Mangel an Soldaten in der Ukraine: Das Wort des Jahres: „Mobilmachung“
Der Ukraine fehlen Soldaten. Das Verteidigungsministerium setzt darauf, dass sich ukrainische Männer im Ausland zum Dienst melden.
Offene Fragen gibt es viele: Wie viele Männer verstecken sich in Europa vor der Armee? Wie kann das Verteidigungsministerium ihren Aufenthaltsort ausfindig machen? Welche Sanktionsmöglichkeiten gibt es?
In Deutschland sind laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Ausländerzentralregister bis Ende November rund 197.000 Männer im Alter zwischen 25 und 60 Jahren mit ukrainischer Staatsangehörigkeit registriert. Zu einer Ausreise aus Deutschland gezwungen werden können sie nicht. „Wie in der gesamten Europäischen Union wird Ukrainerinnen und Ukrainern in Deutschland aufgrund des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskriegs vorübergehender Schutz gewährt“, sagte eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums der taz. Die Aufenthaltserlaubnisse von Ukraine-Geflüchteten gälten aktuell bis zum 4. März 2025. Aus dem Bundesjustizministerium hieß es, dass man zu hypothetischen Szenarien keine Stellung nehme.
Ein Sprecher des ukrainischen Verteidigungsministeriums versuchte zu erklären, was Minister Umjerow tatsächlich gesagt habe. Die deutschen Medien hätten die Aussagen des Ministers leicht missinterpretiert, sagte der Leiter der Abteilung für Presse und Information in einem Kommentar für das ukrainische Nachrichtenportal Babel. „Der Minister hat mit den Journalisten über Rekrutierungen gesprochen und über die Notwendigkeit, Ukrainern im Ausland zu vermitteln, wie wichtig es sei, dass sie sich den Streitkräften anschlössen. Eine Diskussion darüber, mit welchen Mitteln man Ukrainer im Ausland in die Armee einberufe, steht nicht auf der Tagesordnung“, heißt es in einer Erklärung des Verteidigungsministeriums.
Der Mobilmachung entgehen
Dass ukrainische Beamte jetzt solche Aussagen machen, ist leicht zu erklären. Das Thema, wie Menschen mit allen Mitteln versuchen, einer Mobilmachung zu entgehen, ist derzeit sehr aktuell in der Ukraine: Vor allem jetzt, wo durch die russische Offensive an allen fünf Frontabschnitten die Zahl der gefallenen ukrainischen Soldaten steigt.
Die Menschen empören sich darüber, dass nur sie ihr Land verteidigen, während andere sich durch Tricksereien oder Korruption ins behagliche Europa absetzten, um dem Kriegseinsatz zu entkommen. Die Gerechtigkeitsfrage lässt sich leicht für politische Zwecke instrumentalisieren, zum Beispiel um das Ansehen von Präsident Wolodimir Selenski zu verbessern, dessen Umfragewerte 2023 ein wenig gesunken sind.
Es ist leicht gesagt, dass „wir gerade auch diejenigen zum Dienst in der Armee zwingen müssen, die irgendwie nach Europa ausreisen konnten“. Aber das in die Praxis umzusetzen, dürfte sich schwierig gestalten.
Nicht zum ersten Mal gibt die Regierung der Ukraine sich populistisch, wenn es um Mobilmachungen geht. Im August dieses Jahres wurden auf Anweisung von Präsident Selenski auf einen Schlag alle Wehramtsleiter entlassen. Anlass dafür war, dass sich einige dieser Männer durch Ausstellung von Ausreisegenehmigungen für Wehrpflichtige persönlich bereichert hatten. Dafür bestraft wurden aber demonstrativ alle Wehramtsleiter.
Zufall oder nicht – im Herbst wurden dann in der Ukraine vermehrt Einberufungsbescheide auf der Straße, in Kinos und Fitnesscentern ausgegeben. Würde man in der Ukraine das Wort des Jahres 2023 wählen, wäre es höchstwahrscheinlich „Mobilmachung“. Meldungen zu diesem Thema sind täglich unter den Top-Nachrichten ukrainischer Medien.
Auf seiner Pressekonferenz zum Jahresende erklärte Wolodimir Selenski am 19. Dezember, dass der Generalstab und Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj vorgeschlagen hätte, 450.000 bis 500.000 Ukrainer zusätzlich zu mobilisieren. Dies würde die Ukraine, so Selenskij, noch einmal 500 Milliarden Hrywnja (etwa 12 Milliarden Euro) kosten.
Gleichzeitig verlangte der Präsident von den Streitkräften aber auch konkrete Aussagen zum Fronturlaub, zum Rotationsprinzip von kämpfenden Soldaten und zur Demobilisierung. Selenski wandte sich auch an die Zivilbevölkerung. Er erklärte, dass ein Frontsoldat von sechs Steuerzahlern unterstützt werde. Damit machte er klar, dass die Mobilmachung auch ihre Grenzen habe.
Um mehr jüngere Menschen für die Armee zu gewinnen, wird das Einberufungsalter wahrscheinlich von 27 auf 25 Jahre gesenkt. Der Präsident erklärte, er werde einer solchen Entscheidung zustimmen, wenn das entsprechende Gesetz auf Vorschlag des Militärs vom Parlament verabschiedet wird.
Eine weitere wichtige Neuerung, die die Regierung aktuell vorbereitet, ist ein elektronisches Register für Wehrpflichtige. Wolodimir Fitio, ein Vertreter der Bodentruppen, erklärte, dass das elektronische Register „Oberig“, das derzeit in der Ukraine in Betrieb sei, nicht mit anderen staatlichen Registern synchronisiert werden könne. Sobald diese Synchronisierung möglich wird, sollen keine Vorladungsbescheide mehr auf Straßen und in Fitnesscentern ausgeteilt werden.
Aus dem Ukrainischen Gaby Coldewey
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken