Menschenrechte unter Wladimir Putin: Geschacher im Gulag
In Russland zahlen die Familien von Häftlingen dafür, dass die Gefängniswärter ihre Verwandten am Leben lassen. Und sie weniger foltern.
Der Film „Die Sanfte“ des ukrainischen Regisseurs Sergei Loznitsa könnte irgendwo im postsowjetischen Raum spielen, aber die russischen RezensentInnen dachten bei der diesjährigen Premiere in Cannes sofort an Russland. Eine abgehärmte junge Frau schaut aus kühlen, braunen Augen an ihren Mitmenschen vorbei und bewegt sich durch grüngräuliche Räume. Aus einem Postschalterfensterchen knallt eine Beamtin ein Paket vor sie hin – als unzustellbar wieder zurückgekommen. Das hatte die Protagonistin ihrem Mann ins Gefängnis geschickt. „Weshalb sitzt er?“, fragt sie dann ein Nachbar. „Wegen Mordes.“ „Und wen hat er umgebracht?“ Antwort: „Niemanden.“
Sie begibt sich auf die Odyssee durch das ganze riesige Russland bis in eine Kleinstadt voller Häuser mit Säulchen und Statuen. „Das Gefängnis ist für uns wie Gold“, erklärt ihr der joviale Taxifahrer dort: „Der Hauptarbeitgeber im Ort, unsere Volkswirtschaft!“ Über ihren Mann wird ihr auch dort grob jede Auskunft verweigert. Aber allerhand Leute wollen ihr weiterhelfen – und erwarten irgendetwas von ihr.
„Eine Parabel“, meinten viele KritikerInnen. Aber wer die Russische Föderation kennt, der weiß – ausgenommen von ein paar Traumsequenzen am Ende –, dieser Film zeigt nur die Realität. Und anders als Kafkas Held Josef K. fragt sich da kein Unschuldiger, warum man ihn einbuchtet. Alle wissen: des Geldes wegen.
Exhäftlinge und ihre Verwandten gründeten in der Russischen Föderation vor einigen Jahren eine Stiftung namens „Rus Sidjaschtschaja“, zu Deutsch: Russland hinter Gittern. Sie hilft ihresgleichen materiell und mit Informationen. Zurzeit betreibt sie ein größeres Büro in Moskau und drei kleinere in Jaroslawl, Nowosibirsk und St. Petersburg. Dort arbeiten auch Juristen und Finanzfachleute. Die Redaktion ihres Newsletters erhielt in diesem Sommer folgende Anfrage per Mail: „Mein Sohn Alexander wurde 2014 nach § 161 Absatz 2 (Diebstahl) zu 6 Jahren verurteilt. Seit August vergangenen Jahres hat man begonnen, ihn um Geld zu erpressen. Wir haben ihm welches geschickt und haben jetzt keins mehr. Er wird dort misshandelt. Was können wir tun?“ Später reichten die Eltern Details nach.
Ihren 20-jährigen Sohn hatte man im Oktober 2014 verhaftet. Er habe das Verbrechen nicht begangen, schreiben sie. Weiter heißt es: „Die Ermittler verlangten von uns 300.000 Rubel, wir weigerten uns, weil wir meinten, die verurteilen ihn doch nie. Daraufhin stützte sich die Untersuchungsbehörde auf einen anonymen „Zeugen“. Das für das Umland der Stadt Krasnodar zuständige Kreisgericht fällte im April 2016 das Urteil: 6 Jahre Straflager. Das Appellationsgericht beließ das Urteil in Kraft. Aber nicht ohne vorher von uns nun schon 600.000 Rubel verlangt zu haben. Dafür hätten sie ihn angeblich – unter Anrechnung der Untersuchungshaft – bloß noch zwei Jahre absitzen lassen.“
Das mittlere russische Einkommen belief sich im Jahr 2016 auf monatlich 31.485 Rubel – nach dem damaligen Kurs 431 Euro.
Nachdem der Sohn schon länger der Freiheit beraubt war, wurden seine Nächsten weich und zahlten. Anfangs auf verschiedene Konten von Mitgefangenen. Später meldete sich ein Major aus der Lagerverwaltung, der eine vorzeitige Entlassung wegen guter Führung versprach, und dafür im Laufe von zwei Jahren in drei Etappen insgesamt 800.000 Rubel für „Ausfertigung von Dokumenten“ kassierte. Danach folgte wirklich eine Entlassung: Der Major entließ sich selbst und verschwand spurlos.
Mail von Eltern eines Häftlings
Die Wirtschaftsjournalistin Olga Romanowa, 52, ist Gründerin und Leiterin der Stiftung „Russland hinter Gittern“, an die sich diese Eltern um Hilfe wandten – so wie jährlich rund 3.000 Familien anderer Häftlinge. Von denen, schätzt sie, ist beinahe ein Drittel zu Unrecht verurteilt. Sie sagt: „Jeder Mensch in der Russischen Föderation kann jederzeit in einem Straflager verschwinden, gleich, ob er etwas verbrochen hat oder nicht. Und alle wissen das.“
Freisprüche gibt es kaum
Heute lehnt sie sich in ihrem Sessel in einem Straßencafé in der Berliner Kantstraße zurück, nippt in der Hitze an einer Apfelschorle. Nur manchmal verrät ein zusätzlicher schneller Wimpernschlag ihre innere Anspannung. Die Behörden in Moskau durchsuchten vor einem Jahr das Büro ihrer Organisation und drohten ihr, sie zu verhaften – wegen Veruntreuung staatlicher Mittel. Solche hat „Russland hinter Gittern“ aber nie erhalten.
Doch die Freispruchrate in Russland beträgt nur 0,2 Prozent. Romanowa sagt: „Einmal vor Gericht gestellt, ist man dort so gut wie verurteilt.“ Fast seit einem Jahr lebt sie deshalb schon in Deutschland und arbeitet für den alternativen russischen Fernsehsender RTVD – OstWest. Sie genießt es, hier unter freiem Himmel herumzuspazieren oder Rad zu fahren. In Moskau fühlte sie sich nicht mehr sicher.
Weil sie vermuten, dass bei Geschäftsleute etwas zu holen ist, versuchen Richter, Staatsanwälte, Ermittler und Strafvollzugsbeamte vor allem aus diesen etwas herauszuschinden. Besonders oft nehmen sie sich junge Männer vor, deren Geschäft gerade zu florieren beginnt. Ein Manager aus der Umgebung des nach 10 Jahren aus dem Lager entlassenen Exoligarchen und späteren Oppositionellen Michail Chodorkowski sagte kürzlich: Ein Unternehmer, der in Russland nicht einsitzt, der kann gewöhnlich dafür zahlen.
Wie viele Unternehmer in Russland ihrer Freiheit beraubt wurden, bloß um ihren Besitz zu beschlagnahmen und ihre Familien zu erpressen, kann Olga Romanowa nur schätzen: „Vielleicht an die 100.000 Menschen von den aktuell 592.467 Häftlingen.“ Insgesamt sitzen 411 Leute auf je 100.000 EinwohnerInnen ein. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 76 Menschen.
Flucht nach Deutschland
Unter den Flüchtlingen, die seit einem Jahr in Deutschland vermehrt aus der Russischen Föderation eintreffen, befinden sich Exmitglieder von Kommissionen Gesellschaftlicher Beobachter für das Gefängnis- und Lagersystem. Diesen Leuten verdanken wir die Erkenntnis, dass in der gesamten Russischen Föderation Angehörige des Föderalen Dienstes für Strafvollzug (FSIN) Familien und Geschäftspartner der Insassen erpressen. Meist erhalten bestimmte, der Anstaltsleitung nahestehende Häftlinge dafür Privilegien, dass sie bei den restlichen diese Gelder „eintreiben“.
Zu den illegalen Einnahmen der höheren FSIN-Chargen gehören außerdem unterschlagene Gewinne der Gefängnis- und Lagerwerkstätten. Auch zwingt man die Angehörigen der Häftlinge fast überall, für Renovierungen in den Anstalten zu zahlen. Die dafür vorgesehenen staatlichen Mittel steckt die Anstaltsleitung in die eigene Tasche. „Es gibt auch einige relativ ehrliche Gefängnisdirektoren“, schreibt Romanowa in einer Expertise für das Carnegie Center Moskau. „Aber deren Identität darf man nicht aufdecken, weil der Leiter einer Einrichtung des Strafvollzugs, den man öffentlich in einem günstigen Licht erwähnt, ernsthaft Schwierigkeiten bekommen kann.“ Beschwerden von Häftlingen an allerlei übergeordnete – und Kontrollinstanzen bezeichnet sie als „völlig sinnlos“.
Olga Romanowa führt jetzt von Berlin aus jeden Morgen eine Internetkonferenz mit ihrer Organisation in Russland durch. Vorläufig dort geblieben, und zwar in der Stadt Perm im Ural, ist ihr alter Bekannter Aleksey Sokolov, 41. Sokolov bildet dort zusammen mit vier anderen EnthusiastInnen die kleine Menschenrechtsgruppe „Prawowaja Osnowa“, zu Deutsch: „Rechtsbasis“.
Per Skype gibt er Auskunft aus ihrem schlicht, aber modern eingerichteten Büro mit hellgrünen und lila Wänden. „Um die Gefängnisse herum sind bei uns kleine Städte gewachsen“, erzählt er: „Da gibt es ganze Gefängsniswärter- oder -wärterinnendynastien, bei denen schon der Großvater Aufseher war. Dort gehen die FSIN-Angestellten schon mal zusammen mit den Vertretern der Staatsanwaltschaft in die Sauna.“
Sokolow hatte seit 2009 ein Mandat in einer der damals gegründeten Kommissionen gesellschaftlicher Beobachter. Aus Rache für seine menschenrechtliche Tätigkeit wurde er, Vater eines Sohns und einer Tochter, zweimal zu längerer Lagerhaft verurteilt. Nach seiner ersten Verhaftung schlug man ihn zehn Tage lang fast ununterbrochen. Im zweiten Prozess beschuldigten ihn drei Häftlinge, bei einem Diebstahl beteiligt gewesen zu sein, wobei jeder der drei die Rolle Sokolows völlig anders schilderte.
„Seither weiß ich, dass man bei uns jede und jeden mit Hilfe von Aussagen verurteilen kann, die man aus Häftlingen herausprügelt“, sagt er: „Und die, die hinter Stacheldraht arbeiten, dürfen Gefangene schlagen, aushungern, töten – ohne rechtliche Konsequenzen.“ Dass staatliche Institutionen diese Verbrechen decken, daran zweifelt er nicht: „Wir haben der Staatsanwaltschaft allerhand Kreditkartenkonten genannt, auf welche Verwandte von Häftlingen Geld überweisen mussten. Wir bekamen jedes Mal die Auskunft: „Solch ein Konto existiert nicht.“
Aleksey Sokolov hielt durch, weil ihm viele Menschen in Russland ihre Solidarität bekundeten. Überraschen kann ihn fast nichts mehr. Aber er erschrak doch, als er in einem der Lager die Leichen von durch Folter fürchterlich zerfleischten Insassen fand. Bevor er 2009 das zweite Mal ins Gefängnis gesteckt wurde, hatte er ein Video ins Netz gestellt, auf dem FSIN-Mitarbeiter Häftlinge verprügeln und mit Tritten traktieren. Die Kassette hatte ihm ein ehemaliger FSIN-Mitarbeiter übergeben.
Nicht alle WärterInnen sind korrupt
Es gibt also auch in diesen Strukturen Leute mit Unrechtsbewusstsein. Doch in der Russischen Föderation haben ehrliche Rechtshüter es schwer. Nach ihren Ermittlungen gegen einen russischen Mafiaboss in den Jahren 2006 bis 20018 stellte die spanische Polizei dessen Telefonprotokolle ins Netz. Darin tauschte dieser sich 79-mal mit dem damaligen Vizechef der russischen Antidrogenbehörde aus, einem früheren KGB-Kollegen Wladimir Putins. Ihr Thema war unter anderem die Verhaftung russischer Polizisten, die seine Leute bei ihren Geschäften störten.
Die Erkenntnisse von Russland hinter Gittern und der Komissionen gesellschaftlicher Beobachter zeigen: Von „Rechtsschutzorganen“ kann in der Russischen Föderation nicht mehr die Rede sein. Dies schadet der gesamten Bevölkerung Russlands, hält die Wirtschaft des Landes auf den Knieen, nützt aber dem Machterhalt der Herrschenden. Die nicht enden wollenden Geldforderungen an Familienangehörige von Häftlingen wirken wie Transmissionsriemen, die den Terror aus dem Inneren der Gefängnisse in die Gesellschaft tragen. Darüber denkt Aleksei Ossadchii (31) nach.
Im Mai 2017 demonstrierte der große, schlanke, blonde Mann mit estnischen Vorfahren vor dem russischen Konsulat in Bonn gegen Korruption. Noch heute weiß er, wie er sich gefreut hat, als ihn deutsche Polizisten vor dem wütenden Konsulatswachmann beschützten.
Ossadchii war in den Jahren 2009 und 2010 Angehöriger einer Beobachterkommission in der Provinz um Jekaterinburg. Er glaubt, dass er dort vielen Menschen helfen konnte. Als ihm der stellvertretende Chef eines örtlichen Straflagers vor Zeugen auf offener Straße mit dem Tode droht, entschließt er sich zu fliehen. Der Beamte wurde bald darauf befördert.
Ossadchii hatte sich bereits vorbeugend einen estnischen Pass besorgt, packte seine Frau und seine beiden Töchter im Vorschulalter in den Familienwagen und fuhr zur estnischen Grenze. Dort ließen ihn die Russen nicht durch. Nach einigen Stunden fürchtete er das Schlimmste, riss das Steuer herum und raste diesmal gen Finnland. Heute lebt er mit seiner Familie in Mönchengladbach und arbeitet in einer Exportfirma.
Er meint, dass die Menschen im Westen den Mut der BürgerInnen Russlands unterschätzen: „Wenn bei uns zu Hause einige Zehntausende oder Hunderttausende auf der Straße protestieren, dann ist das vielleicht im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung wenig, aber es hat ein viel höheres politisches Gewicht. Und dann sagt er einen in Russland oft zu hörenden Satz: „Wenn ihr auf eine Demo geht, könnt ihr euch für hinterher in der Kneipe verabreden. Aber wenn bei uns jemand öffentlich protestiert, muss er damit rechnen, dass am Abend nicht nur sein eigenes Schicksal verhunzt ist, sondern auch das seiner Nächsten“.
Der Westen unterschätzt den Mut in Russland
Olga Romanowa, die Leiterin der Selbsthilfeorganisation Russland hinter Gittern, sucht nach geschichtlichen Zusammenhängen: „Zu den vielen Dingen, die Deutschland und Russland gemeinsam haben, gehört die schreckliche Geschichte ihrer sogenannten Arbeitslager. In Westdeutschland wurden sie nach dem Zweiten Weltkrieg liquidiert, in der DDR setzte sich diese Geschichte erst mal fort.“
Auf all ihren Reisen besucht Romanowa jetzt Gefängnisse und entsprechende Gedenkstätten: „Wenn ich die Folterkammern in der Gedenkstätte für die Verbrechen der Staatssicherheit in Hohenschönhausen sehe, erkenne ich darin die Gefängnisse in der Russischen Föderation wieder. Nur bei uns sind sie noch in Betrieb! Ich würde gern den Weg begreifen, auf dem Deutschland diese Lager ganz los wurde.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge