Martin Scorseses neuer Film: Betrug an Indigenen
Um eine Mordserie an indigenen Menschen dreht sich „Killers of the Flower Moon“ von Martin Scorsese. Es ist sein zehnter Film mit Robert De Niro.
Man wundert sich: Wagt sich der Maestro des zeitgenössischen US-amerikanischen Kinos in seinem Spätwerk also doch noch an das wohl amerikanischste aller Filmgenres. Wirklich fremdes filmisches Terrain betritt Martin Scorsese mit seinem neuen Werk allerdings nicht, wie sich im Laufe der Spielzeit immer deutlicher zeigen wird, obgleich sich „Killers of the Flower Moon“ zunächst als Western präsentiert.
Wenn auch in einer moderneren Spielart, die sich ungleich besser mit dem Zeitgeist vereinen lässt als eine Glorifizierung von „Cowboys“ als Urtypus des amerikanischen Helden und der Mythen um die „Eroberung“ des Wilden Westens, die am Ende doch nur ein recht taktloser Euphemismus für die Unterwerfung, Verdrängung, gar gezielte Ausrottung der indigenen Bevölkerung des Landes ist.
Das Drehbuch, das Scorsese in Kooperation mit dem bewährten Drehbuchautor Eric Roth („Dune“) verfasste, setzt sinnigerweise später ein: In den frühen 1920er Jahren ist den Ureinwohnern des Osage-Stammes nach der voranschreitenden Landnahme durch die Weißen längst ein eigenes Reservat im Staat Oklahoma zugewiesen worden. Ein karges Steppengebiet wohlgemerkt, das die Regierung als ertragsarm und wertlos erachtete.
Doch wie Rodrigo Prietos Kamera („The Irishman“) zu Beginn des Films in einer vielsagend zwischen Euphorie und Elegie changierenden Einstellung offenbart, verbarg sich unter der Erde sehr wohl ein enormes Vermögen: In Zeitlupe springen junge Stammesmitglieder mit von Erstaunen verzerrten Gesichtern durch eine schwarze Fontäne, die sich gerade unter ihren Füßen auftat.
„Killers of the Flower Moon“. Regie: Martin Scorsese. Mit Leonardo DiCaprio, Robert De Niro u. a. USA 2023, 206 Min.
Die Osage hatten gewissermaßen Glück im Unglück, zumindest ehe daraus erneut ein Unglück wurde: Um die Jahrhundertwende wurde Erdöl auf dem Land des Stammes entdeckt, was das Volk per capita zum reichsten der Welt machte. Obwohl das Setting zwischen staubigen Sandstraßen, riesigen Rinderfarmen und sonnigen Südstaaten-Veranden an die weite Ödnis des Western erinnert, scheinen die Verhältnisse in „Killers of the Flower Moon“ also von Grund auf andere zu sein.
Denn wie Martin Scorsese und Eric Roth kurz darauf durch die nicht weniger erstaunten Augen von Ernest Burkhart (Leonardo DiCaprio) aufzeigen, der als kriegsverwundeter Veteran anreist, um bei seinem Onkel William Hale (Robert De Niro) eine Arbeit zu finden, sind es die Weißen, die sich in der Stadt um die Gunst der Osage – genauer: deren Geld – bemühen. Sie sind es wiederum, denen auf offener Straße Dienstleistungen an- und Waren feilgeboten werden.
Wo das Geld wohnt, ist die Gier bekanntlich nicht weit. Kaum auf dem Achtung gebietenden Anwesen seines Onkels angekommen, weiht ihn dieser schrittweise in das sinistre Stratagema ein, mit dem er den Besitz der Osage in den der eigenen Familie überführen will.
Auffällig hohe Sterblichkeit
Von der Kränklichkeit der Stammesmitglieder ist dabei zunächst die Rede, von ihrer Unfähigkeit, ihre finanziellen Mittel sinnvoll zum Einsatz zu bringen. Ja, dass sie regelrecht daran zugrunde gehen würden. Thelma Schoonmaker, die seit über 40 Jahren immer wieder mit Scorsese zusammenarbeitet, stellt in ihrem scharfsinnigen Schnitt den anrüchigen Ausführungen von William Hale Bilder von bereits ums Leben gekommenen Osage gegenüber.
Mal soll es schlechter „Moonshine“ gewesen sein, der sie ins Grab beförderte. Mal eine Diabetes, die viele Ureinwohner entwickelten, weil ihre Verdauung nicht an die gehaltvollen Speisen der Weißen gewöhnt ist. Man müsse sich also nur durch eine Heirat an eine Osage binden, um eher früher denn später an Landrechte und Reichtum zu gelangen, erläutert der Onkel seinem von der Aussicht auf Wohlstand ganz fiebrig gewordenen Neffen.
Robert De Niros mit erstaunlicher Leichtigkeit zwischen gekünstelter Güte und grauenerregender Kälte wechselnde Miene tut ihr Übriges: Auch weil De Niro, der zum zehnten Mal in einem Film von Scorsese auftritt, mit feinem Zwirn im Ohrensessel drapiert wie ein Mafia-Pate aus „GoodFellas“ wirkt, ist auch ohne Kenntnisse der realen Vorlage schnell klar, dass dem frühen Ableben tatkräftig nachgeholfen wird.
Für Ernest, der nicht nur aufgrund seiner körperlichen Einschränkungen, sondern auch wegen seines einfachen Gemüts zu keinem anderen Einsatz taugt, soll sich als Fahrer eine Möglichkeit auftun. Mit Mollie (Lily Gladstone), ein Osage-Stammesmitglied, ist ein Einfallstor fix gefunden.
Mollies Motive bleibt der Film schuldig
Eine Erklärung, weshalb sich die als überaus gescheit eingeführte junge Frau zu einer Ehe mit dem einfältigen Ernest entscheidet, der mit Unterbiss und Mittelscheitel obendrein keinen einnehmenden Eindruck hinterlässt, bleibt der Film allerdings schuldig. Ebenso, wie Ernest die als aufrichtig dargestellte Liebe zu ihr mit den bald beginnenden Gräueltaten gegen Mitglieder ihres Stammes verbinden kann.
Wovon „Killers of the Flower Moon“ erzählt, ist frappierend: Basierend auf den Recherchen von David Grann, die 2017 in Form eines gleichnamigen Buchs erschienen sind, ein Bestseller in den USA, beleuchtet der Film mit den „Osage-Morden“ ein besonders düsteres Kapitel im Umgang der Weißen mit der indigenen Bevölkerung. Allerdings nahezu niemals aus deren Perspektive.
Man wundert sich, erneut: Scorsese inszeniert den historischen Stoff zunehmend als eine giganteske Gangstergeschichte um Geld, Gier und Gewalt. Und die wird, wie schon in „GoodFellas“, „Gangs of New York“ oder zuletzt „The Irishman“ vor allem aus Sicht derer erzählt, die wahlweise danach trachten, sie in sich tragen oder sie ausüben und in Auftrag geben.
Wie in besagten Filmen, für deren Typus Martin Scorseses Schaffen in erster Linie bekannt und beliebt ist, bedient auch „Killers of the Flower Moon“ die gesamte Klaviatur der Gewalt – von Genickschüssen bis hin zu riesengroßen Explosionen. Statt an einer Introspektion der Figuren zeigt sich der Plot zuerst daran interessiert, das Publikum durch die Abgebrühtheit des Systems zu erschüttern, in dem diese Gewalt geschieht, und durch die Nüchternheit derer zu schockieren, die sie ausüben.
William Hale's Show
Psychologische Tiefe bleibt dabei ebenso auf der Strecke wie jedwede charakterliche Entwicklung. Wie in Mollie niemals der Verdacht wächst, dass die Verantwortlichen für den Tod ihrer Schwestern, ihrer Mutter und über ein Dutzend weiterer Stammesmitglieder aus ihrem angeheirateten Familienkreis stammen könnten, bleibt so eine weitere Leerstelle.
Die exorbitante Spielzeit von beinahe dreieinhalb Stunden wird hauptsächlich darauf verwendet, in aller Ausführlichkeit aufzuzeigen, wie William Hale, der als Gönner des Reservats auftritt, seinen Neffen und eine immer größere Schar an zwielichtigen Gestalten dafür benutzt, sich nach und nach das Vermögen der Osage unter den Nagel zu reißen.
In diesem Punkt unterscheidet sich „Killers of the Flower Moon“ allerdings auf ganz kritische Art und Weise von den Scorsese’schen Gangstersagas: Mit aller Deutlichkeit arbeitet der Film heraus, dass die Morde an den Osage nicht die Machenschaft einer einzelnen „Gang“ gewesen sind, sondern einer ganzen Gesellschaft.
Als das noch junge FBI sträflich spät im Reservat ermittelt, wird das volle Ausmaß ersichtlich, in dem sich etwa Ärzte, örtliche Ordnungshüter und Bestatter an den Verbrechen beteiligten, sie vertuschten oder schlicht wegsahen. Dass die anschließende Gerichtsverhandlung, in der Brendan Fraser und John Lithgow sehenswerte Gastauftritte haben, einen enttäuschenden Ausgang findet, kann angesichts der bis heute nur schleppenden Aufarbeitung der Schreckenstaten an der indigenen Bevölkerung kaum überraschen.
Wodurch „Killers of the Flower Moon“ somit letztlich vor allem überzeugt, sind mehr die ausführliche Archivarbeit, die Wahl eines wichtigen Themas und exzellente schauspielerische Darbietungen denn eine Experimentierfreude im Erzählen und echtes Erkenntnisinteresse. Spannend ist das allemal, schließlich tut Martin Scorsese wieder genau das, worin er am besten ist. Für den Stoff hätte es allerdings gedankenvollere und tiefgründigere Bühnen als die gegeben, die der Maestro in einer großen Geste am Ende sogar selbst betritt.
Man kann sich darüber freuen, dass es derartig episches Kino, das nicht zuletzt durch enorme Schauwerte überzeugt, überhaupt noch gibt. Oder aber man wundert sich ein weiteres, ein letztes Mal: Darüber, dass Martin Scorsese, der seiner Abneigung gegenüber Streamingdiensten schon mehrmals Luft machte, das dafür notwendige Budget von 200 Millionen Dollar, nachdem er bereits für „The Irishman“ mit Netflix zusammenarbeitete, erneut von einem solchen, diesmal von AppleTV+, erhielt.
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