgebaut hat. Auch wenn viele die Plattform daher mittlerweile verlassen haben, floriert X dennoch weiter. Die User sehen sich nämlich durch Musks Rhetorik in ihrem diffusen Gefühl bestätigt, ihre wahren Gedanken sonst nicht mehr äußern zu dürfen.
Dieses Gefühl ist in den sozialen Medien allerdings unvermeidlich. Dafür gibt es viele Gründe. Einer davon: Soziale Medien verstärken soziale Sanktionen – von offener Kritik und Ausgrenzung über Shaming bis hin zu Mobbing. Sichtbarkeit und Reichweite spielen hier eine entscheidende Rolle.
Äußerungen und Handlungen sind einer breiten Öffentlichkeit zugänglich und werden nicht nur von kleinen Gruppen, sondern potenziell von einer globalen Community bewertet. Das erhöht den Druck auf Einzelpersonen erheblich. Ein misslungener oder unbedachter Post kann innerhalb von Stunden massive öffentliche Kritik nach sich ziehen – das, was heute vorschnell als „Cancel Culture“ bezeichnet wird. Manchmal mit positiven, manchmal mit negativen Konsequenzen.
Orchestrierte Bestrafung
Besonders gravierend ist der sogenannte „Pile-on-“ oder Schneeballeffekt: Wird jemand oder etwas öffentlich kritisiert, schließen sich oft viele User der Bestrafung an. Schnell entsteht der Eindruck eines breiten Konsenses – auch wenn dieser objektiv betrachtet gar nicht existiert. In dieser Dynamik fühlt sich paradoxerweise jede Position als bedrohte Minderheit. Dabei ist die vermeintliche Mehrheitsmeinung oft nur ein gut orchestriertes Ensemble Weniger.
Die Mär von der „free expression“ ist also eine schöne Geschichte, aber sie bleibt auch unter Musk und einem Meta ohne Faktencheck und mit weniger Content-Moderation, was sie immer schon war: ein Märchen. Die Vorstellung, dass Plattformen uneingeschränkte Meinungsfreiheit ermöglichen, verkennt ihre Architektur: Algorithmen, Monetarisierung und Marktlogiken schaffen Bedingungen, unter denen jede Rede zur Ware wird: verpackt, kuratiert, verkauft – aber nicht frei. Sie verkennt aber auch, dass soziales Verhalten in einem Umfeld, das Feedback und Reaktionen nicht nur ermöglicht, sondern permanent forciert, nicht reguliert werden kann.
Die eigentliche Frage lautet also nicht, ob es freie Rede im Netz geben kann. Die Frage ist, wer uns diese Märchen erzählt – und warum ausgerechnet jetzt. Während Zuckerberg und Musk von digitaler Befreiung reden, verwandeln sie im Hintergrund weiterhin jede Äußerung in verwertbare Daten. Je wilder die Debatten toben, desto höher die Engagement-Raten. Je polarisierter die User, desto präziser die Algorithmen. Die „free expression“ ist ein trojanisches Pferd – das wir begeistert begrüßen.
Dieser Widerspruch lässt sich wohl nicht auflösen – aber wir sollten ihn im Hinterkopf behalten. Die Mechanismen sozialer Medien zu durchschauen muss nicht bedeuten, sie zu meiden. Es bedeutet, sie klüger zu nutzen. Denn die echte digitale Freiheit liegt darin, nicht alles zu sagen, was man sagen könnte.
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