Liberale und Säkulare in Israel: Verdammt alleingelassen
Die liberale Zivilgesellschaft braucht Solidarität von außen. Stattdessen ist sie aus dem Westen mit einer anti-israelischen Stimmung konfrontiert.
A uch für einen Kerl wie mich, der am glücklichsten unterwegs ist, gibt es Orte, die den Gedanken ans Bleiben wecken. Tel Aviv zum Beispiel. Um es mit den Worten von Lou Reed zu sagen: I know my ways round. Die zu dem Viertel mit den niedrigeren, angekratzt-charmanten Häusern und den kleinen, innigen Gärten, zum Beispiel. Dort, wo man nur ein bisschen ausharren muss, um Charaktere und Situationen zu erleben, wie sie sich Ephraim Kishon nicht besser hätte ausdenken können. Zu Plätzen, wo man ordentlich essen kann, ohne dass es die Welt kostet (denn eine wirklich billige Stadt ist das nicht).
Man weiß, wann es Zeit ist, am Strand ein Plätzchen unter den Sonnendächern zu suchen. Und am Abend: der Himmel über Tel Aviv, in den man nicht schauen kann, ohne an Raketenangriffe zu denken. Man ist unterwegs zu den Orten, wo Israelis, Palästinenser, jüdische und nicht-jüdische Gäste an gemeinsamen Projekten arbeiten. Rundum Träume von friedlicher Kooperation, von Demokratie und Toleranz, von Respekt und Dialog.
So scheint es, denn das ist, wie man so sagt, eine Bubble. Ein zivilgesellschaftlicher, kultureller Raum im Raum, der in den besseren Zeiten durchlässig ist zum Außenherum für Energien und Ideen, und der in den schlechteren Zeiten zu zerplatzen droht – wie so viele Blasen der Hoffnung in diesem Jahrhundert. Politische Kultur eben, oder kultivierte Politik. Nur möglich, wenn man an das Leben und an die Menschen glaubt.
So geht hier der Spruch: In Haifa arbeiten, in Tel Aviv leben, in Jerusalem beten. Und damit sind auch die Elemente bezeichnet, die die israelische Gesellschaft zusammenhalten: die Ökonomie, die Kultur und die Religion. Diese Gesellschaft funktioniert, wenn die drei Dinge in Balance gehalten werden, und sie tut es umso weniger, je mehr eines davon die beiden anderen erdrücken will. In der Bubble weiß man nur zu gut, wie giftig eine Regierung wie die von Benjamin Netanjahu ist.
Wie alle rechtspopulistischen und autokratischen Regierungen kümmert sie sich wenig um die Belange ihrer Gesellschaft, befeuert nationalistische Aggression nach außen und setzt ansonsten alles auf den Erhalt und den Ausbau der eigenen Macht.
Wie lebendig und kämpferisch die israelische Zivilgesellschaft ist, zeigte sich im Widerstand gegen den weiteren Abbau der Demokratie, euphemistisch „Justizreform“ genannt. Tel Aviv bebte vor positiver Energie.
Und dann kam der 7. Oktober. Kein Krieg, kein Aufstand, nicht einmal „Terror“ im furchtbar gewohnten Sinn, sondern ein beispielloser Zivilisationsbruch. Mordlust, Triumphe des Quälens und Demütigens, Vernichtungswille. Die Bilder und Töne davon sind in der Welt und werden nicht mehr verschwinden. Wie viele der Menschen, die gerade noch in den Straßen von Tel Aviv für die Demokratie eintraten, sind nun in Uniform und Waffen unterwegs, bereit zu töten, bereit, getötet zu werden, traumatisierend und Trauma-erleidend?
Wie kann der Schrecken aufhören?
Im schrecklichen Zwiespalt zwischen dem Wissen, dass es auch hier die Unschuldigen zuerst trifft, und dem anderen Wissen, dass sich dieser 7. Oktober wiederholen wird, wenn die Hamas weiterwirken kann. Das Ausmaß an Zerstörung und Leid lässt einen schließlich, jenseits aller politischen Überlegungen und historischer Diskurse, nur noch hoffen, dieser Schrecken möge endlich aufhören. Aber wie?
Zivilgesellschaftliche, pazifistische und liberale Bubbles, wie es sie beinahe überall in der Welt gibt, auch unter den widrigsten und gefährlichsten Umständen, sind auf internationale Solidarität, auf neue Energien, auf Austausch angewiesen. Sie werden sonst eingeklemmt zwischen den inneren Widersprüchen und der äußeren Bedrohung. Aber was geschieht da im Westen? Was ist in den Köpfen los von Musikern, die ausgerechnet die kulturellen Kraftlinien unterbrechen wollen, von Zeichnern, die ein Comic-Art-Festival verlassen, weil es eine Sponsor-Beteiligung der israelischen Botschaft in Italien gibt (eine Botschaft, nebenbei, die meines Wissens nach nie durch nationalistische Rhetorik aufgefallen ist)?
Was ist los im Kopf der Hollywood-Schauspielerin Susan Sarandon mit „linker“ Vergangenheit, die in die Vernichtungshymne der Hamas einstimmt, was ist los mit den Mitgliedern einer feministischen Gruppe, die nicht einmal Vergewaltigung und Femizid aus dem Narrativ vom „Widerstand“ ausnehmen will, mit einer Klimaaktivistin, die ihren moralischen Eifer plötzlich gegen Israel richtet?
Im Namen von Postkolonialismus
Was ist los in den Köpfen von Studentinnen und Studenten, die im Namen von „Postkolonialismus“ und „Anti-Apartheid“ hinter „Free Palestine“-Bannern herlaufen, als könnten sie es gar nicht erwarten, dass Israel und seine Menschen verschwinden und einem weiteren Terrorstaat Platz machen, in dem Frauen verprügelt werden, weil sie sich nicht an die Kleidervorschriften halten, Homosexuelle ermordet und Kritiker*innen gefoltert werden? Augenblicklich, fern von Tel Aviv, spüre ich Menschen im Herzen, die sich verdammt alleingelassen fühlen.
Palästinensische genauso wie israelische Menschen. Denn für palästinensische Menschen, die sich eine friedliche, demokratische und kooperative Heimat wünschen, ist die antiisraelische Stimmungswelle aus dem Westen genauso mörderisch wie für die Israelis selbst. Diese Bewegung überschreitet die zwei roten Linien bei der berechtigten und notwendigen Kritik an der Regierung Netanjahu, der Siedlungspolitik und der fanatisch religiösen Stimmungsmache.
Sie schwächt in Israel die demokratische Zivilgesellschaft, und sie stärkt die Kräfte in Palästina, die Israel nicht besiegen, sondern vernichten wollen. Was indes am meisten erschreckt, ist ihre menschliche Kälte. Als wäre das Leiden von Menschen, hier wie dort, nur Baumaterial für eine ideologische Rekonstruktion der Welt.
Nun platzen sie vielleicht wirklich, die Blasen der Hoffnung. Nicht nur in Tel Aviv.
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