Liz Truss tritt zurück: Premierministerin für sechs Wochen
Die britische Regierungschefin zieht die Konsequenzen. Bis Freitag kommender Woche wollen die Tories über ihre Nachfolge bestimmen.
Bereits am Dienstagabend hatte Truss sich mit der mittlerweile zurückgetretenen Innenministerin Suella Braverman über die Einwanderungspolitik zerstritten. Am Mittwoch war es dann zu hässlichen Szenen vor den Wahlkammern des Unterhauses gekommen. Politische Beobachter hatten seitdem stündlich mit dem Rücktritt der angeschlagenen Premierministerin gerechnet.
Sie sei Premierministerin zu Zeiten großer wirtschaftlicher und internationaler Instabilität geworden, sagte Truss in einer kurzfristig anberaumten Ansprache in der Downing Street. In Zeiten, in welchen sich Familien Sorgen um die Kosten ihrer Haushaltsrechnungen machten und Wladimir Putins illegaler Krieg in der Ukraine die Sicherheit des gesamten Kontinents bedrohe. Mit einem Mandat ihrer Partei habe sie den Zustand des durch niedriges Wachstum geschwächten Landes umkrempeln wollen. Sie habe ihre Versprechen bezüglich der Energiekosten eingehalten.
Truss sagte, sie habe die Vision eines Landes mit niedrigen Steuern und großem Wachstum gepflegt, in welchem man sich die Freiheiten des Brexits zum Vorteil machen würde. Dann sagte sie: „Ich erkenne hiermit an, dass ich das Mandat, für das ich gewählt wurde, nicht erfüllen kann.“ Sie habe deswegen König Charles III. mitgeteilt, dass sie zurücktreten werde. Die Partei werde bis Ende kommender Woche einen neuen Parteiführer wählen. Bis diese Person antrete, werde sie die Regierungsgeschäfte weiter leiten.
Boris Johnsons Name kursiert als Nachfolger
Unter den potenziellen neuen Kandidaten sind Figuren aus dem Wahlkampf um den Tory-Vorsitz aus dem Sommer: Tom Tugendhat, Kemi Badenoch und Suella Braverman. Spekuliert wird außerdem darüber, ob Rishi Sunak, der im Sommer gegen Truss unterlegen war, es nochmal versucht. Auch der Name Boris Johnson kursierte wieder. Der Ex-Premier macht gerade Urlaub in der Karibik.
Truss hatte ihren Rücktritt nach einem langen Gespräch mit Sir Graham Brady erklärt, dem Vorsitzenden des 1922-Hinterbänkler:innenkomitees. Die Gruppe hat die Macht, Vertrauensabstimmungen über den konservativen Parteichef und damit über den aktuellen Premierminister anzusetzen.
Brady hatte über die vergangenen Tage zahlreiche Gesuche von Abgeordneten erhalten, die Truss' Rücktritt forderten. Wie viele das insgesamt taten, ist nicht bekannt, nur 15 Tory-Abgeordnete machten ihren Ärger über die Premierministerin öffentlich. Das Komitee hatte am Donnerstag beschlossen, sollten mehr als 50 Prozent der Abgeordneten Truss’ Rücktritt fordern, sie dieser Forderung nachgehen würden. Brady sagte nach Truss’ Rücktritt, dass die Partei zwei Kandidat:innen zulassen werde, von denen dann einer übrig bleibe. Parteimitglieder würden konsultiert werden, was womöglich in Form eines Verfahrens online geschehen könnte.
Der Rücktritt folgte der Wirtschaftskrise, die Truss und ihr damaliger Finanzminister mit ihrem „Mini-Budget“ am 28. September ausgelöst hatten. Dies hatte zu einem Fall des Pfunds geführt, den Rentenfonds gefährdet und höhere Hypothekenzinssätze herbeigeführt. Die britische Zentralbank musste regulierend einschreiten. Als Folge entließ Truss ihren Finanzminister Kwasi Kwarteng am 14. Oktober und ernannte Jeremy Hunt zum Finanzminister. Dieser kündigte die Rücknahme des Finanzplanes an, den Kwarteng gemeinsam mit Truss geschnürt hatte. Viele fragten, weshalb Truss glaubte, diesen Schlingerkurs politisch überleben zu können. Noch am Mittwoch behauptete sie sich tapfer in der wöchentlichen Fragestunde gegen Labourchef Keir Starmer mit den Worten: „Ich bin eine Kämpferin, keine Versagerin!“ Doch Stunden später änderte sich alles.
Unerwarteter Rücktritt der Innenministerin
Als William Wragg, ein konservativer Hinterbänkler, nach der Fragestunde am Mittwoch ankündigte, dass er aufgrund der von Truss verursachten Wirtschaftskrise dem 1922-Komitee sein Misstrauen gegenüber Liz Truss erklärt habe, schien alles nicht weiter dramatisch. Kurz darauf wurde aber bekannt, dass Innenministerin Suella Braverman unerwartet zurückgetreten war. Braverman hatte Anfang Oktober angegeben, sie wolle die Einwanderung nach Großbritannien auf wenige Zehntausend Menschen reduzieren, ein Gelübde, das sich unter konservativen Vorgängerregierungen bereits als nicht umsetzbar erwiesen hatte. Truss soll mehr Einwanderung für wirtschaftliches Wachstum gefordert haben.
Während Truss den ehemaligen Verkehrsminister Grant Shapps als neuen Innenminister ernannte – Truss hatte ihn zum Beginn ihrer Regierung absichtlich übersehen, weil Shapps sich im Wahlkampf um die Parteiführung für Rishi Sunak eingesetzt hatte – lief im Unterhaus eine Debatte zu Fracking. Drei konservative Hinterbänkler:innen gaben dabei an, dass sie nach ihrem Gewissen und im Interesse ihrer Wahlgemeinden stimmen würden, selbst wenn dies ihren Ausschluss aus der Fraktion bedeuten würde.
Plötzlich wurde dann, so weit man zu diesem Zeitpunkt verstand, angeblich der Fraktionszwang gelöst, zunächst durch eine Aussage des Energieministers Jacob Rees-Mogg, doch dann auch „offiziell“ aus der Downing Street. Kurz vor der eigentlichen Abstimmung dann ein Tweet des Labour-Schattenministers für Schottland: „Noch nie habe ich Szenen wie diese am Eingang der Wahlzonen im Unterhaus erlebt. Die Torys führen offenen Kampf. Drängeleien und (Energieminister) Rees Mogg schreit seine Kolleg:innen an. Die Verantwortlichen für den Fraktionszwang brüllen Torys an. Sie (die Torys) sind Geschichte. Ruft Neuwahlen aus!“
Kurz nach dieser Meldung gewann die Regierung die Abstimmung mit 326 zu 230 Stimmen. Nachdem das Ergebnis verkündet wurde, meldete sich der Labourabgeordnete Chris Bryant zu Wort und forderte vom Vorsitzenden des Unterhauses eine Untersuchung der Abstimmung. Man habe Einschüchterung, Mobbing und Gewaltanwendung beobachtet. Alexander Stafford, einer der Abgeordneten, der angeblich zur Wahl gezerrt worden sei, dementierte später, dass man ihn zur Abstimmung gezwungen habe. Es habe sich lediglich um eine Meinungsverschiedenheit gehandelt.
Der langjährige Tory-Abgeordnete Charles Walker bezeichnete das Geschehen als erbärmlich. „Es ist ein heilloses Durcheinander und eine absolute Schande. Ich hoffe, dass es sich für jene gelohnt hat, die Truss in Nummer 10 Downing Street gebracht haben und jetzt am Kabinettstisch sitzen dürfen.“
Um 1.30 Uhr verkündete Downing Street am Donnerstag, dass es nie einen Fraktionszwang in der Fracking-Frage gegeben habe und dass dies falsch verkündet worden sei. Das bedeutete für die 40 konservativen Abgeordneten, die sich ihrer Stimme enthielten, darunter auch die Ex-Premiers Johnson und Theresa May, sowie Ex-Finanzminister Kwasi Kwarteng, aber ironischerweise auch für Truss, dass sie sich nichts zuschulden hatten kommen lassen.
Im Laufe des Donnerstags stieg die Zahl der Abgeordneten, die offiziell Briefe an das 1922-Committee geschickt hatten, auf 15 an. Im Unterhaus wollten Torys aus dem rechten Lager wissen, ob Braverman gegangen sei, weil man die Einwanderungspolitik aufweichen wollte, während der Sprecher des Unterhauses eine Untersuchung zu dem Chaos vor der Abstimmung am Mittwoch einleitete.
Kurz vor ihrem Rücktritt teilte 10 Downing Street in einer Pressemitteilung noch mit, dass Truss im Amt bleibe. Auch das stellte sich als falsch heraus.
Labour fordert Neuwahlen
Labourchef Keir Starmer gab nach ihrem Rücktritt an, dass die konservative Partei kein Regierungsmandat mehr besitze. Eine Neubesetzung der Regierungsführung ohne Neuwahlen sei, wie Großbritannien als ein persönliches Lehnsgut zu behandeln. Die Torys führten das Land, wie sie wollten. „Die britische Öffentlichkeit muss die Möglichkeit haben, das Chaos der Torys mit Labours Plänen zu vergleichen, welche die Wirtschaft für arbeitende Menschen ankurbeln will und das Land in Richtung einer faireren, grüneren Zukunft aufbauen möchte. Wir fordern sofort Neuwahlen!“
Auch die Liberaldemokrat:innen und die schottischen Nationalist:innen forderten deshalb sofortige Neuwahlen. Sollte es dennoch nicht dazu kommen und die Torys mit einem neuerlichen Wechsel an der Parteispitze einen konservativen Premierminister des Vereinigten Königreichs einsetzen, wird diese Person das fünfte Regierungsoberhaupt innerhalb von sechs Jahren sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben