Margarete Stokowski zu „Untenrum frei“: „Jetzt bin ich selber so dreist“
Die Autorin Margarete Stokowski erzählt, warum sie Kolumnen früher zu krass fand und Janosch sie dann doch nicht aufgeklärt hat.
Noch so ein persönliches Buch über Feminismus, Macht und Sex. Nur ist dieses hier anders. Es packt selbst solche, die sich mit diesen Themen schon lange beschäftigen. Margarete Stokowski schreibt über Katholizismus, Migration, Sexualität, Vergewaltigung, Essstörungen, Machtstrukturen, feministische Geschichte – immer unterhaltsam, immer mit Tiefe.
Die zentrale These des Buches lautet: „Wir können untenrum nicht frei sein, wenn wir obenrum nicht frei sind.“ Bei einer Saftschorle in Berlin-Neukölln führt Stokowski aus: „Untenrum frei beschreibt die sexuelle Freiheit im körperlichen Sinne und im Sinne, was man sich in sexueller Hinsicht traut, wünscht, will oder nicht will. Obenrum frei bedeutet politische Freiheit von Geschlechterklischees und Stereotypen und Mythen.“
Margarete Stokowski umkreist diesen Zusammenhang im Buch in einer Mischung aus persönlichen Erlebnissen und gesamtgesellschaftlichen Beobachtungen – beides umklammert mit ihrer typisch starken, leicht schnodderigen, aber nie flapsigen Sprache. Mit dieser zeichnet sie klare Bilder. Von Situationen, Menschen, sogar Gefühlen.
Wir treffen uns im Café Rix, wo die Autorin vor Jahren bei heißer Schokolade mit ihren Freund_innen fürs Abi gelernt hat, und lassen sie anhand von Fotos über Bilder und Personen sprechen, die aus „Untenrum frei“ hängen bleiben.
Ein Protokoll.
1. Mermaiding
Bevor ich mein Buch geschrieben habe, wusste ich schon, dass es so etwas wie „Mermaiding“ gibt, also Kurse, in denen Mädchen oder Frauen lernen, in einem Meerjungfraukostüm zu schwimmen. Im Zuge meiner Recherchen wurde dann klar, dass das ein ganzer Markt ist: Man kann diese Flossen bei Amazon ganz normal bestellen, und dann werden dir für die Finger Schwimmhäute angeboten, weil Kunden, die diesen Artikel kauften, sich auch dafür interessieren – oder wohl eher Kundinnen.
Frauen aus unserer Generation haben schon immer eine Verbindung zu Disney-Figuren, zum Beispiel zu Arielle, der Meerjungfrau. Viele hatten eine Vorstellung von einer Figur, die sie gerne wären. Und heute gibt es also Kurse, in denen man das werden kann. Man kann als Mädchen oder erwachsene Frau diese Kurse belegen und sich als Meerjungfrau fühlen. Einerseits rückt man seinen Träumen also ein Stück näher, aber es ist andererseits auch alles ein bisschen mehr krank.
Für sich genommen ist das nicht schlimm. Und es ist nicht meine Aufgabe noch die von irgendwem anderen, diesen Frauen in ihren Meerjungfrauenschwänzen zu sagen, ob sie emanzipiert sind oder nicht. Aber es ist schon so, dass es bestimmte Entwicklungen gibt, bei denen ich sagen würde: Ich bin mir nicht sicher, ob das hier alles nach vorne führt.
Bei diesen Mermaiding-Kursen wird ganz häufig dann gleich ein Fotoshooting mit angeboten. Es geht also gar nicht unbedingt darum, mit der Fischflosse besonders gut schwimmen zu können, sondern darum, ein bestimmtes Bild zu schaffen, in dem man dann einfach eine geile Meerjungfrau mit wasserfest geschminkten Augen ist.
Es gibt aber auch Interpretationen von „Arielle“ als sehr feministischen Film. Arielle verfolgt einen Plan, den sie sich selbst gesetzt hat, der total ihrer Umgebung widerspricht, und sie opfert zwar etwas dafür, kriegt aber auch etwas wieder zurück – nämlich das, was sie wollte. Sie hat einen Plan und Wünsche. Kann man so sehen. Aber als ich den Film für das Buch noch mal gesehen habe, dachte ich schon: Huiuiui, die Stimme abzugeben ist echt hart. Mit der Begründung der Hexe: Es ist ohnehin egal, was Frauen sagen, wichtig sei der Körper.
Und klar, wir haben alle diese Filme gesehen. Ich habe auch beim Buch versucht, diese ganzen Beispiele aus meinem Leben nicht als kleine Traumatisierungserlebnisse dastehen zu lassen. Weil, die Welt ist nicht so schlimm. Das Ziel war zu sagen: Es gibt Muster, die sich in den Dingen widerspiegeln, die wir für harmlos und für Unterhaltung halten. Das ist normale uns umgebende Kultur.
2. Janosch: „Mutter sag, wer macht die Kinder?“
Das wirkt heute, da es Internet gibt, etwas absurd, aber damals, mit 13, hatten wir zwar Internet, aber da lief ja immer die Uhr mit. Also welche Möglichkeiten gab es, sich irgendetwas Sexuelles anzuschauen? Es gab die Unterwäscheseiten im Otto-Katalog, es gab Aufklärungsbücher und es gab Genitalien-Querschnitte in Lexika. Und wir hatten halt dieses Janosch-Buch zu Hause. Aufgeklärt hat es mich allerdings überhaupt nicht.
Ich kann mich sehr gut an Szenen aus dem Schulaufklärungsunterricht erinnern. Dabei ging es nicht um Sexualität, sondern um Fortpflanzung – und die Tücken der Fortpflanzung. Wir hatten an der Schule den Zyklus der Frau und mussten Hormonkurven nachzeichnen. Und dann haben wir einen Film über Abtreibung geschaut. Das war eher nüchtern-negativ. Aber es ging dann auch nicht um alle negativen Seiten. Es gab keinen Moment in meiner Schulzeit, in dem so etwas wie sexualisierte Gewalt aufgegriffen worden wäre. Das sollte in jedem Fall Teil des Unterrichts sein. Das muss nicht Biologie sein. Das geht auch im Deutschunterricht durch das Lesen bestimmter Bücher.
Allein über 100 „Berliner Szenen“ schrieb Margarete Stokowski für die taz. Ihr erster journalistischer Text überhaupt erschien 2009 bei uns – eine Theaterkritik zu Shakespeares „Der Sturm“ im Berlin-Teil. In ihrer Kolumne „Luft und Liebe“ schrieb sie von 2012 bis 2015 über Beziehungen, Sex, Sexismus und andere Themen, die den Alltag junger Frauen bestimmen. Simone de Beauvoir widmete sie einen Essay mit folgendem Anfang: „Sie ist nicht da. Das ist das Erste, was auffällt, wenn man sich mit Simone de Beauvoir beschäftigt. Wer heute in Berlin Philosophie studiert, kann das 17 Semester lang tun, ohne einem einzigen Text von Simone de Beauvoir zu begegnen. Auch außerhalb der Uni kommt man, auch als Feministin, selten mit Beauvoir in Berührung. Simone de Beauvoir fehlt. Unentschuldigt.“ Margarete Stokowski ist weiterhin freie Autorin der taz und betreut gerade den taz.blog zur Frankfurter Buchmesse.
Ich schreibe in meinem Buch über meine eigenen Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt, weil das etwas ist, was mich geprägt hat. Wenn ich das nicht erlebt hätte und jetzt nicht so schockiert darüber wäre, dass ich den Übergriff damals gar nicht als das erkannt habe, was er war, hätte ich heute nicht so starke Überzeugungen.
Damals war ich 16. Ich hatte komplett keinen Begriff dafür und ich habe mich jahrelang geschämt, darüber zu sprechen, weil ich nicht wusste, was das war. Ich kannte Begriffe wie Vergewaltigung und Missbrauch, dachte aber: Okay, das ist wirklich etwas Brutales, da gehören Blut und Wunden und blaue Flecken dazu. Ich hatte ein sehr genaues Krimi-Bild vor Augen und dachte: Mein Fall ist nicht so. Ich dachte einfach, ich hätte etwas Dummes gemacht. Wer lässt sich schon von wem anders mit dem Auto nach Hause fahren? Deswegen habe ich sehr lange nicht darüber gesprochen, erst als ich schon studiert habe, habe ich das einer Freundin erzählt.
Wenn man über solche Erlebnisse schreibt oder spricht, sieht es schnell so aus, als wolle man sich als Opfer darstellen. Ich glaube aber mittlerweile, dass das Gegenteil passiert. Opfer bist du schon in der konkreten Situation geworden. Wenn man anfängt, über diese Dinge zu sprechen, entopfert man sich. Das ist mir passiert und ich nehme diese Geschichte jetzt selbst in die Hand und erzähle das. Das machen aber noch immer sehr wenige, was auch sehr verständlich ist.
Ich habe oft erlebt, dass wenn eine Person im Freundeskreis dann einmal beginnt zu erzählen, aus allen Ecken kommt: Ich habe eine ähnliche Erfahrung gemacht, ich habe es nur noch nie erzählt. Es muss ja auch nicht schlecht sein, wenn man Dinge für sich behält. Aber es ist schon krass, dass wenn dir ein Handy geklaut wird, du das ganz selbstverständlich erzählst, aber wenn es um sexualisierte Gewalt geht, schweigt man, weil sich die Leute dafür schämen – obwohl sie nicht müssen.
Aber schon das Wort „Betroffene“ klingt nach Krankheiten und Schicksalsschlägen, die man nicht mehr los wird. Je mehr Leute das Wort ergreifen, desto schwieriger wird es, die alle als Opfer abzustempeln. Es gibt einfach nicht so viele Opferstempel, die man so vielen Leuten aufdrücken kann.
3. Simone de Beauvoir
Als ich 15 war, habe ich „Das andere Geschlecht“ gekauft und gedacht: Sollte man mal gelesen haben, einfach weil es eine Art Klassiker ist. Ich habe es dann auch durchgelesen, aber mir ziemlich wenig gemerkt. Unter anderem, dass zum Beispiel Frauen vor Ewigkeiten versucht haben zu verhüten, indem sie nach dem Sex geniest haben. Hat nicht so gut funktioniert. Oder dass Taubeneltern ihre Kinder mit einer Art Milch füttern, obwohl sie keine Säugetiere sind. In dem Buch gibt es ja relativ viele biologische Beispiele aus der Tierwelt. Viel mehr habe ich mir daraus nicht gemerkt.
Als ich vor der Frage stand, ob ich mein Studium abschließe oder nicht, habe ich entschieden, meine Masterarbeit über das Buch zu schreiben. Daraus wird ja vor allem dieser eine Satz zitiert: „Man wird nicht als Frau geboren“ – und so weiter, je nachdem, wie man es übersetzt. Entweder: „man wird dazu“ oder „man wird dazu gemacht“. Bis auf diesen einen Satz ist Beauvoir und ihre Literatur komplett nicht präsent. Kaum jemand bezieht sich auf mehr als diesen einen Satz – oder die Aussage, dass „er“ Subjekt ist und „sie“ das Andere.
Beauvoir sagt in „Das andere Geschlecht“ viele Sachen, auf die die Gender Studies in den vergangenen Jahrzehnten erst wieder zurückgekommen sind. „Sex“ und „gender“ sind beide kulturell geprägt, es gibt mehr als die Zweiteilung. Das hat Beauvoir im Grunde auch schon gesagt. Sie hat einen sehr differenzierten Körperbegriff. Es gibt nicht den Körper und den Menschen, der etwas damit macht. Alles ist ein Körper in Situationen, also das, was dich prägt, und das, was du entscheidest. Im Grunde habe ich für meine Masterarbeit „Das andere Geschlecht“ einfach ordentlich gelesen und darüber geschrieben, was das Buch zu den Debatten heute noch beitragen kann.
„Das andere Geschlecht“ wurde ursprünglich von einem nicht besonders feministischen Biologen übersetzt und diese Übersetzung wurde bis in die 1980er nicht weiter hinterfragt. Einer anderen Philosophin fiel dann irgendwann auf, dass er bestimmte philosophische Begriffe falsch übersetzt hatte und auch unterschiedlich übersetzt hatte.
Wenn sich Beauvoir auf positive historische Beispiele von Frauen bezieht, hat er an diesen Stellen gekürzt. Dadurch wurde das Buch stark als Angriff auf Frauen gelesen, auf Hausfrauen, Mütter, Ehefrauen. Es ist aber auch kompliziert geschrieben, in Sandwich-Form. Sie stellt eine Frage oder wirft ein Thema auf, erklärt dann ganz viele Positionen, die sie nicht vertritt, aber eben aufführt, und dann kommt das, was sie denkt. Und wenn man nun den letzten Teil weglässt, lässt man einfach ihre Meinung weg.
Was aber dringeblieben ist und womit sie dann eben immer wieder zitiert wird, ist dieser eine Satz, der auch noch falsch übersetzt wurde. Was sie gemeint hat: das Zusammenspiel zwischen Umwelt und eigener Planung. Der ganze Witz am Existenzialismus ist ja, dass man sich einen Entwurf vom Leben macht und versucht, danach zu leben. Man hat eine Existenz, aber zunächst keine Essenz, und die Essenz ist das, womit man das Leben ausfüllt. Beauvoir gehörte ja zum Existenzialismus, und es wäre für diesen vollkommen widersprüchlich zu sagen, man wird von außen geformt und ist dann irgendein Produkt der Gesellschaft.
In ihrem Debüt „Untenrum frei“ schreibt die Autorin und Spiegel-Online-Kolumnistin Margarete Stokowski über die kleinen schmutzigen Dinge und über die großen Machtfragen. Es geht darum, wie die Freiheit im Kleinen mit der Freiheit im Großen zusammenhängt, und am Ende wird deutlich: Es ist dieselbe. Rowohlt, 256 Seiten.
4. Marie Curie
Ich war meine komplette Schulzeit davon überzeugt, dass ich Physikerin werde. Ich war im Physik- und Matheleistungskurs. Es war immer klar, dass das meine Schiene ist. Aber ich hatte das Gefühl, dass ich schon weiß, was kommt, wenn ich das wirklich weitermache. Und das erschien mir nicht sehr spannend, eher wie eine Fortsetzung von Schule. Ich wollte Physik und Philosophie gleichzeitig studieren, aber das ging nicht – also habe ich mich für Philosophie entschieden. Ich dachte noch das erste Jahr, dass ich Philosophie nur ein Jahr mache und dann was Richtiges, zum Geldverdienen.
Viele der Dinge, die mich geprägt haben, hängen mit meinem Philosophiestudium zusammen und den Leuten, die ich dort kennengelernt habe. Jetzt denke ich mir schon manchmal, dass es auch geil wäre, einen technischen Beruf zu haben, in dem Dinge klarer sind. Ich schreibe jede Woche eine Kolumne mit einer Meinung, die nächste Woche auch schon wieder anders sein könnte. Das ist ein krasser Gegensatz zu theoretischer Physik. Da geht es um Reduktion und Klarheit.
Auch als ich noch lange nicht schreiben wollte, war das etwas, das mich an Feuilletontexten und Kolumnen fasziniert hat: die starke Haltung. Mit sechzehn habe ich angefangen, die Zeit zu lesen, und da auch die Kolumne von Harald Martenstein. Ich dachte: Krass, wie kann man jede Woche irgendetwas erzählen, bei dem auch eine Art Position dabei ist oder zumindest eine Pointe? Ich wollte das gar nicht selber machen. Ich dachte nur: Krasser Job, wie geht das? In Feuilletontexten fand ich es völlig verrückt, dass jemand schreibt: Die Gesellschaft ist so und so. Ich dachte: Wie wagst du es? Wie kann man sich so sicher sein?
Das fand ich an Philosophie spannend: dass man lernt zu argumentieren, ein Gefühl dafür zu bekommen, wann man recht hat mit dem Zeug, das man redet. Ich habe im Studium viel Erkenntnistheorie gemacht, da geht es um die Frage: Was ist eine Meinung und was ist Wissen? Und erst eine ganze Zeit später habe ich angefangen, selbst Texte zu schreiben. Vorher dachte ich nur: Wie kann man so dreist sein? Jetzt bin ich selber so dreist.
5. Big Sexyland
Das Plakat kommt in meinem Buch vor, weil es ein sehr symbolisches Beispiel ist. Alle, die seit den Achtzigern in Berlin waren, kennen dieses Plakat. Es war immer da. Gleichzeitig war das für mich in der Kindheit wirklich wie so ein fremdes Land, eine ferne Welt, mit der ich nichts zu tun hatte. Und ich dachte: Wenn ich später mal Sex habe, dann wird das nicht so aussehen. Ich habe relativ zufällig angefangen, über Sexthemen zu schreiben. Und je mehr ich darüber geschrieben habe, desto mehr habe ich angefangen, mich damit auseinanderzusetzen. Ich hatte irgendwann „ficken“ in einen taz-Text geschrieben, und so kam das dann.
Als ich also angefangen habe, meine Kolumne dazu zu schreiben, habe ich gemerkt, dass es einen Widerspruch gibt zu: Man redet über Sexualisierung und dass Sex allgegenwärtig ist, aber ich sehe das nicht. Ich sehe so etwas wie das hier. Aber das ist einfach nur eine nackte Frau. Sex als Handlung ist nicht allgegenwärtig. Da ist natürlich die Frage, was man mit Sex meint. Das große Konstrukt von sexuellen Dingen oder die konkrete Handlung.
Ich glaube, es gibt einen Widerspruch in der Wahrnehmung, mit wie viel Sex wir zu tun haben. Wenn wir von Sex als Werbestrategie sprechen, meinen wir immer nackte Frauen. Selbst jetzt bei der Smoothie-Werbung, die mit Samenstau wirbt, spielt das zwar auf männliche Sexualität an, aber sie wird nicht gezeigt. Dabei gibt es gar keinen Samenstau, aber das nur am Rande. Jedenfalls: Wenn wir wirklich von Sex umgeben wären, hätten wir ein anderes Verhältnis dazu.
Kaum einer hat übrigens gemerkt, dass das Plakat nicht mehr hängt, weil der Laden zugemacht hat. Man hat nicht gemerkt, dass die Frau verschwunden ist. Damals war das etwas Besonderes. Jetzt werben überall nackte Frauen für irgendwas.
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