Medienstrategie der Hamas: Alles nach Drehbuch
Die Terrororganisation Hamas verbreitet dramatisch bearbeitete Aufnahmen der jüngst ermordeten Geiseln. Das ist Teil ihrer Kriegsführung.

Die Meldung, dass die Hamas sechs israelische Geiseln mit Kopfschüssen hingerichtet hatte, war gerade ein Tag alt, als die Terrororganisation am 2. September ein Video veröffentlichte, das wie ein Trailer für einen Thriller-Film wirken soll: Hersh Goldberg-Polin, Carmel Gat, Almog Sarussi, Ori Danino, Eden Yerushalmi und Alexander Lobanov, die am 7. Oktober nach Gaza verschleppt wurden, bestätigen im kurzen Clip ihre Identitäten. Und dann endet das Video mit einem Cliffhanger-Text auf Hebräisch, Englisch und Arabisch: Die letzten Worte der sechs Ermordeten werde die islamistische Terrororganisation in den kommenden Stunden zeigen.
Die Produktion des Videos, das auf Hamas-nahen Telegram-Kanälen kursiert, ist auffällig: Die schwarz-weißen Aufnahmen sind mit visuellen Effekten bearbeitet, vertont wird das Video von dramatischen Moll-Akkorden aus Synthesizer und Geigern, die eher an Hollywood als an islamistische Propaganda erinnern.
Es ist der jüngste Versuch der Hamas, den Israel-Gaza-Krieg medial zu beeinflussen. Eine Strategie, die schon am 7. Oktober begann: Als schwerbewaffnete Terroristen durch die Kibbuzim des Südens wüteten und ein Blutbad an dem Nova-Festival anrichteten, hatten sie GoPros und andere Kameras dabei.
Viele der Videos vom 7. Oktober nehmen die Perspektive der Schützen ein, wie in einem Ego-Shooter-Spiel. Die Terroristen richteten wehrlose Zivilist*innen aus nächster Nähe hin, enthaupteten sie sogar – und filmten dabei ihre Taten. In einem Video wiederholt der Täter einen Mord für die Kamera, weil er mit dem Ergebnis unzufrieden wirkt, als sei er der Regisseur eines Kinofilmes.
Bilder des Grauens
„Terror braucht Bilder“, sagt der Filmwissenschaftler Tobias Ebbrecht-Hartmann von der Hebräischen Universität in Jerusalem der taz. Er forscht in letzter Zeit auch zu Social-Media-Videos über den Krieg in Gaza.
„Die Aufnahmen vom 7. Oktober sollten eine Botschaft an Israelis senden – nämlich dass Israel nicht sicher sei und die lange angekündigte Vernichtung tatsächlich auch passieren könne.“ Ebbrecht-Hartmann sieht darin eine terroristische Dramaturgie: „Mit dem Angriff hat die Hamas im Prinzip ein Drehbuch vorgegeben, dessen Handlung bis jetzt weitergeht.“ Die Videos seien Teil der Kriegsführung und sollen bestimmte Reaktionen provozieren, so Ebbrecht-Hartmann. Die Hamas könne so eine weltweite Öffentlichkeit aktivieren. „Diese Bilder des Grauens konnten sich in den sozialen Medien rasant verbreiten und stilisieren die Terroristen als Widerstandskämpfer.“ Auf Telegram finden die Aufnahmen ein Millionenpublikum.
„Von Anfang an, seit dem 7. Oktober, waren solche Videos ein ganz gezielter Teil der militärischen Strategie der Hamas“, erklärt Hans-Jakob Schindler der taz. Seit Jahren beschäftigt er sich mit islamistischen Terrororganisationen: Von 2014 bis 2018 war er Koordinator des Monitoring-Teams des UN-Sicherheitsrates zu Isis, al-Qaida und der Taliban, heute ist er Senior Director bei der NGO Counter Extremism Project.
„Die Hamas wusste, dass ihre militärischen Kräfte gegen die israelische Armee niemals ausreichen würden, deshalb setzt sie auch auf die Macht der Bilder“, sagt Schindler. Und zwar nicht nur von ihrem Angriff auf Israel, sondern auch von der Zerstörung Gazas und dem Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung, hinter der sich die Hamas verschanzt. Es ist eine psychologische Kriegsführung, die einerseits politischen Druck auf die Netanjahu-Regierung setzen, andererseits auch Angst unter israelischen Zivilist*innen schüren soll. „Diese Propagandabilder sagen aber auch: Wir sind mächtig und effektiv“, so Schindler weiter.
Feinde markieren
Das zeigen etwa professionell geschnittene Hamas-Videos mit dem berüchtigten roten Dreieck, das israelische Soldaten, Stellungen oder Panzer als Angriffsziele markiert – was ebenfalls an Shooter-Spiele erinnert. Die Reichweite dieser Propaganda-Clips ist enorm: Das Symbol wird inzwischen von propalästinensischen Aktivist*innen weltweit verwendet, um Feinde zu markieren. Es wird an Hausfassaden gesprüht oder zu Fotos von Personen in den sozialen Medien hinzugefügt.
Neu ist diese Medienstrategie nicht. „Schon 2014 hat Isis extrem professionelle Videos von ihren Kampfhandlungen in Irak und Syrien produziert, die nachempfunden von Ego-Shooter-Spielen in Szene gesetzt wurden“, erklärt der Terrorexperte Schindler. Eine Art der Propaganda, die mittlerweile auch von Rechtsterroristen von Christchurch bis Halle verwendet wird. Bei der Isis kamen die inzwischen notorischen Videos von Geisel-Enthauptungen hinzu, die vor allem erschrecken sollen.
Die Geisel-Videos der Hamas sorgen derzeit international für viel Aufmerksamkeit, haben aber ein anderes Ziel als die von Isis. Im April veröffentlichte die Terrororganisation eines von Hersh Goldberg-Polin, der vom Nova-Festival entführt wurde. Goldberg-Polins Schicksal war weltweit bekannt, für die Hamas war er ein wertvolles Faustpfand. Im Video ist sein Kopf rasiert, sein linker Arm wurde in Geiselhaft amputiert, nachdem ein Terrorist ihn mit einer Granate verletzt hatte. Auch dieses Video ist mit einer melancholischen Klaviermelodie unterlegt, die emotionalisieren soll. Es ist Lebenszeichen und Druckmittel zugleich.
Am 1. September gab Goldberg-Polins Familie bekannt, dass Hersh zu den sechs ermordeten Geiseln gehört, die tot in einem Tunnel unter Rafah gefunden wurden. Die Hamas richtete sie hin, kurz bevor die israelische Armee sie erreichen konnte.
Namen mit rotem Stift eingekreist
Medial setzt die Hamas diesen Terror nun fort. Und mit den neusten Geisel-Videos, versehen mit arabischen und englischen Untertiteln, will sie Israel erneut unter Druck setzen. Noch am selben Abend des „Trailers“ vom 2. September veröffentlichte die Terrororganisation das erste der versprochenen Videos mit den „letzten Worten“ der 24-jährigen Eden Yerushalmi, ebenfalls vom Nova-Festival entführt.
Yerushalmi fordert den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu auf Hebräisch auf, mit der Hamas zu einem Deal zu kommen: „Tun Sie, was notwendig ist, um uns jetzt zu befreien“, sagt sie mit Wut in die Kamera und macht Israel alleine für die Situation der Geiseln schuldig. „Ich leide, wir leiden alle.“ In Texteinblendungen betont die Hamas, dass sie weitere Geiseln ermorden werde, sollte die israelische Armee versuchen, sie zu befreien.
Am 3. September folgte ein Video von Ori Danino, am 4. Videos von Carmel Gat und Alexander Lebanov und am 5. September eines von Goldberg-Polin. Wann sie allerdings aufgenommen wurden, ist unbekannt: Gat gibt ihr Alter mit 39 an, obwohl sie im Mai 40 wurde. Wieder spielt die Ästhetik dabei eine wichtige Rolle: Zu Beginn werden Fotos der Geiseln mit einer Akten-Optik eingeblendet, ihre Namen werden mit rotem Stift eingekreist. Der Soundtrack: düstere Synthesizer-Töne und martialische Trommelschläge. Und zum Schluss: eine Sanduhr-Grafik und die Worte „Die Zeit läuft“.
„Die thrillerartige Musik und der Produktionsstil sollen ein Gefühl der Dringlichkeit und Spannung vermitteln“, sagt Matthew Levitt, Leiter des Counterterrorismus-Programms am proisraelischen Washington Institute, der taz. „Es soll implizieren, dass Israel jetzt handeln muss, da sonst die verbleibenden Geiseln nicht überleben werden.“ Das Ziel: weltweite Proteste gegen Israel anzustacheln und so den Druck von Europa, Katar und Ägypten zu erhöhen, so Levitt. Ein Plan, der teilweise aufgeht.
Weltweit online
Die Videos wurden alleine auf Telegram innerhalb weniger Stunden Hunderttausende Male angeschaut, viele User hinterließen Feuer- oder Herz-Emojis unter den Beiträgen. Die Botschaften der Geiseln wurden offensichtlich unter Zwang vorgelesen. Nicht nur Geiselnahme ist nach Völkerrecht illegal, Expert*innen für internationales Recht kommen zu dem Schluss, dass auch die Erstellung solcher Videos ein Kriegsverbrechen darstellen könnte, berichtet die New York Times.
Die Medienstrategie der Hamas stellt Social-Media-Plattformen vor Herausforderungen. Hans-Jakob Schindler vom Counter Extremism Project kritisiert, dass alle Plattformen, vor allem aber Telegram und X (ehemals Twitter), zu wenig machen, um islamistischen Terrorismus zu bekämpfen und entsprechende Inhalte schnell wieder herunterzunehmen.
Telegram hat inzwischen einige offizielle Kanäle der Hamas in manchen Ländern gesperrt, etliche Hamas-nahe Kanäle sind allerdings weiterhin weltweit online. Und ein Blick auf X zeigt zahlreiche reichweitenstarke Accounts, die Hamas-Propaganda teilen.
Auch Nachrichtenorganisationen befinden sich in einer Zwickmühle, ob sie solche Videos zeigen sollen oder nicht. „Die Videos sind wertvolle Dokumentationsquellen“, sagt Schindler. „Aber diese Propaganda weiterzuverbreiten spielt in die Hände der Hamas.“
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Wahlverhalten junger Menschen
Misstrauensvotum gegen die Alten
Polarisierung im Wahlkampf
„Gut“ und „böse“ sind frei erfunden
Donald Trump zu Ukraine
Trump bezeichnet Selenskyj als Diktator
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Berlinale-Rückblick
Verleugnung der Gegenwart