Mangel an Soldaten in der Ukraine: Das Wort des Jahres: „Mobilmachung“
Der Ukraine fehlen Soldaten. Das Verteidigungsministerium setzt darauf, dass sich ukrainische Männer im Ausland zum Dienst melden.
![Ein Plakat, das das ukrainische Militär bewirbt, am Rande einer Landstraße Ein Plakat, das das ukrainische Militär bewirbt, am Rande einer Landstraße](https://taz.de/picture/6726486/14/Ukraine-Rekrutierung-Armee-1.jpeg)
Offene Fragen gibt es viele: Wie viele Männer verstecken sich in Europa vor der Armee? Wie kann das Verteidigungsministerium ihren Aufenthaltsort ausfindig machen? Welche Sanktionsmöglichkeiten gibt es?
In Deutschland sind laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Ausländerzentralregister bis Ende November rund 197.000 Männer im Alter zwischen 25 und 60 Jahren mit ukrainischer Staatsangehörigkeit registriert. Zu einer Ausreise aus Deutschland gezwungen werden können sie nicht. „Wie in der gesamten Europäischen Union wird Ukrainerinnen und Ukrainern in Deutschland aufgrund des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskriegs vorübergehender Schutz gewährt“, sagte eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums der taz. Die Aufenthaltserlaubnisse von Ukraine-Geflüchteten gälten aktuell bis zum 4. März 2025. Aus dem Bundesjustizministerium hieß es, dass man zu hypothetischen Szenarien keine Stellung nehme.
Ein Sprecher des ukrainischen Verteidigungsministeriums versuchte zu erklären, was Minister Umjerow tatsächlich gesagt habe. Die deutschen Medien hätten die Aussagen des Ministers leicht missinterpretiert, sagte der Leiter der Abteilung für Presse und Information in einem Kommentar für das ukrainische Nachrichtenportal Babel. „Der Minister hat mit den Journalisten über Rekrutierungen gesprochen und über die Notwendigkeit, Ukrainern im Ausland zu vermitteln, wie wichtig es sei, dass sie sich den Streitkräften anschlössen. Eine Diskussion darüber, mit welchen Mitteln man Ukrainer im Ausland in die Armee einberufe, steht nicht auf der Tagesordnung“, heißt es in einer Erklärung des Verteidigungsministeriums.
Der Mobilmachung entgehen
Dass ukrainische Beamte jetzt solche Aussagen machen, ist leicht zu erklären. Das Thema, wie Menschen mit allen Mitteln versuchen, einer Mobilmachung zu entgehen, ist derzeit sehr aktuell in der Ukraine: Vor allem jetzt, wo durch die russische Offensive an allen fünf Frontabschnitten die Zahl der gefallenen ukrainischen Soldaten steigt.
Die Menschen empören sich darüber, dass nur sie ihr Land verteidigen, während andere sich durch Tricksereien oder Korruption ins behagliche Europa absetzten, um dem Kriegseinsatz zu entkommen. Die Gerechtigkeitsfrage lässt sich leicht für politische Zwecke instrumentalisieren, zum Beispiel um das Ansehen von Präsident Wolodimir Selenski zu verbessern, dessen Umfragewerte 2023 ein wenig gesunken sind.
Es ist leicht gesagt, dass „wir gerade auch diejenigen zum Dienst in der Armee zwingen müssen, die irgendwie nach Europa ausreisen konnten“. Aber das in die Praxis umzusetzen, dürfte sich schwierig gestalten.
Nicht zum ersten Mal gibt die Regierung der Ukraine sich populistisch, wenn es um Mobilmachungen geht. Im August dieses Jahres wurden auf Anweisung von Präsident Selenski auf einen Schlag alle Wehramtsleiter entlassen. Anlass dafür war, dass sich einige dieser Männer durch Ausstellung von Ausreisegenehmigungen für Wehrpflichtige persönlich bereichert hatten. Dafür bestraft wurden aber demonstrativ alle Wehramtsleiter.
Zufall oder nicht – im Herbst wurden dann in der Ukraine vermehrt Einberufungsbescheide auf der Straße, in Kinos und Fitnesscentern ausgegeben. Würde man in der Ukraine das Wort des Jahres 2023 wählen, wäre es höchstwahrscheinlich „Mobilmachung“. Meldungen zu diesem Thema sind täglich unter den Top-Nachrichten ukrainischer Medien.
Auf seiner Pressekonferenz zum Jahresende erklärte Wolodimir Selenski am 19. Dezember, dass der Generalstab und Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj vorgeschlagen hätte, 450.000 bis 500.000 Ukrainer zusätzlich zu mobilisieren. Dies würde die Ukraine, so Selenskij, noch einmal 500 Milliarden Hrywnja (etwa 12 Milliarden Euro) kosten.
Gleichzeitig verlangte der Präsident von den Streitkräften aber auch konkrete Aussagen zum Fronturlaub, zum Rotationsprinzip von kämpfenden Soldaten und zur Demobilisierung. Selenski wandte sich auch an die Zivilbevölkerung. Er erklärte, dass ein Frontsoldat von sechs Steuerzahlern unterstützt werde. Damit machte er klar, dass die Mobilmachung auch ihre Grenzen habe.
Um mehr jüngere Menschen für die Armee zu gewinnen, wird das Einberufungsalter wahrscheinlich von 27 auf 25 Jahre gesenkt. Der Präsident erklärte, er werde einer solchen Entscheidung zustimmen, wenn das entsprechende Gesetz auf Vorschlag des Militärs vom Parlament verabschiedet wird.
Eine weitere wichtige Neuerung, die die Regierung aktuell vorbereitet, ist ein elektronisches Register für Wehrpflichtige. Wolodimir Fitio, ein Vertreter der Bodentruppen, erklärte, dass das elektronische Register „Oberig“, das derzeit in der Ukraine in Betrieb sei, nicht mit anderen staatlichen Registern synchronisiert werden könne. Sobald diese Synchronisierung möglich wird, sollen keine Vorladungsbescheide mehr auf Straßen und in Fitnesscentern ausgeteilt werden.
Aus dem Ukrainischen Gaby Coldewey
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Jugendliche in Deutschland
Rechtssein zum Dazugehören
Jens Bisky über historische Vergleiche
Wie Weimar ist die Gegenwart?
Krieg und Rüstung
Klingelnde Kassen
Mitarbeiter des Monats
Wenn’s gut werden muss
Social-Media-Star im Bundestagswahlkampf
Wie ein Phoenix aus der roten Asche