Lob der Küche: Sie ist zum Leben da
Der wahre Mittelpunkt der Wohnung ist die Küche. Vom Arbeitsplatz der Hausfrau wurde sie zum offenen Raum, in dem vieles ausgehandelt wird.
Wie bei den meisten Menschen beginnt mein Tag morgens in der Küche, wo ich mit zerknittertem Gesicht zuallererst zur Espressokanne stolpere. Der Tag endet auch hier bei einem Abendtee, der manchmal beim Einschlafen hilft – und manchmal nicht. Hier wird nicht nur Tee, Kaffee und Essen gekocht, hier passiert noch viel mehr. Ich glaube, dass die Küche der Mittelpunkt der meisten Wohnungen ist, der Raum, in dem das Leben spielt, an dem sich zeigt, was in der Gesellschaft passiert.
Und weil das so ist, habe ich in Küchen schon so gut wie alles erlebt: Küsse und Trennungen, Geburtstage und Abschiede, genussvolles Essen und den Weg des Essens wieder heraus, weil es in zu viel Schnappes schwamm. Die Küche ist ein sehr intimer Raum – zeig mir deine Küche, und ich sag dir, wer du bist – doch gleichzeitig auch ein öffentlicher Raum, in dem Gäste bewirtet und geschäftliche Telefonate geführt werden. Die besten Partys, das ist weithin bekannt, enden in der Küche. Hier wird auf Socken getanzt und in Schuhen geplaudert.
Küchen, die so offen sind wie heute, gab es natürlich nicht immer. Bis in die 1970er war die (westdeutsche) Küche vor allem der Arbeitsplatz der Hausfrau. Noch mein Opa betrat die Küche immer nur dann, wenn meine Oma wegen Krankheit nicht kochen konnte – und stellte dort seine für diese Ausnahmefälle vorgesehenen Reibekuchen her. Gleichzeitig wusste schon meine Oma, dass in diesem Raum die Musik spielt, im wahrsten Sinne des Wortes: Sie hatte von früh bis spät dort das Radio laufen, holte sich damit die Welt in die Küche. In meiner Kindheit hatte sich diese Rollenverteilung ein wenig aufgelöst, mein Papa kümmerte sich ums Essen, hinterließ die Küche aber wie ein Schlachtfeld.
Heute habe ich einige WG-Küchen hinter mir und weiß, dass Gleichberechtigung sich vor allem in diesem Raum zeigt: Es gibt Küchen, in denen ein kleiner Küchendiktator die Entscheidungsgewalt innehat, aber auch solche, in denen gemeinsam geschaffenes Chaos herrscht, das von allen konsequent ignoriert wird. Es gibt Ticks, die das gemeinsame Kochen erschweren, und Raubüberfälle auf Leckereien, die mit Beschriftungen oder im äußersten Fall mit Spucke geschützt werden müssen.
Immer eine Portion für Gäste
Es gibt Küchen, die offen für alle sind, in denen immer eine Portion mehr für spontane Gäste bereitsteht. Aber auch in gastfreundlichen Küchen bricht hin und wieder eine Mottenplage aus oder Streit vom Zaun, weil der Mitbewohner immer so kocht, dass sich an den Wandfliesen neben dem Herd der Speiseplan der letzten Woche ablesen lässt.
Genau in solchen Situationen zeigt sich, wer bereit ist, Marotten auszuhalten, weil die Gemeinschaft zählt, weil es hier die lustigsten Tanzeinlagen und tiefsinnigsten Nachtgespräche gibt, weil auf das Schnipsen der Streichholzschachtel über den Esstisch der größtmögliche Lachflash folgt und auf den Streit über den Platz des Sparschälers der versöhnlichste Sex.
Es muss ausgehalten werden
In jeder Küche muss ausgehalten werden, dass alle, die sie nutzen, anders sind, wie es eben in der Gesellschaft auch ist. Klar, das macht es anstrengend – wer übersieht schon gern den Stinkekäse im Kühlschrankfach der Mitbewohnerin? Andererseits: Wer verzichtet gern auf die gemeinsamen Geschichten, die so eine Küche schon erlebt hat und für die viele Gegenstände Zeugen sind?
Dabei sind es oft nicht die teuren Maschinen oder das edle Geschirr, die solche Geschichten erzählen, sondern die kleinen Dinge: Das Salztöpfchen, das in ganz Kopenhagen gesucht und von dort mitgebracht wurde, der liebevoll angeklebte Griff einer uralten Tasse, der ihr langes Leben anzusehen ist, der Topf, in dem die köstlichsten Nudeln aller Zeiten unter verliebten Blicken zubereitet wurden, die eingerahmte Kolumne einer Autorin, die so ziemlich das kann, wo ich als Schreiberin eines Tages hinkommen will.
Küche gewinnt an Bedeutung
Ich glaube, dass die Küche in der Zeit der Pandemie und im Winter, wenn die Heizkosten uns sorgen, wieder an Bedeutung gewonnen hat: Weil Essen auswärts nicht erlaubt war, entdeckten viele während der Lockdowns das Kochen für sich. Ich zum Beispiel verpackte den Frust und die Einsamkeit in Aufläufe und Kuchen, die ich Abend für Abend in den Ofen schob, um wenigstens irgendwas gebacken zu bekommen. Andere legten sich einen Leihgarten an oder kauften regionale Lebensmittel beim Bauernhof im ländlichen Umkreis.
Als die Gaspreise stiegen, war die Küche schlicht der wärmste Raum in meiner mäßig isolierten Wohnung. Ich habe hier praktisch alles gemacht – gearbeitet, gekocht, gegessen, geliebt, gelacht. Bei Kerzenschein, dem laufenden Backofen und den 120 Watt Wärmeleistung pro Person entwickelten sich hier alle möglichen Gespräche. Nun kommt der Winter bald wieder, und ich habe nie aufgehört, hier die meiste Zeit zu verbringen. Dass offene Wohnküchen sich durchgesetzt haben, ist sowohl in Wohnungen als auch in Möbelgeschäften nicht mehr zu übersehen: Wer durch Ikea streift, sieht, dass selbst die schlauchigste Küche noch über einen gemütlichen Sitzbereich verfügen soll. Die Botschaft wird deutlich: Die Küche ist zum Leben da!
Idee der offenen Küche
Nun gibt es natürlich architektonisch offene Küchen, in denen sich trotzdem Menschen aufhalten, die in Sachen Offenheit noch eher in den 1960ern leben. Ob es sich um eine offene, gleichberechtigte Küche handelt, entscheidet sich vermutlich nicht am Innenleben der Küche, sondern an dem ihrer Nutzer*innen. Die Idee einer offenen Küche, die ein Lebensmittelpunkt ist, setzt sich hoffentlich weiter durch.
Damit eines Tages auf jedem Küchentisch kommentar- und bedingungslos ein Teller mehr für Gäste gedeckt wird, damit alle hier nicht nur Chaos, sondern auch Ordnung reinbringen, damit kleine Küchendiktatoren auch für Langsam-Schnibbler*innen Platz machen und damit sich eines Tages alle für die Lebensmittelmotten verantwortlich fühlen. Diesen Text übrigens habe ich– wo sonst? – in der Küche verfasst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung
Aktionismus nach Magdeburg-Terror
Besser erst mal nachdenken