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Merz-Regierung stoppt FamiliennachzugAngriff auf das demokratische Fundament

Gastkommentar von Cihan Sinanoğlu

Schwarz-Rot will den Familiennachzug für Geflüchtete aussetzen – und greift so tief in das demokratische Selbstverständnis der Bundesrepublik ein.

Eine Familie geht durch die zu einer Massenunterkunft umfunktionierten Messehalle in Frankfurt Foto: Boris Roessler/dpa

I nmitten einer Phase sinkender Asylantrags­zahlen und zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung plant die Bundesregierung einen drastischen Eingriff in das Grundrecht auf Familie: Der Familiennachzug für Hunderttausende subsidiär Schutzberechtigte soll für zwei Jahre ausgesetzt werden. Das Bundeskabinett hat dem bereits zugestimmt. Die Maßnahme trifft nicht nur Menschen – sie greift auch tief in das demokratische Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland ein.

Was hier zur Debatte steht, ist mehr als nur eine migrationspolitische Maßnahme – es ist ein Verlust demokratischer Werte. Denn obwohl der Schutz der Familie als universelles Grundrecht gilt, wird er in der Praxis offenbar nicht für alle gleichermaßen anerkannt. Wer als Geflüchteter nicht dem „richtigen“ Status zugeordnet ist, dessen familiäre Bindungen gelten als weniger schützenswert. Damit wird die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse – ein zentrales demokratisches Versprechen – systematisch untergraben. Es entsteht eine Hierarchie der Rechte.

Cihan Sinanoğlu

ist Sozialwissenschaftler. Seit Oktober 2020 leitet er am DeZIM-Institut die Geschäftsstelle des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors (NaDiRa).

Der Familiennachzug wird so nicht als selbstverständliches Recht behandelt, sondern als migrationspolitische Stellschraube – eine Variable, die je nach Stimmungslage und Belastungs­rhetorik eingeschränkt werden kann. Die Forschung zeigt jedoch, dass familiäre Bindungen die Grundlage für Teilhabe, Sicherheit und Integration bilden. Wer Menschen daran hindert, ihre Kinder oder Part­ne­r*in­nen nachzuholen, erzeugt Unsicherheit, Isolation und Entfremdung. Diese Politik trennt Familien – nicht, weil von ihnen eine konkrete Gefahr ausgeht, sondern weil ihre Zusammenführung gezielt eingeschränkt wird, um Migration zu begrenzen. Damit wird das im Grundgesetz und in internationalen Abkommen verankerte Menschenrecht auf Schutz der Familie dem Vorbehalt migrationspolitischer Steuerung unterworfen.

Menschenrechte als Verhandlungsgegenstand

Wenn Politik beginnt, Menschenrechte zum Verhandlungsgegenstand zu machen, entzieht sie sich nicht nur ihrer ethischen Verantwortung – sie gerät auch in Widerspruch zu den Grundsätzen, auf denen ihre eigene Legitimation beruht. Denn eine Politik, die systematisch in Kauf nimmt, dass Kinder von ihren Eltern getrennt werden, dass Schutzbedürftige in Unsicherheit leben und Teilhabe verhindert wird, bewegt sich an der Grenze zur Aushöhlung des menschenrechtlichen Fundaments. Dabei geht es längst nicht mehr um Sicherheit – sondern um einen schleichenden Verlust eines solidarischen und gerechten Zusammenlebens.

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Möglich wird dieser politische Kurs nur in einem gesellschaftlichen Klima, das Migration zwar als Realität anerkennt, sie jedoch zugleich problematisiert, kontrollieren und möglichst rückgängig machen will. Dieses sich verändernde Klima lässt sich als Abschottung beschreiben: eine Regierungsform, in der der Staat nicht mehr das Leben schützt, sondern sich gegen jene abschirmt, die als fremd, bedrohlich oder unerwünscht gelten.

Der Soziologe Zygmunt Bauman hat in seiner Analyse „Die Angst vor den Anderen“ gezeigt, wie gesellschaftliche Verunsicherung auf „die Fremden“ projiziert wird – nicht, weil sie tatsächlich bedrohlich wären, sondern weil sie das Unbehagen über politische und soziale Versäumnisse sichtbar machen. Diese Verschiebung schafft die Grundlage für eine Politik, die Ängste verstärkt, statt Lösungen zu fördern. Sie wird begleitet von einer gezielten Bedeutungsverschiebung: Migration wird bewusst mit Illegalität, Kriminalität, Islamismus und Terror verknüpft. Hier geschieht eine Diskursverschiebung, die diffuse Ängste in politisch verwertbare Bedrohungsbilder überführt.

Schließlich entsteht ein Szenario, das nicht der Problemlösung dient, sondern der politischen Mobilisierung: Es kanalisiert Unsicherheit, verspricht Kontrolle und vereint die Gesellschaft in einer Abwehrhaltung. Der Blick auf die tatsächlichen Herausforderungen – etwa in den Bereichen Wohnen, Bildung oder Gesundheit – wird dadurch verstellt. Migration wird zur Ursache aller sozialen Probleme erklärt. Diese diskursive Verschiebung entlastet die Politik, belastet jedoch das gesellschaftliche Klima – und blockiert jene institutionellen Reformen, die eine plurale Demokratie eigentlich und dringend bräuchte.

So wird etwa der Wohnungsmangel in Städten nicht als Ergebnis jahrzehntelanger verfehlter sozialer Wohnungsbaupolitik, sondern als Folge zu hoher Zuwanderung umgedeutet. Dabei liegt gerade in der sachlichen, lösungsorientierten und evidenzbasierten Auseinandersetzung mit Migration eine demokratische Chance: Der Druck, Institutionen an die Realität einer vielfältigen Gesellschaft anzupassen, kann zu Reformen öffentlicher Infrastrukturen und Institutionen führen – Reformen, die nicht nur Zugewanderten zugutekommen, sondern der gesamten Gesellschaft.

Eine Politik, die Unsicherheit produziert

Und doch wird derzeit bevorzugt die Abschottungslogik politisch weiter vorangetrieben: Die Bundesregierung setzt den Familiennachzug aus. Was wir brauchen, ist nicht weniger Migration, sondern eine bessere Steuerung, eine gerechte Ressourcenverteilung und den politischen Willen, Teilhabe wirklich zu ermöglichen. Den Familiennachzug auszusetzen, bewirkt das Gegenteil: Es erschwert Integration, weil Menschen ohne ihre Familien kaum im Alltag ankommen, keine langfristige Perspektive entwickeln und auf dem Arbeitsmarkt kaum Fuß fassen können. Noch dazu schwächt die familiäre Trennung die psychische Gesundheit. Und wenn legale Wege blockiert werden, bleibt vielen nur der unsichere Weg der irregulären Migration. So produziert diese Politik Unsicherheit – gerade dort, wo sie vorgibt, für Ordnung zu sorgen.

Deutschland hat sich nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ein Fundament gegeben, das Menschenwürde, Schutzverantwortung und Rechtsstaatlichkeit ins Zentrum rückt. Wer heute beginnt, familiäre Bindungen politisch zu suspendieren, stellt dieses Fundament infrage.

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9 Kommentare

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  • Es handelt sich hier um Personen, die subsidiären Schutz-Status geniessen und da gab es schon immer bestimmte Einschränkungen bezüglich des Familiennachzugs.

  • Eine Argumentation auf der Basis der Menschenrechte oder eventuell noch des Rechtsstaats hätte ich eventuell nachvollziehen können.



    Bei über 20% für die AfD bei der Bundestagswahl und über 30% bei einzelnen Landtagswahlen erscheint mir eine Argumentation auf Basis der Demokratie abenteuerlich.

  • Die aussetzung des familiennachzugs für 2 jahre soll also ein angriff auf demokratische werte sein.



    Ist wohl ansichtssache.

    • @Hannes Petersen:

      ...und korrekt! Demokratie bedeutet, dass alle die gleichen Rechte haben - ganz einfach.

      • @Perkele:

        Ähh. Ja ok.



        Hab in der schule auch mal was von herrschaft des volkes gelernt. Wär dann ja ma spannend zu wissen, wie der rest das sieht. Hehe

  • In Syrien herrscht kein Krieg mehr, die Familien subsidiär geschützter Migranten leben oft in der Türkei oder dem Libanon oder Ländern wie Bulgarien.



    Auch dort kann die Familienzusammenführung stattfinden - es muss nicht immer Deutschland sein.

  • Für CDU, CSU und SPD zählt nur Macht. Daher laufen sie auch dem nach rechts gewendeten rechtsradikalen Zeitgeist hinterher. Menschenrechte zählen da so gut wie gar nichts.

  • Sie haben das richtig verstanden. Migration soll begrenzt werden.

    Ein Anspruch auf Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten besteht nicht.

    Unser Herz war weit, doch unsere Mittel sind endlich.

    Sonst wirds auch bei uns brenzlich mit der Demokratie.

  • Angriffe auf das demokratische Fundament sind vielen in den "großen" Parteien vollkommen gleichgültig, solange sie ihre Macht erhalten oder erreichen können. Das allein zählt, vielleicht auch noch die Pfründe die damit zusammenhängen, alles andere ist Pillepalle, romantisches Geschwätz einiger Träumer. Nein, es ist nicht meine Politikverdrossenheit - es ist real zu betrachten und ich kämpfe weiter.