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Lob der UnordnungChaos im Herz

In WGs setzen immer die Ordentlichen den Maßstab. Warum eigentlich? Ein Plädoyer für mehr Laisser-faire.

Ein bisschen Unordnung schadet nie Foto: Markus Forte/imago

A uf den ersten Blick mag es vielleicht nicht auffallen, aber in meinem Herzen herrscht das Chaos. Solange sich mein Besuch rechtzeitig ankündigt und sämtliche Schubladen und Schränke geschlossen bleiben, kann ich meine wahre Identität zwar erfolgreich verstecken. Doch nach zwei Jahren WG-Leben bröckelt langsam meine Fassade.

Vermehrt „vergesse“ ich dreckige Teller in der Spüle oder lege diverse Gegenstände „vorläufig“ auf der Bank im Flur ab. Für meine ordnungsliebende Mitbewohnerin ist das der größte Horror. Regelmäßig räumt sie Dinge von mir weg und zerstört damit meine über Monate erarbeitete Zettelhaufenchronologie.

Sich darüber zu beschweren, dass jemand für einen aufgeräumt hat, kommt allerdings nicht so gut an. Denn im Aufräumstreit der WGs gewinnt stets die Ordnung. Mit Putzplänen, Belohnungssystemen, manchmal sogar Strafen sollen selbst die größten Chaoten eingefangen werden.

Wer ordentlich ist, hat sein Leben unter Kontrolle, heißt es, sei fleißig und erfolgreich. Unordnung symbolisiert hingegen das Gegenteil. Googelt man „Gründe für Unordentlichkeit“, erscheinen Ergebnisse wie Stress, Überforderung und innere Unruhe. Auf mich trifft das nicht zu. Mich stresst höchstens, wenn mir dauernd jemand signalisiert, dass ich aufräumen soll.

Dass Unordnung Kreativität anregt, ist wissenschaftlich bewiesen

Aber was definiert überhaupt Ordnung? Eine Studie aus dem Jahr 2021 von Forscherinnen der University of Sussex und der University of East London zeigt, dass Zufriedenheit nicht davon bestimmt ist, wie ordentlich die Umgebung eines Menschen tatsächlich ist, sondern wie ordentlich sie wahrgenommen wird. Deshalb denkt meine Mitbewohnerin, dass ich die Flurbank als Zwischenlager für Papiermüll benutze, während ich es dekorativ finde, Bücher und Zeitungen an verschiedenen Orten der Wohnung zu platzieren.

Außerdem ist unser Ordnungsempfinden stark durch unsere Herkunft geprägt. Kurz gesagt: Wer aus einem „ordentlichen“ Haushalt kommt, führt auch selbst einen „ordentlichen“ Haushalt. An der eigenen Unordentlichkeit lässt sich im Erwachsenenalter nur noch bedingt etwas ändern.

Die gute Nachricht ist: Das muss man auch gar nicht!

Unordentliche Personen brauchen zwar oft mehr Freiheit und arbeiten weniger linear als ordentliche Personen, das macht sie aber nicht zu schlechteren Menschen. Auch im leicht klischeehaften Spruch „Nur ein Genie beherrscht das Chaos“ steckt schließlich ein wahrer Kern. Dass Unordnung Kreativität anregt, ist ebenfalls wissenschaftlich bewiesen. Zudem kommen Menschen, die mit Unordnung gut umgehen können, auch besser mit Ambiguitäten zurecht.

Dass die Bedürfnisse ordentlicher Menschen trotzdem andauernd über denen unordentlicher Menschen stehen, nervt. Spätestens seit während der Coronapandemie die Aufräumkönigin Marie Kondo alles eliminiert hat, was keine joy sparkt, ist es die Norm, dass zu jeder Zeit alles einen Platz hat und nichts herumliegen soll – für viele Menschen ist das kaum erreichbar.

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Dabei habe durchaus auch ich das Bedürfnis, aufzuräumen, nur eben seltener als meine Mitbewohnerin. Wenn es dann mal so weit ist, mache ich dafür alles auf einmal. Ein Großputz ist für mich viel befriedigender, als ständig lästige Kleinigkeiten von A nach B zu räumen. Ich sehe auch wenig Sinn darin, Dinge, die ich ohnehin ständig benutze, jedes Mal wieder in eine Schublade zu räumen.

Meine Oma sagt immer: „In einem geordneten Haushalt geht nichts verloren.“ Meine Mitbewohnerin würde ihr vermutlich zustimmen. Wenn ich ausnahmsweise doch mal etwas ordnungsgemäß wegräume, habe ich ein paar Tage später vergessen, wo ich es hingelegt habe.

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Regina Roßbach
2004 geboren. Mag am liebsten die schönen Sachen, wie Mode, Literatur, Theater, Kunst und Film, aber schreibt eigentlich über alles. Studiert Publizistik- und Kommunikationswissenschaft sowie Geschichte und Französisch.
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13 Kommentare

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  • Hab mal in einer 6er WG gelebt, in der mir die Küche ständig zu dreckig war. Sobald der Erste morgens sein Geschirr hat stehen lassen, gab es kein Halten mehr. Wenn manim Laufe des Tages noch kochen wollte, konnte man immer erst mal die Küche aufräumen, Spülen inklusive. Gespräche halfen höchstens kurzfristig und selbst das dreckige Geschirr ins Zimmer der Mitbewohner räumen brachte keinen Erfolg. Was geholfen hat: Feuer mit Feuer bekämpfen. Die meisten Schmutzfinke haben lediglich eine höhere Toleranz was Schmutz angeht. Die Autorin entlarvt ihren Schwachpunkt ja selbst: "Ein Großputz ist für mich viel befriedigender, als ständig lästige Kleinigkeiten von A nach B zu räumen." Bin dann Hingegangen und hab bei Gelegenheit gerne mal die Spülmaschine ausgeräumt, also das dreckige Geschirr in der Küche verteilt. Noch ein bisschen Soße über den Küchentisch. Ein paar Bierflaschen auf dem Boden verteilt. Et voila: Der Großputztrieb meiner Mitbewohner war geweckt. Wenn die einmal anfangen dann machen sie es auch gründlich und sind dann auch noch megastolz drauf. Ein Fest.

  • Ich meine herausgefunden zu haben, dass ich immer dann mit dem Aufräumen der Wohnung anfange, wenn es in meinem Oberstübchen etwas chaotisch zugeht. Das hilft!

  • „O sähst du, voller Mondenschein,



    Zum letzenmal auf meine Pein,



    Den ich so manche Mitternacht



    An diesem Pult herangewacht:



    Dann über Büchern und Papier,



    Trübsel'ger Freund, erschienst du mir!..."



    (Goethe, Faust I)



    --



    Es ist nie zu spät - für Kreativität. (23:45 h)



    Und es war mir selten Pein,



    Die Kreativität beim Mondenschein...



    Chaos und Kreativität konnte ich mit Erfolg vereinen - bei der Programmierung von Systemen zur Verwaltung chaotischer Lagersysteme. 🌛🌀👜💻💼📆

  • „Dass Unordnung Kreativität anregt, ist wissenschaftlich bewiesen“ … ich lach mich in den Keller, es gibt ja noch nicht mal eine wissenschaftliche Definition von „Kreativität“.

    Die Unterschiede in Ordnung, Sauberkeit usw. sind doch völlig OK. ein Abbild des Lebens und der unterschiedlichen Lebewesen.

  • Früher galt auch Drill und Zwang zur Ordnung -wie z.B. bei der Bundeswehr (wahrscheinlich analog auch bei der NVA) - nicht als anstößig, sondern wurde den Betroffenen auch noch verkauft als "gute Schule für das Leben".



    Abweichlertum wie Verweigerung, Punk u.a. waren der "Schrecken" der sich selbst in Ordnung versichernden Gesellschaft.



    Wie viel Potenzial an Kreativität wohl "in Ketten gelegt" wurde von bornierten PedantInnen?

    • @Martin Rees:

      „Wie viel Potenzial an Kreativität wohl "in Ketten gelegt" wurde von bornierten PedantInnen?"



      Und nicht nur das. Die USA führen der Welt zur Zeit live und in Farbe vor, wie ein „Oberbefehlshaber" das Gehorsams- und Zwangssystem Militär und Nationalgarde benutzen kann, um einen Putsch durchzuführen. Die Frauen und Männer in Uniformen und Tarnfleck, die führen halt Befehle aus. So geht das.



      Die Menschheit ist nur zu retten durch Bildung, Bildung, Bildung - und durch Erziehung zum Ungehorsam.

    • @Martin Rees:

      Wer kann sich parallel angeordnete Pinsel u. Utensilien im rechten Winkel angeordnet im Atelier v. Hundertwasser o. Picasso vorstellen?



      "Das Atelier als Ort einer Inkubationsphase von Kunst erfordert ein Warten ohne zu erwarten und eine Sinnsuche ohne zu denken. Der Prozess des inneren Verarbeitens wandelt Material in eine neue, noch unbekannte Form. Die Dinge kommen ins Gären. Das verlangt nach einer Zeit, die unbeschleunigt bleibt. Das Wandlungsmoment zur Manifestwerdung von Kunst ereignet sich autonom und unbemerkt, stellt sich unwillkürlich und unmerklich ein. Die Masse, Unübersichtlichkeit und Ungeordnetheit des Materials lastet schwer und verlangt nach einer innerpsychischen Klärungs- und Bewältigungsarbeit im Umgang mit Unbehagen, Unruhe, Ängsten, Anspannung, Depression und Zerrissenheit."



      Die eigene Ordnung anderen aufzuzwingen, das zeigt im Privaten eine teils übergriffige Geisteshaltung, die eine Antwort verlangt, wenn es um die Freiheit der künstl. Entfaltung geht.



      PedantInnen sind selten nachsichtig aber häufig abwertend.



      www.kunstforum.de/...lier-als-manifest/



      "Aus aller Ordnung entsteht zuletzt Pedanterie; um diese loszuwerden..."



      J. W. v. Goethe

  • Unordnung und Dreck sind sehr unterschiedliche Dinge. Wenn der dreckige Abwasch mit Wasser "eingeweicht" in der Spüle vor sich hin rottet, ist das nicht nur ekelhaft, sondern eine Gesundheitsgefahr. Auch die "Borger-Kultur" mancher WG-Mitglieder geht zu weit. Was anderen gehört, daran hat sich niemand zu bedienen. Einem Freund wurde in der WG mal der Wecker weggenommen, weil jemand anderes in "brauchte". Der Freund hat verschlafen und mächtig Ärger auf der Arbeit bekommen. Es soll auch WGs geben, die funktionieren. Bislang habe ich keine kennengelernt.

  • Leute, diese Kolumne kann unmöglich euer Ernst sein.

  • Wahrscheinlich wundert sich die Autorin, warum die Wohngemeinschaften nicht lange halten.

  • Solange die Unordnung nur die eigenen vier Wände betrifft, geht mich das nichts an und ist mir auch egal. Sobald ich aber im engen Umfeld mit anderen. z.B. einem Mehrfamilienhaus, zusammenlebe ist eine Ordnungsgebende Regelung unabdingbar, da alle davon profitieren. Oder möchten sie es einfach zur Kenntnis nehmen, das Nachbars Hund immer vor die Wohnungstüre kackt, das die Müllabfuhr die Biotonne stehen lässt, weil jemand Plastikmüll darin entsorgt hat oder der Nachbar regelmäßig die Musikanlage abends bis zum Anschlag aufdreht ohne Rücksicht auf die Mitbewohner? Die Liste lässt sich ohne weiteres um viele Punkte erweitern. Meine persönliche Freiheit -auch was Ordnung betrifft endet da, wo rechte anderer eingeschränkt werden. Dann gibt es Regelungen, die auch der Ordnungschaot zu respektieren hat.

    • @Krumbeere:

      Schade, dass die Erkenntnis über persönliche Freiheit ein Geheimnis ist, das nur wenige kennen.



      Regeln, die ein Zusammenleben überhaupt erst möglich machen, werden leider immer weniger eingehalten und - noch wichtiger - durchgesetzt.

  • Tja, dann würde ich sagen, ausziehen und sich was Eigenes suchen.



    Oder Schmerzgrenzen beiderseits klar definieren und es über den Kompromiss versuchen.