Medien und Krieg in Nahost: Die große Syrien-Schlamperei
Einige Syrien-Reporter verzerren nicht nur absichtlich das Bild. Manch ein renommierter Nahost-Experte arbeitet auch mit unlauteren Quellen.
Die Lichter gehen aus in Syrien. Peter Kassig ist das jüngste Opfer, das der Dunkelheit erlag. Für den „Islamischen Staat“ (IS) ist Mord, zumal an Westlern, ein politischer Akt, der gleichzeitig die internationale mediale Aufmerksamkeit sichert. Auf diese Weise erzwingt der IS Aufmerksamkeit.
Doch der IS ist nicht die einzige Macht, die in Syrien Journalisten und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen ermordet: Das Assad-Regime tut das bereits seit deutlich längerer Zeit. Jahre bevor hier je etwas vom IS bekannt war, tötete das Regime Marie Colvin von der Sunday Times gemeinsam mit dem Fotografen Rémi Ochlik, indem es die Artillerie in das Viertel Baba Amr in Homs schickte. Einen Monat zuvor hatte es Gilles Jacquier von France 2 ermorden lassen.
Von Anfang an hat Damaskus versucht, die Kontrolle über die Berichterstattung zu behalten, indem es die Arbeit für ausländische Journalisten lebensgefährlich machte – außer sie waren „eingebettet“. Einige wenige gefährdeten dennoch ihr Leben, andere nutzten Skype, Youtube oder Twitter, um Material für Berichte zu sammeln. Wieder andere ignorierten die besonderen Umstände und hielten sich an orts- und zeitunabhängige Ideologien. Je weniger Journalisten nach Syrien reisten, desto stärker dominierten die Klischees die westliche Berichterstattung.
Im Journalismus gilt allgemein das Ziel, objektiv zu berichten. Das verlangt Fairness, Überparteilichkeit und Ausgeglichenheit. Doch so nützlich Ausgeglichenheit in der Regel ist: Herrscht eine starke Ungleichheit der Akteure vor, kann eine erzwungene Balance das Bild verzerren.
In Sachen Syrien hört man oft, dass „beide Seiten“ des Konflikts gleichermaßen schlecht wären. Aber diese beiden gleichermaßen böse Seiten existieren nicht. Denn ein Staat mit seinem Apparat, seinen Hierarchien und Kommandoketten steht hier einer diffusen, dezentralisierten Organisation der Rebellen gegenüber.
ist Soziologe und Dozent für digitalen Journalismus an der Universität Stirling in Großbritannien. Im August 2014 erschien von ihm: „The Road to Iraq: The Making of a Neoconservative War“ (Edinburgh University Press). Außerdem schreibt er regelmäßig über den Nahen und Mittleren Osten für al-Dschasira, The Atlantic, The New Republic, The National, LA Review of Books, Guernica und Vice News. Er ist Mitherausgeber von Pulsemedia.org.
Verbrechen, die ein Staat begeht, spiegeln stets eine politische Strategie wider, indessen es sich auf Seiten dezentraler Organisationen um Verbrechen einzelner Gruppierungen oder Individuen handelt. Das entschuldigt sie nicht – aber ein falscher Begriff von Balance läuft Gefahr, die Proportionen aus dem Blick zu verlieren.
Assad als Gegner des westlichen Imperialismus
Am 11. September 2013 kam der Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrats, Paulo Sérgio Pinheiro, zu dem Schluss, dass bis August 2013 das Regime mindestens acht große Massaker verübt habe; die Rebellen seien für eines verantwortlich. Auch der Siegeszug und die extreme Brutalität des IS hat dieses Verhältnis nicht grundlegend geändert. Das überrascht nicht, denn das Regime verfügt über Luftwaffe, Panzer und schwere Artillerie plus Raketen und zögert nicht, sie gegen die Bevölkerung einzusetzen.
Doch so offensichtlich monströs die Handlungen des Regimes auch sind, es ist ihm stets gelungen, Journalisten zu finden, die Zweifel säen. Sie sehen im Regime einen Gegner des westlichen Imperialismus und des islamistischen Fundamentalismus. Assad führe keinen Krieg gegen die syrische Bevölkerung, wird uns glauben gemacht, sondern gegen Anhänger einer imperialistischen Kraft, die versuchen, ihn als Teil der „Achse des Widerstands“ zu brechen.
Auch altgediente Journalisten wie Charles Glass begreifen (in der NY Revue of Books) Assad als Underdog und gewinnen einer vom Regime verübten Giftgasattacke etwas Positives ab:
„Die Einführung von chemischen Waffen, die mutmaßlich nicht allein vom Regime, sondern auch von den Rebellen eingesetzt wurden, war nur die dramatischste Eskalation in einem Kampf, in dem beide Gegner versuchen, den anderen auszulöschen.“
Nach der eleganten Formulierung „Einführung“ verfällt Glass in den passiven Gestus „mutmaßlich“ und weicht der Klärung aus, wer den Rebellen die Verwendung nachgesagt hat. Die UNO und OPCW waren es mutmaßlich nicht. Das Regime vielleicht?
Doch es kommt noch schlimmer:
Als Nächstes erzählt uns Glass, dass die Giftgasattacke „unerwartet zur Hoffnung auf einen Ausweg geführt hat“. Denn die Russen drängten nun darauf, dass Assad sein Arsenal chemischer Waffen aufgäbe. Glass lobt die Russen, die „Präsident Assad“ nach Genf gebracht hätten, und kritisiert die USA, die nur langsam Einfluss auf die Rebellen nähmen. Der Einsatz der Giftgaswaffen ist ihm also Anlass zur Hoffnung, indessen die USA die eigentlichen Aggressoren sind.
Der gutgläubige Robert Fisk
Übertroffen wird Glass vom Auslandskorrespondenten des Independent Robert Fisk. Der hat sich vom Regime einbetten lassen und berichtete kurz nach den Anschlägen, „dass nun Informationen in der Stadt kursierten, die von den Russen gestützt und von einem Ex-Offizier der Spezialeinheiten bekräftigt werden, die mit der 4. Division der Syrischen Armee zusammenarbeitet.“ Der Ex-Offizier gelte als „eine verlässliche Quelle“ (bei wem?). Diese „verlässliche Quelle“ nun sage ihm, dass die Rebellen verantwortlich seien.
Fisks Gutgläubigkeit korrespondiert mit seiner Ethik. Im August 2012, nach dem Massaker von Daraja, dem nach Schätzung mehr als 500 Menschen zum Opfer fielen, fuhr er in einem bewaffneten Transporter der Syrischen Armee in die Stadt, um Überlebende zu interviewen. Er kam zu dem Schluss, „dass eher bewaffnete Aufständische als syrische Truppen“ für das Massaker verantwortlich seien.
Human Rights Watch kam zu anderen Ergebnissen. Und als die vielfach ausgezeichnete Kriegsreporterin Janine di Giovanni die Stadt ohne Armeebegleitung besuchte, erhielt sie detaillierte Angaben zum Hergang des Massakers – das entweder von Uniformierten oder regimetreuen Milizen verübt worden ist. Ihr Bericht erschien im Guardian.
Cockburns flexible Fakten
Auch Patrick Cockburn, ein Kollege von Fisk beim Independent, ist vielfacher Preisträger. Er berichtet seit 1979 aus dem Nahen Osten. Sein Buch „The Jihadi’s Return“ (2014) erfreut sich eines großen Erfolgs. Für Cockburn hat der IS wenig mit dem Regime zu tun, sondern ist ein Seitenprodukt des Westens und der mit ihm verbündeten Golfstaaten, die den Aufstand gegen Assad unterstützen.
Er findet es absurd, dass der Westen die irakische Regierung gegen den IS unterstütze und gleichzeitig das Assad-Regime schwächen wolle. Die Freie Syrische Armee sei ein Komplize des IS, wie ihm ein Offizier des Nachrichtendienstes „eines syrischen Nachbarlandes“ versichert habe. (Seine beliebteste Quelle ist der mit Assad verbündete irakische Nachrichtendienst).
Doch Cockburns Problem sind nicht nur seine Quellen. Wie auch Fisk nimmt er sich gewisse Freiheiten bei den Fakten. Auf Seite 76 seines Buches schreibt er: „Ich sah JAN-Kräfte (Jabhat al-Nusra), wie sie einen Häuserkomplex durch ein Entwässerungsrohr stürmten, das hinter den Regierungslinien aus dem Boden kam, und damit fortfuhren, Alawiten und Christen zu töten.“
Nur der russische Staatssender RT brachte auch diese Nachricht. Er hatte falsche Bilder zur Illustration verwendet. Human Rights Watch und Amnesty International fanden für das Massaker keine Beweise. Hinzu kommt: In seiner Kolumne im Independent vom 28. Januar 2014 nennt Cockburn nicht sich selbst einen Zeugen, sondern „einen syrischen Soldaten, der sich selbst Abu Ali nannte“.
Von einer Verschwörungstheorie kopiert
Der vielleicht ungeheuerlichste Fall journalistischen Fehlverhaltens stammt von einem der gefeiertsten Journalisten: dem Pulitzerpreisträger Seymour Hersh. In zwei Aufmachern der geschätzten London Review of Books behauptet er, dass eher die Rebellen als das Regime für die Chemiewaffeneinsätze verantwortlich sein dürften. Seine Quelle: „ein früherer Nachrichtendienstoffizier“.
Hersh wurde von der UNO und der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) widersprochen. Er hatte geschrieben:
„Es gibt zunehmend Beweise laut vielen Quellen im Nahen Osten – meistens der syrischen Opposition und ihren Unterstützern zugehörig –, dass der Einsatz chemischer Waffen am 21. August eine geplante Provokation der Opposition und ihrer saudischen und türkischen Verbündeten war.“
Das war am 6. September. Am 1. September hatte die kanadische Verschwörungstheorie-Seite globalresearch.ca einen Artikel von Yossef Bodansky veröffentlicht, der eine Beteiligung der USA nahelegte. Er beginnt so:
„Es gibt zunehmend neue Beweise laut vielen Quellen im Nahen Osten – meistens der syrischen Opposition und ihren Unterstützern angehörig –, die sehr dafür sprechen und auf soliden Beweisen der Umstände basieren, dass der Einsatz chemischer Waffen am 21. August eine vorbereitete Provokation der syrischen Opposition war.“
Ganz offensichtlich haben die Mitarbeiter des Nachrichtendienstes abgeschrieben. Dem renommierten Journalisten fiel das nicht auf.
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