Männerfußball-WM 2030 in Marokko: Viel Glitzer, viel Groll
Marokko investiert Milliarden für die WM. Es geht um wirtschaftliche Transformation, Tourismus und Außendiplomatie. Im Land wächst der Unmut.

Wie eine windumtoste Zeltstadt sieht es in den Projektionen aus, das bald größte Stadion der Welt. Das „Stade Hassan II“ bei Casablanca, dessen Dachform auf die Zelte der Amazigh-Volksgruppe anspielt, zeigt sich traditionsbewusst und mondän. Es ist mit 115.000 Plätzen und 500 Millionen Dollar Kosten der Kronjuwel des marokkanischen WM-Projekts, ein wohl kalkuliertes Bild, das das marokkanische Königshaus zur Männer-WM 2030 transportieren will: von einem visionären Land im Aufbruch. Einem selbstbewussten regionalen Player. Und glänzender Zukunft.
Doch in den letzten zwei Wochen hat diese PR empfindliche Risse bekommen. Die frustrierte Gen Z, die täglich in Marokko auf die Straßen geht und deren gemeinsamer Nenner vor allem ein postideologischer Zorn ist, zeigt die Lebensrealität eines anderen Marokko, des Marokko der Mehrheit.
Die Demonstrierenden fordern nicht nur Bildung, ein funktionierendes Gesundheitssystem, ein Ende der Massenarbeitslosigkeit und den Rücktritt der Regierung, sondern kritisieren auch die unverhältnismäßigen Ausgaben für die WM. „Wir wollen Krankenhäuser, keine Stadien“ oder: „Gesundheit zuerst, wir wollen die WM nicht.“
Europäische Medien machten daraus schnell einen Anti-WM-Protest. Es ist komplizierter. Viele Menschen im fußballverliebten Land äußern sich nicht per se gegen das Turnier. „Wir wollen die WM“, sagte etwa ein Demonstrant der BBC. „Aber wir wollen sie mit erhobenem Haupt und uns nicht hinter einer Fassade verstecken.“ Die fehlgeleiteten Megainvestitionen sind für viele nur Symptom eines korrupten Regimes, das mehr Wert auf Glitzerfassaden legt als auf die Lösung der Probleme im Bildungssektor, Jobmarkt und Gesundheitssystem.
„Wir erleben etwas, das schon vor langer Zeit hätte passieren sollen“, erklärt Soumaya Regragui vom marokkanischen Menschenrechtszentrum AMDH der taz. „Für die WM werden Luxusstadien, Straßen und Bahnlinien gebaut. Die Marokkaner:innen fragen sich: Wenn all dieses Geld da ist, warum haben wir keinen Zugang zu grundlegenden Menschenrechten?“
Fehlende Vision für die Jugend
Marokko ist mittlerweile führende afrikanische Tourismusdestination mit stark modernisierter Infrastruktur. Zugleich liegt die Arbeitslosigkeit der 15- bis 30-Jährigen in urbanen Gebieten bei fast 50 Prozent, die meisten Menschen haben keine Krankenversicherung und arbeiten in unqualifizierten Gelegenheitsjobs – ein Leben zwischen Stillstand, Frust und Flucht. Auch mehrere Nationalspieler haben sich mit den Aktivist:innen solidarisiert.
„Es ist, als hätten wir zwei Nationen innerhalb eines Landes“, sagt Regragui. „Die WM-Nation mit Luxus und Infrastruktur, und eine zweite Nation, die arm ist und ohne die grundlegendsten Menschenrechte.“ Es sei Zeit, endlich eine Vision für die Jugend zu entwickeln.
Tatsächlich ist die WM-Bewerbung nicht ohne Vision. Die Regierung hat etwa bewusst die Bauaufträge an marokkanische Unternehmen vergeben, um die heimische Industrie zu stärken. Regragui sagt, dass auch der Großteil der Bauarbeiter marokkanisch sei. Sie arbeiteten allerdings unter sehr schlechten Bedingungen. Außerdem sei die Frist für die vielen Projekte sehr kurz.
Stopp von Krankenhausbau
Wie schon in den Fällen Brasilien und Südafrika hat sich die WM-Vergabe an postkoloniale Staaten als zweischneidig erwiesen. Einerseits bedeutet sie überfällige Teilhabe und Umverteilung von Macht, endlich erstritten dort, wo Fußball so vielen (vor allem) Männern alles bedeutet. Großturniere bringen zudem oft einen tatsächlichen Schub für Infrastrukturprojekte und Innovation. Aber den prekären Massen kommen sie kaum zugute. Tickets für die geplanten neuen Züge kann sich hier kaum jemand leisten.
Ein Krankenhausbauprojekt kam zum Stillstand, weil die Arbeiter zum Stadionbau gebraucht wurden. Turniere leisten der Gentrifizierung Vorschub. Und gerade in autokratischen Ländern mit großen sozialen Differenzen können Menschen sich noch schwerer zur Wehr setzen. Auch die Gen Z nimmt explizit König Mohammed VI. von ihrer Kritik aus – vorerst.
Journalist und Forscher Yassine Ben Driss von der Zeitung Yabiladi, der die Proteste begleitet, glaubt dennoch, der Effekt der WM könne insgesamt positiv sein. „Sie wird Marokkos weltweites Image und den Tourismus fördern. Aber sie muss klug gemanagt werden.“ Vor allem Brasiliens Erfahrung zeige: „Ohne parallele Investitionen in Langzeitjobs ist der wirtschaftliche Effekt solcher Turniere kurzlebig.“
Fünf bis sechs Milliarden Dollar möchte Marokko für die WM 2030 investieren, vor allem in Stadien, Schienennetz, Hotels und Flughäfen. Das ist verschwindend gering im Vergleich zu den Turnieren in Russland, Brasilien oder der 220-Milliarden-Dollar-WM in Katar, aber dennoch eine enorme Belastung. Seit Jahrzehnten schon steckt das Königreich viel Geld in Fußball, etwa mit dem hochmodernen Trainingszentrum Mohammed VI Football Academy für 13 Millionen Euro, der Austragung des Afrika-Cups der Frauen und Männer oder dem 2024 angekündigten nationalen Fonds für Fußballtraining.
Tourismus ist fragil
Das war sportlich enorm erfolgreich und auch dem Image dienlich. Nun sollen die wirtschaftlichen Profite folgen. Denn Sportgroßveranstaltungen gelten längst als Meilenstein für die Tourismusbranche. Die WM erzählen viele Medien in Marokko als Teil einer großen Transformation. Immer noch ist rund ein Drittel der Marokkaner:innen im Agrarsektor beschäftigt. Das Wirtschaftsministerium proklamiert 100.000 neue Vollzeitjobs pro Jahr dank Fußball-WM und ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von 1,7 Prozent.
Das ist ein Baustein für die von Mohammed VI. proklamierte Vision 2035, die etwa das Pro-Kopf-BIP verdoppeln soll. Mit Tourismus als Eckpfeiler: Bis 2030 soll sich die Zahl der Besucher:innen im Land verdoppeln, die Flughäfen sollen 80 Millionen Passagiere pro Jahr aufnehmen können statt bisher 38 Millionen, die Länge der Hochgeschwindigkeitsgleise wird landesweit verdreifacht. Doch Tourismus ist auch extrem fragil – und qualifizierte Jobs bringt er kaum. Zudem verschärfte er soziale Spannungen, weil dafür etwa Armenviertel abgerissen wurden.
Unterstützung für Besatzung
Neben den innenpolitischen Interessen dürfte es ein wichtiges außenpolitisches Motiv für die WM geben. Marokko hat sich jüngst stark bemüht, internationale Unterstützung für seine völkerrechtswidrige Besatzung der Westsahara zu bekommen. Lag man darüber 2021 noch mit dem jetzigen Co-Gastgeber Spanien im Clinch, ist die spanische Kritik wundersam verstummt. Das Königreich stützt Marokkos Ansprüche nun ebenso wie der andere Gastgeber Portugal.
Die wirtschaftlichen Beziehungen vor allem zu Spanien wurden in den vergangenen Jahren intensiviert: Marokko ist größter Exporteur Afrikas nach Spanien und dessen größter afrikanischer Kunde; Spanien investiert auch etwa in Marokkos Straßen- und Schienennetz.
Die Fifa indes eiert bei der Frage nach der illegalen Annexion: Eine Karte Marokkos, die auch die Westsahara als marokkanisches Gebiet zeigt, hat sie mehrfach abgelehnt. Gleichzeitig erkennt sie mit der Formulierung, Marokko habe 3.500 km Küstenlinie, implizit die Annexion an. All das bedeutet einen diplomatischen Erfolg.
Machtkämpfe hinter den Kulissen
Doch der könnte teuer erkauft sein. Denn nicht nur die Gen-Z-Proteste erschüttern derzeit das Land. Im Tausch für die US-Unterstützung in puncto Westsahara hat Marokko 2021 diplomatische Beziehungen zu Israel aufgenommen. Im traditionell palästinasolidarischen Marokko gibt es seitdem fast täglich Demos gegen den Deal, und noch mehr wuchs der Zorn seit den massiven Kriegsverbrechen Israels in Gaza. Bisher zeigt die Polizei sich aus taktischen Gründen kulanter als bei der Gen Z.
Und dann sind da noch die Erdbebenopfer von 2023, die seit zwei Jahren ebenfalls fast täglich ihre Wut über die Ignoranz des Staates auf die Straße tragen. Es sind breite Gruppen, die sich von den Eliten entfremdet fühlen. Die heikle Situation trifft auf einen gesundheitlich angeschlagenen König und angebliche Machtkämpfe hinter den Kulissen. Vor der WM und dem Afrika-Cup im Dezember sitzt Marokko auf einem Pulverfass.
Rücktritt als Lösung?
Derzeit hat sich immerhin die Gewalt beruhigt. „Die Gen-Z-Proteste sind wieder weitgehend friedlich, nachdem die Behörden ihre anfänglich harten Sicherheitsmaßnahmen gelockert haben“, berichtet Journalist Yassine Ben Driss. „Die Protestierenden scheinen entschlossen, ihre Bewegung gewaltfrei zu halten.“
Die Mobilisierung sei geringer, die Atmosphäre ruhiger. Ben Driss hält Neutralität aus dem Ausland für sinnvoll. „Ausländische Unterstützung für die Demonstrierenden könnten die Behörden als Versuch interpretieren, das Land zu destabilisieren.
Umgekehrt würden die Bürger:innen eine offene Unterstützung für die Regierung als westliche Mittäterschaft bei Korruption und Autoritarismus empfinden.“ Wie es weitergeht, hänge von der Regierung ab. „Wenn die Regierung zurücktritt, beruhigen sich die Dinge vermutlich. Aber wenn die Forderungen ignoriert werden, könnte die Unzufriedenheit später in neuer Form aufflammen.“ Ein Szenario, das Marokko für die WM vermutlich vermeiden will.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert