Linke US-Demokraten: Die den Alten das Fürchten lehrt
Alexandria Ocasio-Cortez ist Latina. Sie war Bardame, Kellnerin und Sozialarbeiterin. Jetzt tritt die Linke bei den Parlamentswahlen an.
Die 28-Jährige lacht über solche Mahnungen. „Panikmache“ wischt sie es weg, „das hat nichts mit den Bedürfnissen der Wähler zu tun“. Wenn nicht etwas ganz Unerwartetes geschieht, wird sie im nächsten Januar als jüngste Frau der Geschichte für die DemokratInnen in das Repräsentantenhaus einziehen. Schon jetzt ist sie der Star unter den progressiven KandidatInnen im Wahlkampf.
Als sie in New York City zur Welt kam – mit einer Mutter aus Puerto Rico und einem Vater aus der Bronx – hatte die Mauer von Berlin noch exakt drei Wochen und sechs Tage vor sich. Der real existierende Sozialismus, die Sowjetunion, die Übungen in der Schule, bei denen die Kinder zum Schutz vor Atombombenangriffen unter ihre Pulte kriechen mussten – all das ist Prähistorie für sie. Berührungsängste mit Worten, die einst in den USA Schimpfworte waren, hat sie nicht. Sie beschreibt sich als Frau „aus der Arbeiterklasse“ und ist Mitglied der Democratic Socialists of America (DSA), einer Gruppe, die eines Tages den Kapitalismus überwinden will.
Eine neue Generation
Ihre Generation ist von Erfahrungen nach dem Ende des Kalten Kriegs geprägt. Alexandria Ocasio-Cortez war 11 Jahre alt, als die Flugzeuge in die Türme des World Trade Center am Südzipfel ihrer Stadt flogen und die USA den „Krieg gegen den Terror“ eröffneten. Sie war 17, als die Finanzkrise Millionen Mittelschichtfamilien um Arbeit, Haus und ihre kompletten Ersparnisse brachte. Und sie war gerade volljährig, als der erste afroamerikanische Präsident des Landes mit dem Versprechen von Hoffnung und Veränderung antrat. Dann kam Donald Trump.
Am 26. Juni gewann die bis dahin unbekannte Alexandria Ocasio-Cortez mit 15 Prozent Vorsprung die Primaries der Demokratischen Partei in dem vielfältigsten Wahlkreis, den die USA zu bieten hat. Der Distrikt 14 erstreckt sich im Nordosten von New York von der südlichen Bronx über das nördliche Queens. Spanisch ist die erste Muttersprache. Weiße sind in der Minderheit. 20 Prozent der Kinder und 16 Prozent der RentnerInnen leben unter der Armutsgrenze. Republikaner haben in Distrikt 14 keine Chance. Die Demokratische Partei hat den Wahlkreis fest im Griff.
Alexandria Ocasio-Cortez über ihre Nominierung
Die große Öffentlichkeit nahm das Gesicht von Alexandria Ocasio-Cortez zum ersten Mal an dem Abend wahr, als sie mit vor Staunen weit aufgerissenen Mund und Augen ihren Wahlsieg auf einem Bildschirm sah. Niemand hatte ein solches Ergebnis bei den Vorwahlen unter den Demokraten erwartet. Die MeinungsforscherInnen hatten sie als haushohe Verliererin eingeschätzt. Die Demokratische Partei wägte sich mit dem 56-jährigen Amtsinhaber Joe Crowley in Sicherheit. Er saß seit 20 Jahren im Repräsentantenhaus; seine engen Kontakte zur Wall Street machten ihn zu einem der besten Fundraiser der DemokratInnen, und er war parteiintern bereits für höhere Positionen im Gespräch. Crowley lebt zwar längst nicht mehr in Distrikt 14, sondern in einer Vorstadt von Washington, aber seine Position schien so unanfechtbar, dass sich jahrelang keinE DemokratIn traute, gegen ihn anzutreten.
Als Alexandria Ocasio-Cortez ihn herausforderte, nahm Crowley das zunächst nicht ernst. Bei der ersten Debatte mit ihr ließ er sich von einer befreundeten demokratischen Politikerin vertreten. Erst zur zweiten Debatte erschien er persönlich. Aber es gelang ihm nicht, neben Alexandria Ocasio-Cortez zu bestehen. Er war der Mann des Status quo. Sie fand Worte für die Veränderungen, nach denen die WählerInnen verlangen. Und sie wusste, wie die WählerInnen in Distrikt 14 leben. Schließlich ist sie selbst Latina und teilt das Misstrauen gegen den Apparat der Partei. Zu ihrem Repertoire gehört auch die Sprache radikaler Linker, die ein demokratischer Apparatschik wie Crowley unmöglich benutzen kann. Und wenn weder ein Mikrofon noch ein Megafon vorhanden ist, greift Alexandria Ocasio-Cortez zu dem subversiven „Mic Check“, das die Occupy-Wall-Street-Bewegung von 2011 benutzt hat. Dabei sagt einE RednerIn ein paar Worte, und die Menschen um sie herum wiederholen sie so lange, bis alle sie gehört haben.
Ohne Geld der Konzerne auskommen
Zweieinhalb Monate nach ihren Primaries steht Alexandria Ocasio-Cortez wieder vor WählerInnen in der Bronx. Der Raum ist brütend heiß, die Ventilatoren machen einen Höllenlärm und die Tonanlage ist ausgefallen. Auf dem grünen Kleid der jungen Frau sind Schweißflecken zu erkennen. „Wir haben eine politische Maschine entmachtet“, ruft sie unter dem Jubel der Anwesenden, „es war People Power gegen das Geld der großen Konzerne.“
Als Crowleys’ Wahlkampfkasse bereits mit 3 Millionen gefüllt war, hatte Alexandria Ocasio-Cortez nur 300.000 Dollar in kleinen Spenden von Privatpersonen gesammelt. Es war ein ungleicher Kampf. Aber Alexandria Ocasio-Cortez will ihn genau so fortsetzen. Sie verspricht, dass sie auch in Zukunft kein Geld von Konzernen annehmen wird. Im Raum sitzen braune, schwarze und weiße Leute, fast alle sind jung, viele sind seit Trumps’ Wahl immer wieder auf die Straße gegangen. Andere sind an diesem Abend zum ersten Mal überhaupt bei einer politischen Veranstaltung. Aber Alexandria Ocasio-Cortez’ Verzicht auf Geld von Unternehmen betrachten alle als überzeugend. Sie wissen, dass Geld korrumpiert, und dass PolitikerInnen, die Millionen von ImmobilienspekulantInnen kassieren, allenfalls während des Wahlkampfs über Mietpreiskontrollen sprechen.
„Die Bronx ist ein hartes Pflaster“, sagt Diana Finch von der Gruppe „Bronx Progressives“, die den Abend ausgerichtet hat, um neue AktivistInnen zu finden, „alles hier ist komplizierter. Es gibt Sprachbarrieren, viele Leute haben nie Staatsbürgerkundeunterricht gehabt, und selbst die Eintragung in das Wählerregister ist aufwendiger als anderswo.“ Das Team „Ocasio 2018“ hat um jedeN WählerIn einzeln geworben. Anstatt teure TV-Spots zu schalten, haben die AktivistInnen an Wohnungstüren geklopft, haben immer wieder die Notwendigkeit von Wahlen erklärt, und gegen das resignierte „es ändert sich ja doch nichts“ angeredet. Alexandria Ocasio-Cortez versteht Hartnäckigkeit und Geduld als Tugenden von AktivistInnen. Sie ist überzeugt, dass sich das Werben um jede Person lohnt – ganz egal wie gleichgültig, zynisch oder enttäuscht sie sein mag. „In meiner eigenen Familie gibt es Leute“, ruft sie in den brütend heißen Raum hinein, „die schon über 50 sind und noch nie gewählt haben.“ Dafür müsse sich niemand schämen.
Bevor sie Politikerin wurde, war sie Bardame, Kellnerin, Erzieherin, Sozialarbeiterin und Aktivistin. Sie hat in Boston einen Bachelor in Wirtschaftswissenschaften und internationalen Beziehungen gemacht und hat dort auch eine Weile im Büro des demokratischen Senators Ted Kennedy gearbeitet. Doch 2008 starb ihr Vater an Krebs und der Familie fehlte Geld. Sie kam nach New York zurück, um der Mutter zu helfen.
Mr. Trump spielt in ihrem Wahlkampf keine Rolle
Im Wahlkampf sind die Reden von Alexandria Ocasio-Cortez immer feuriger geworden. Sie verlangt eine bessere Ausstattung der Schulen, eine Strafjustizreform und die Auflösung der Ausländerpolizei ICE. Sie bedient ein breites Spektrum an Themen. Aber den Namen des US-Präsidenten erwähnt sie fast nie. Während andere DemokratInnen ihn in ihren Kampagnen als Feindbild benutzen, um sich selbst als besonders links darzustellen, konzentriert Alexandria Ocasio-Cortez sich auf konkreten Anliegen. Selbst in ihrem Video kommt Trump nicht vor. Der Film erzählt aus ihrem Leben – von einer Frau aus der Bronx, die „nicht dafür bestimmt war, in die Politik zu gehen“. Es ist eine Lowbudgetproduktion, die ein Team mit dem Namen „Produktionsmittel“ gedreht hat. Die Schauplätze sind Alexandria Ocasio-Cortez’ Wohnung, die Subway und Menschen und Straßen in der Bronx. Und der Film wurde zu einem unmittelbaren Klickerfolg.
Wie so oft ist Alexandria Ocasio-Cortez auch an diesem Abend in der Bronx eine der jüngeren und eine der zierlichsten Personen. Aber sie beherrscht den Raum, als hätte sie schon Jahre als Politikerin hinter sich. In einer Pause bildet sich eine Schlange von Leuten, die Selfies mit ihr machen und ihr Fragen stellen wollen. Die 15-jährige Anais möchte wissen, wie sie „in die Politik gehen“ kann. Sie bekommt den Rat: „Finde heraus, was die Community will.“ Die 75-jährige Vanessa Pastrano möchte eine Botschaft für Frauen in Puerto Rico filmen. Die Kandidatin schaltet auf Spanisch und spricht aus dem Stegreif eine aufmunternde Rede in das Handy. Auf Spanisch gestikuliert sie noch heftiger mit ihren Händen.
Aus der Spitze der Demokratischen Partei kommen gemischte Botschaften. „Die Partei muss sich ändern“, hat Alexandria Ocasio-Cortez angekündigt und hinzugefügt, dass sie nicht für die SpitzenfunktionärInnen stimmen wird, die seit Jahren die Fäden in der Hand halten. Viele Medien vergleichen den Wahlerfolg der linken Rebellin mit den Anfängen der radikalrechten Tea-Partyer, die in den Jahren vor Trump führende Abgeordnete der Republikanischen Partei verdrängten.
Für Tom Perez, den Chef der Demokratischen Partei, ist Alexandria Ocasio-Cortez „die Zukunft der Demokraten“. Aber die Chefin der Fraktion im Repräsentantenhaus, Nancy Pelosi, will ihr nur einen lokalen Erfolg in New York zugestehen, den sie für „nicht übertragbar“ hält. Der ehemalige Präsidentschaftskandidat, Senator Bernie Sanders, hingegen macht sofort gemeinsame Sache mit Alexandria Ocasio-Cortez. Unter anderem reisen die beiden zusammen nach Kansas, um dort gemeinsam einen demokratischen Sozialisten im Wahlkampf zu unterstützen.
Für Sanders sind die demokratischen SozialistInnen, die seine EnkelInnen sein könnten, eine späte Genugtuung. In seinen eigenen Primaries vor zweieinhalb Jahren hatte die letztlich erfolgreiche Hillary Clinton seine Basis die „Bernie Bros“ genannt und ihnen „Sexismus“ vorgeworfen. Doch zwei Jahre später tragen vor allem junge Frauen Sanders’ Botschaft.
Auch Alexandria Ocasio-Cortez half im Wahlkampf von Sanders. Nach dem Wahlsieg von Trump im November 2016 fuhr sie zu dem Protestlager im Sioux-Reservat „Standing Rock“, wo UreinwohnerInnen und städtische Linke in einer Zeltstadt gegen eine Ölpipeline demonstrierten. In der tief verschneiten Prärie im Mittleren Westen reifte, so sagt sie heute, ihre Entscheidung, den Kongress zu erneuern.
Amerikas Demokratische Sozialisten im Aufwind
Carlos Suarez hat die junge Frau erstmals bei einem Treffen von Bernie-Sanders-WahlhelferInnen getroffen, die über ihre Zukunft debattieren wollten. Seither kam sie zu den Sitzungen der Gruppe „Bronx Progressives“, die im Keller von Suarez’ Haus in der Bronx stattfinden. Nach Einschätzung des 68-Jährigen war die linke Rebellion fällig. „Die jungen Leute sind nicht mit der Abhängigkeit der Partei von Geld aus Konzernen einverstanden und wollen eine Demokratisierung“, sagt er. Der Linksruck wäre auf jeden Fall gekommen, glaubt Suarez. Aber Trumps’ Wahl beschleunigte ihn.
Hunderte KandidatInnen aus der Gruppe Democratic Socialistis of America (DSA) haben in diesem Sommer so wie Alexandria Ocasio-Cortez versucht, die demokratische Nominierung für Sitze im Repräsentantenhaus und in den Legislativen der Bundesstaaten zu bekommen. Mit dieser Strategie sind neben Ocasio-Cortez in New York auch Newcomer in Seattle, Boston und Michigan erfolgreich gewesen. An vielen anderen Orten haben die demokratischen Sozialisten die Primaries nicht gewonnen. Aber überall haben sie frischen Wind in den Wahlkampf der DemokratInnen gebracht. Und sie haben Themen – wie die Krankenversicherung für alle – zum Programm der Partei gemacht, die noch im letzten Präsidentschaftswahlkampf als „utopisch“ galten.
Bei den Halbzeitwahlen in den USA, den sogenannten Midterms, am 6. November diesen Jahres sind Tausende Positionen neu zu vergeben. In Washington wird das komplette Repräsen-tantenhaus mit 435 Sitzen und ein Drittel des Senats neu besetzt. In 36 Bundesstaaten und drei Territorien sowie fünf Großstädten werden GouverneurInnen, Abgeordnete, StaatsanwältInnen, SchulaufsichtsrätInnen und Ratsleute bestimmt. (dh)
Die Democratic Socialistis of America führte jahrzehntelang ein Schattendasein. Michael Harrington, der die Gruppe im Jahr 1982 gründete, wollte „die Macht der Konzerne schwächen und die Erwerbstätigen stärken“. Er bewunderte die Ostpolitik Willy Brandts. Und er machte die Democratic Socialistis zu einem Mitglied der Sozialistischen Internationale. Aber erst mit Trumps’ Wahl schossen die Mitgliederzahlen in die Höhe. Sie stiegen von nur 7.000 Mitgliedern im Sommer 2017 auf immerhin 70.000 Mitglieder in diesem September. Das mag zwar immer noch eine kleine Zahl in einem Land mit 320 Millionen EinwohnerInnen sein. Aber es macht die Gruppe zur größten sozialistischen Organisation in den USA seit einem Jahrhundert. Mit der Mitgliederexplosion ging auch eine dramatische Verjüngung einher. Das Durchschnittsalter der DSA-Mitglieder, das noch im Jahr 2013 bei 68 lag, ist inzwischen auf 33 Jahre gesunken.
Manche DSA-Mitglieder in New York haben sich in diesem Sommer in Studiengruppen getroffen, um gemeinsam Karl Marx und Rosa Luxemburg zu lesen. Ein paar diskutieren auch über die Kontrolle der Produktionsmittel.
Alexandria Ocasio-Cortez tritt sanfter auf. Sie bezeichnet Jacinda Ardern, die sozialdemokratische Premierministerin von Neuseeland, als Vorbild und Inspiration. Ihren eigenen Sozialismus definiert sie als „eine moderne moralische Gesellschaft, die es nicht zulassen kann, dass Menschen zu arm werden, um zu leben“. Und an das Ende ihrer E-Mails schreibt sie „Pa’lante“ – eine „Neyorican“-Version des alten sozialdemokratischen Rufs: Vorwärts! In dem konservativen Mainstream der USA ist das revolutionär genug.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen