piwik no script img

Linker Ökonom über Erdoğans Politik„Türkei kommt nicht am IWF vorbei“

Was die türkische Wirtschaft in Schwierigkeiten gebracht hat, was noch zu retten ist und wie die Krise schlimmstenfalls ausgeht, erklärt Mustafa Sönmez.

Beim Bau des neuen Istanbuler Flughafens haben sich türkische Firmen hoch im Ausland verschuldet Foto: afp
Jürgen Gottschlich
Interview von Jürgen Gottschlich

taz: Herr Sönmez, am heutigen Donnerstag wird die türkische Zentralbank über ihre Leitzinsen entscheiden. Alle Welt erwartet eine signifikante Erhöhung zur Stabilisierung der türkischen Lira und der Bekämpfung der Inflation. Womit rechnen Sie?

Mustafa Sönmez: Die Zentralbank ist wie eine Blackbox. Man weiß nicht genau, nach welchen Erwägungen sie ihre Entscheidungen ausrichtet. Aber da wir wissen, dass Präsident Recep Tayyip Erdoğan ein Gegner hoher Zinsen ist, rechne ich damit, dass sie die Leitzinsen höchstens um ein oder zwei Punkte erhöht.

Wird das reichen, um einen weiteren Wertverlust der Lira zu verhindern? Allein in diesem Jahr hat sie ja schon 40 Prozent gegenüber dem US-Dollar verloren.

Auf keinen Fall. Ausländische Experten sagen, 4,5 bis 5 Punkte müssten es schon sein, um kurzfristig ein weiteres Abrutschen der Lira zu verhindern. Ich fürchte aber, jede Intervention der Zentralbank kommt längst zu spät. Spätestens als der Dollar mehr als 5 Lira kostete, hätte die Zentralbank die Leitzinsen massiv erhöhen müssen. Jetzt kostet der Dollar 6,5 Lira, und es geht gegen 7 Lira. Vielleicht könnte ein Schock wie die Erhöhung der Leitzinsen um mehr als 10 Punkte noch etwas retten, aber ich bin skeptisch.

Finanzexperten glauben, dass einige türkische Banken ihre Dollarschulden nicht mehr bedienen können, wenn der Wechselkurs auf mehr als 7 Lira für den Dollar steigt. Bankenpleiten seien dann unvermeidlich. Was sagen Sie?

Im Interview: Mustafa Sönmez

ist Journalist, Autor und Ökonom. Er lebt in Istanbul und arbeitet als wissenschaftlicher Berater für Gewerkschaften und Berufsgenossenschaften.

Ein solcher Wechselkurs würde erst einmal etliche große Firmen, die große Dollarschulden haben, in massive Schwierigkeiten bringen. Große türkische Holdings, wie beispielsweise die vier, die den neuen gigantischen Flughafen in Istanbul bauen und dafür viel Geld im Ausland geliehen haben, könnten pleitegehen. Das würde dann im zweiten Schritt natürlich auch die Banken, mit denen sie zusammenarbeiten, in Schwierigkeiten bringen. Im Unterschied zur letzten großen Wirtschaftskrise der Türkei 2001 sind jetzt nicht die Schulden des Staates, sondern die Schulden von Privatunternehmen das große Problem. Rund 70 Prozent aller Auslandsschulden liegen im Privatsektor. Angeblich werden bis Mitte 2019 101 Milliarden Dollar Schulden fällig. Das wäre nur mit neuen Darlehen zu stemmen, aber türkische Firmen finden keine ausländischen Geldgeber mehr.

Was kann den Zusammenbruch dann noch verhindern?

Die Türkei muss den Internationalen Währungsfonds um Unterstützung bitten. Nur vom IWF können jetzt noch Kredite in relevanter Höhe kommen. Das sage nicht nur ich, auch der deutsche Finanzminister hat seinem türkischen Kollegen das ja bereits nahegelegt.

Jahrelang ist die türkische Wirtschaft unter der Regierung von Erdoğan enorm gewachsen, die Bevölkerung wohlhabender geworden. Warum klappt es jetzt nicht mehr?

Zum einen hat Erdoğan damals den Reformplan, den die Vorgängerregierung mit Unterstützung des IWF auf den Weg gebracht hatte, einfach weiter umgesetzt, das war wichtig und richtig. Entscheidend aber war, es gab von 2002 bis 2012 weltweit viel billiges Geld, das Anleger in den Schwellenländern investiert haben. Erdoğan hat von dieser ökonomischen Ausnahmesituation sehr profitiert. Dann haben sie allerdings den Fehler gemacht, das Geld hauptsächlich in den Bausektor und in Infrastrukturprojekte zu stecken, statt in der Türkei eine Produktion auszubauen, die international wettbewerbsfähig ist. So war die Türkei nie in der Lage, genug im Ausland zu verkaufen, sie hat immer mehr importiert als exportiert und war auf Nachschub an ausländischem Geld angewiesen. Als sich abzeichnete, dass Anleger ihr Geld wieder eher in den USA investierten, hat die türkische Regierung keine Vorkehrungen getroffen. Jetzt zeigen alle Indikatoren an, dass das Wachstum einbricht.

Was tut die Opposition, was machen die Gewerkschaften?

Die Opposition ist uneffektiv und lässt sich von der Regierungspropaganda, es handle sich um einen Wirtschaftskrieg der USA gegen die Türkei, noch in die „nationale Pflicht“ nehmen. Die Folgen werden eine steigende Inflation und höhere Arbeitslosigkeit sein. Auf die Türkei kommt eine Armutswelle zu.

Rechnen Sie damit, dass die Regierung deshalb in Schwierigkeiten gerät?

Nicht wirklich, die meisten Menschen nehmen Erdoğan ja die Erzählung von der ausländischen Verschwörung gegen die Türkei ab. Außerdem hat der Präsident ja schon häufiger gezeigt, dass er flexibel ist. Erdoğan wird am Ende den IWF holen, und wenn das eine Verständigung mit US-Präsident Donald Trump voraussetzt, wird auch die kommen. Er wird versuchen, Hilfsmaßnahmen des IWF bis nach den Kommunalwahlen im März 2019 zu verzögern, aber letztlich kommt die Türkei nicht am IWF vorbei.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

4 Kommentare

 / 
  • 9G
    91690 (Profil gelöscht)

    Letzter Ratschluss Erdogans wird sein, dass er die EU erpresst entweder Geld oder ich schicke die Flüchtlinge weiter.

  • Hier ist fraglich, ob eine Herzmassage einen Gehirntoten zum Leben erweckt.

    Der Staat ist nicht zu retten. Alles wird auf den Führer zugeschnitten und mit einer Ideologie unterfüttert.

    Es schön von Menschen zu lesen, die in ihren Fachgebieten sich ein gewisses Grad an wissen angeeignet haben und versuchen zu hoffen, dass es anders kommt.

    Jedoch wird hier die Komponente Mensch außer acht gelassen.

    Schauen wir nach Syrien?



    Schauen wir in den Osten der Türkei?



    Schauen wir durch die Brille eines Fundamentalisten?



    Schauen wir durch die Brille der grauen Wölfe?



    Welche Kompetenz bringt das Bildungswesen?

    Ich hoffe nicht, dass Deutschland einen Gehirntoten wieder versucht fast 150 Jahre am Leben zu erhalten. In den 150 Jahren wurden mehr als eine Million Menschen getötet und bei dieser Zahl sind die Armenier nicht enthalten.

  • 9G
    9076 (Profil gelöscht)

    Warum kann nicht das von Brics-Staaten ins Leben gerufene Pendant, die New Development Bank einspringen?

  • Die Türkei wird nicht nur markoökonomisch durch fällige Kredite und einen schlechten Lira-Kurs getroffen, die Ausgrenzung von leistungsfähigen Menschen durch die AKP und Erdogan bringt auch noch Dilettantismus auf ganzer Linie ins Spiel. Der Staat selbst dürfte erheblich an Wirkungsfähigkeit verlieren. Sei es im Bildungsbereich, vor allem an Hochschulen, Universitäten aber auch ganz banal in Schulen wird es diesem Land extrem schwer fallen, leistungsfähige Arbeitnehmer hervorzubringen, zumal die nationale Ausrichtung auch die Emanzipation und Arbeitsfähigkeit von Frauen langfristig einschränken wird. Dazu kommt dann noch eine gegen die Kurden gerichtete Politik, die es vielen qualifizierten Kurden schwer machen wird, gute Positionen zu besetzen, im Staat wird es besonders eng. Eine weitere offene Frage wird sein, ob die Deutsch-Türken mit Bildungsabschlüssen weiterhin sich für die Industrie in der Türkei werben lassen. Sollten diese Fachkräfte nicht mehr kommen, würde der Personalengpaß der Türkei schnell sichtbar werden.