Lobbyismus an Schulen: Außer Kontrolle
Firmen verteilen Unterrichtsmaterialien mit Produktwerbung. Die Kultusministerien geben die Verantwortung an die LehrerInnen ab.
Spielenachmittage für ältere Menschen, ein Fitnessparcours im Stadtpark oder Deutschunterricht für Asylbewerber. Was nach ehrenamtlichem Engagement klingt, sind auf Kosten und Ertrag geprüfte Geschäftsmodelle. Ausgedacht haben sie sich Schülerinnen und Schüler an der Stadtschule im hessischen Butzbach.
Zwei Stunden in der Woche unterrichtet dort Frau Grand die 10. Klasse im Fach Arbeitslehre. Ihr Fokus liegt auf unternehmerischem Denken. „Die Schüler sollen lernen, ihre Ideen in die Praxis umzusetzen“, sagt Grand. Als Beispiele zieht sie im Unterricht heimische Unternehmen heran. Oder solche, die in dem Lehrwerk „Von der Idee zum Ziel“ vorgestellt werden.
2004 hat Grand ein Lehrertraining beim Network for Teaching Entrepreneurship, kurz NFTE, besucht. Der Verein hat nach eigenen Angaben deutschlandweit mehr als 1.200 Lehrkräfte mit dem Ziel ausgebildet, unternehmerisches Denken in den Schulen zu fördern.
Grands damaliger Rektor musste bei ihrer Anmeldung zum Workshop unterschreiben, den „NFTE-Lehrplan mit den dafür von NFTE zur Verfügung gestellten Unterrichtsmaterialien“ in den Lehrplan zu integrieren. Wer jedoch einen Blick in das NFTE-Lehrwerk wirft, findet dort etwas, was das hessische Schulgesetz bei Schulbüchern untersagt: die explizite Nennung von Firmennamen.
Dr. Oetker, Aldi, Google, Tchibo. Mehr als ein Dutzend Unternehmen werden auf den 240 Seiten genannt. Microsoft und IBM sogar sechsmal. Die Produkte einer Keksbäckerin werden regelrecht beworben: „Übrigens besteht ihr leckeres Buttergebäck aus feinsten Zutaten und wird in Handarbeit von der Hofbäckerin täglich frisch zubereitet.“
Strenge Zulassungskriterien
Bei einem zugelassenen Lehrwerk undenkbar, bestätigt der stellvertretende Schulleiter der Stadtschule, Edwin Mücke. Dass Unternehmen wie Siemens, SAP oder Tchibo den Herausgeber finanziell unterstützen, ist Mücke ebenso unbekannt wie die Inhalte des NFTE-Lehrbuches: „Bevor ich im Lehrplan über den Namen gestolpert bin, habe ich davon nicht gehört.“
„Sicher kennst du das Logo des Kaffee-Unternehmers Tchibo“
Für Schulbücher gelten strenge Zulassungsauflagen: Sie werden in den Kultusministerien auf Indoktrination, Werbung und Einseitigkeit geprüft. Wenn sich eine Lehrkraft darüber hinaus mit aktuellen Lehrmaterialien versorgen will, muss sie sich auf ihr eigenes Urteil verlassen. Lehrerin Grand sagt, sie sehe in der Namensnennung von Firmen kein Problem. Andere Lehrkräfte schon.
Die hessische Regierung will sich in die Frage nicht einmischen: „Inwiefern Schulen am NFTE-Programm teilnehmen, die zur Verfügung gestellten Materialien im Unterricht einsetzten oder an NFTE-Wettbewerben teilnehmen, entscheiden diese in Eigenverantwortung“, antwortete die Landesregierung im September auf eine parlamentarische Anfrage von Christoph Degen (SPD).
Fehlender Überblick
Mit der Antwort ist der Landtagsabgeordnete nicht zufrieden. Im kulturpolitischen Ausschuss, der heute in Wiesbaden tagt, will Degen nachfassen: „Das Ministerium könnte mehr Verantwortung übernehmen. Viele Lehrkräfte wünschen sich eine Orientierung.“ Der 36-Jährige weiß, wovon er spricht. Als Förderschullehrer standen ihm gar keine zugelassenen Lehrbücher zur Verfügung. Er musste sämtliches Unterrichtsmaterial selbst prüfen. Das kostet nicht nur Zeit. Man muss auch wissen, wer hinter den Publikationen steht – und das Angebot ist nicht leicht zu überblicken.
Vor allem Wirtschaftsunternehmen drängen mit hochwertigen Schulmaterialien in die Klassenzimmer. 2011 zählten Augsburger Wissenschaftler 845 Angebote von Unternehmen. 2013 waren es schon rund 17.000. 16 der 20 umsatzstärksten deutschen Unternehmen publizieren Schulmaterial, in dem sie ihre eigenen Produkte anpreisen. Darunter auch Ritter Sport, Daimler oder Bayer. Und oftmals ist nicht auf den ersten Blick zu erkennen, welches Unternehmen hinter welcher Publikation steht, warnt die Augsburger Bildungsforscherin Eva Matthes. Sie ist überzeugt: Die Wirtschaft hat Schulmaterialien als Marketingstrategie für sich entdeckt. Ähnlich wie der hessische SPD-Abgeordnete Degen fordert sie eine unabhängige Stelle, an die sich unsichere Lehrkräfte oder auch Eltern wenden können sollten. Die Länderministerien sehen sich für solche Unterrichtsmaterialien jedoch nicht zuständig.
Darüber ärgert sich René Scheppler von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Wiesbaden. Vor allem ärgert er sich über die Spitzfindigkeit des hessischen Kultusministeriums. Das erklärte, nicht für die Überprüfung des NFTE-Lehrwerks zuständig zu sein, weil es sich formell um kein Schulbuch handle. Das Kriterium dafür sei die „dauerhafte“ Verwendung im Unterricht. Dieser Einschätzung widerspricht Scheppler: „Das NFTE-Lehrbuch ist eindeutig auf 1 bis 2 Jahre angelegt.“
Offene Türen für Lobbyisten
Die begriffliche Unklarheit findet sich auch in der Regierungsantwort auf Degens Anfrage: Lehrwerk, Schulbuch, Lernmaterial, Lehrmittel. „Die fehlende Trennschärfe öffnet dem Lobbyismus Tür und Tor“, warnt Scheppler. Und dieser beschränkt sich keinesfalls nur auf Unterrichtsmaterialien.
Vergangene Woche haben die Transparenzwächter von Lobbycontrol aufgezeigt, dass beispielsweise der Energiekonzern RWE auf vielfältige Weise versucht, Schülerinnen und Schüler vom gesellschaftlichen Nutzen der Braunkohle zu überzeugen. Neben Unterrichtsmaterialien, die Umsiedlungen als Chance für ganze Gemeinden darstellen, reicht das Engagement des Konzerns von Schulstaffelläufen bis hin zur Verteilung von Brotdosen für 40.000 Erstklässler.
Darüber, wie weit die Imagepflege und die Produktwerbung an Schulen gehen darf – und wer das kontrollieren soll –, will auch SPD-Mann Degen diskutieren. Für den heutigen Ausschuss hat er extra eine öffentliche Anhörung beantragt. „Bisher gibt es in der Gesellschaft noch kaum ein Bewusstsein für das Thema.“
Solange sich das nicht ändert, wird auch das mit Firmenlogos gespickte NFTE-Lehrbuch weiter im Unterricht eingesetzt werden.
Leser*innenkommentare
fredo muglin
In Sachsen beschwert sich niemand über Productplacement in Schulen, da ist man froh überhaupt Unterrichtsmaterial zu haben.
Manuel
Teil 1: Für mich ein Skandal, dass dies einfach von der hessischen Landesregierung als gegeben hingenommen wird und bei so manchem Kollegen keinerlei kritisches Bewusstsein diesbezüglich zu herrschen scheint…
Ich jedenfalls würde/werde mich stets Materialien verweigern, bei denen ich privatwirtschaftliche Interessen und dadurch auch die Implementierung bestimmter ideologischer Strömungen erkennen kann. Völlige Objektivität von Unterrichtsmaterial ist eine Illusion. Aber nur geprüftes Material, welches von Kultusministerien für gut befunden wurde, kann eine größtmögliche Neutralität aufweisen.
Wenn dieses nicht ausreicht, sollte man eben nicht zum erstbesten, weil am einfachsten erreichbaren Material greifen, sondern selbst Recherche betreiben, passende Materialien heraussuchen und uU auch verschiedene Quellen und Materialien bereitlegen, welche unterschiedliche ideologische Gewichtungen aufzeigen und von der Klasse beispielsweise in Gruppen dechiffrieren lassen, so dass diese merken, dass auch vermeintliche naturalisierte Ansichten eben solche nicht sind, sondern ideologisch bestimmte Gedankenmuster, welche naturalisiert nicht mehr als Ideologien, sondern eben als etwas Natürliches erscheinen und ihnen dadurch aufzuzeigen, dass es auch alternative Sichtweisen gibt, um sie dazu zu befähigen, aus verschiedenen Denkrichtungen und Ansätzen die für sie überzeugendsten herauszufinden und dies auch begründen zu können. Eine solche Vorgehensweise eignet sich natürlich besonders gut für Sowie oder Geschichte, lässt sich je nach Thema aber auch in anderen Fächern wie Englisch anwenden.
Manuel
Teil 2: Schule muss den kritischen Geist wecken, ideologiekritisch wirken (und zu Ideologien gehören natürlich auch der für viele als natürliches System angesehene Kapitalismus), so dass Schülerinnen und Schüler ihren eigenen Weg finden können und keine weitere Indoktrination durch Wirtschaftsverbände und -unternehmen erfahren müssen, nur weil dies manchen Lehrerinnen und Lehrern als bequemer erscheint.
Man kann und soll LehrerInnen nicht vorschreiben, welches Material sie zu benutzen haben (denn auch offizielles Lehrmaterial kann so seine Tücken haben, sowohl was den inhaltlichen Reichtum, aber auch den Gehalt an ideologischer Gewichtung angeht), aber man muss ein kritisches Bewusstsein bezüglich dieser Problematik auch auf Seiten der Lehrerschaft fördern.
Dieser Artikel zeigt, dass dies bitter nötig ist...
Georg Schmidt
völlig sinnlos mit der SChulleitung zu rden hab ich hinter mir Prospekte, Warenproben zb beim SEX Unterricht sag ich mal, die Kinder kommen mit allways Probepackungen heim es sind direkte mitarbeiter der Unternehmen, wie gesagt es iat sinnlos darüber zu reden, unser SChulleiter unter 27 lehrern 21 weibliche lehrerinnen hat das komplett den jeweilen Lehrerinnen überlassen, dazu kommt dass auch Zeitschriften Apos angeboten werden!