Liebe zum Dartsport: Was für ein Spiel!
Wer nach dieser WM immer noch kein Fan von Darts ist, hat sich nie an einem Wurf probiert. Über die dramatische Kraft eines feinfühligen Sports.
Zweieinhalb Wochen Leben in der Parallelwelt sind vorbei. Draußen: Weihnachten, Jahresrückblicke, Silvester, Böller- und Migrationsdebatten. Ganz egal. Drinnen das hier: Nachmittagssession, Abendsession, 93 Männer und drei Frauen spielen um den Weltmeistertitel der Darts-WM in Londons Alexandra Palace, den alle kennerisch nur „Ally Pally“ nennen.
Gibt es eigentlich noch eine Sportart, bei der die Diskrepanz zwischen der notwendigen Konzentration der Athlet*innen und der Kulisse, die ihnen die Fans dafür schaffen, noch größer ist als beim Darts? Mentalsportarten, die eine hohe Hand-Auge- oder auch Kopf-Körper-Koordination erfordern, gibt es viele, vom Billard oder allen Schießsportarten bis zum Curling oder Petanque. Aber bei keiner dieser Sportarten versuchen 3.000 Betrunkene, so viel Lärm wie möglich zu veranstalten, während die Spieler*innen sich auf ihren Wurf konzentrieren. Wer Darts im Fernsehen sieht, sollte die Lautstärke hochdrehen.
Seit gut 50 Jahren ist Darts auch im Fernsehen zu sehen, damals zunächst nur in seinem Geburtsland Großbritannien. Bei der ersten live übertragenen Weltmeisterschaft 1978 warf der Waliser Leighton Rees einen Zehn-Darter, was damals neuer WM-Rekord im Fernsehen war. Der britische Kommentator merkte an: „Und er ist auch auf dem Weg zu einem anderen Rekord, das ist schon sein fünftes Pint Bier“. Ja, die Spieler tranken auf der Bühne.
Das ist lang vorbei. Darts hat sich zu einem ernst genommenen Sport entwickelt, heutige Topspieler lassen sich von Mental-Coaches beraten. Das hat schon dem deutschen Gabriel Clemens gut getan, vor allem aber dem Engländer Michael Smith, der am Dienstagabend im Endspiel gegen den Niederländer Michael van Gerwen stand. Es war Smiths drittes WM-Finale, nie hatte er gewinnen können. Jetzt hat es geklappt, und wie.
Das beste Leg
Das rot markierte Feld, das auf der Dartscheibe die dreifache 20 markiert, sieht auf dem Bildschirm, eingefangen von den hochauflösenden Kameras, die zuhauf auf der Bühne angebracht sind, einfach riesig aus. Dabei ist es wie alle anderen Tripple-Felder gerade einmal 8 Millimeter hoch und knapp 3 Zentimeter breit. Dieses knappe Fünftel einer Streichholzschachtel ist das Hauptziel im ersten Teil eines jeden „Legs“, bei dem 501 Punkte auf null gespielt werden müssen. In dieses Feld trümmern die Spieler*innen aus der Distanz von 2,37 Metern Pfeil um Pfeil, am besten gleich alle drei hintereinander für die 180, die höchstmögliche Punktzahl. Am Schluss eines Legs, um genau auf null zu kommen, muss aus lauter Gemeinheit auch noch ein Doppelfeld getroffen werden.
Das bestmögliche Leg besteht aus neun perfekt geworfenen Pfeilen (meist sieben auf die Tripple-20, einen auf die Tripple-19 und am Schluss einen auf die Doppel-12). Auf diesem Weg waren am Dienstagabend im zweiten Satz gleich beide Spieler. Nach je sechs perfekten Darts war der anwerfende van Gerwen am Zug – und verfehlte mit dem letzten Dart die Doppel-12 um ein paar Millimeter. Nicht so Smith. Tripple-20, Tripple-19, Doppel-12 – die Betrunkenen im Ally Pally brüllten sich die Lunge aus dem Hals. Ein solches Leg hatte es noch nie gegeben, wird man noch in Jahrzehnten zeigen.
Empfohlener externer Inhalt
Aber warum wollen Menschen das sehen? Was ist der Witz daran, „Bully Boy“ Michael Smith gegen den glatzköpfigen „Mighty“ Michael van Gerwen Pfeile werfen zu sehen?
Einerseits: Wer jemals selbst auch nur drei Pfeile auf ein Dartboard geworfen hat, weiß, wie schwer es ist, diese kleinen Felder zu treffen, erst recht mehrmals hintereinander. Dartschauen ist insofern auch, wie einem Profikoch beim Zwiebelnschneiden zusehen – es sieht einfach toll aus.
Dart hält sportliche Dramen bereit, die sich beim Eisschnelllauf nicht werden finden lassen. Und wer beim Schauen noch ein Bier trinkt, fühlt sich eigentlich ganz richtig aufgehoben. Kein Wunder, dass das Finale in Deutschland von 1,72 Millionen Menschen gesehen wurde – in der Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen war es mit 850.000 Zuschauern oder 16,6 Prozent das erfolgreichste Primetime-Format.
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