Leipziger Stadtprotokoll: „Die Sahnetorte gibt’s nicht mehr“
Gastwirt Andreas Strobel erlebte Leipzig Anfang der 1990er-Jahre als Stadt der vielen Möglichkeiten. Wäre er jünger, würde er heute weiterziehen.
Ab 1997 habe ich mit rechten Jugendlichen in Grünau gearbeitet. Grünau war die zweitgrößte Platte der DDR. Vom Arzt bis zum Handwerker hat sich da alles getummelt. Nach der Wende ist die Intelligenz weggezogen, und die Arbeiter sind geblieben. Von den Jugendlichen wurden manche Rapper, manche Skater, und manche sind zu den Rechten gegangen. Um die habe ich mich gekümmert, bis ich mit meiner Chefin nicht mehr klarkam. Dann bin ich in die Gastronomie gewechselt.
Als das Theater der Jungen Welt 2000 in ein Zirkuszelt auf das Jahrtausendfeld gezogen ist, habe ich die Kneipe gemacht. Auf der ganzen Karl-Heine-Straße gab es keine, kann man sich heute kaum vorstellen. Seit 2011 habe ich das Gasthaus Barabbas in Connewitz, besser bekannt als „Vergebung“. Solange die Unkosten gedeckt sind, mach’ ich das weiter. Mein Leben war nie auf Gewinn ausgerichtet.
Wenn ich jünger wäre, würde ich vielleicht weiterziehen. Leipzig hat sich nicht zum Positiven verändert. In den 90er Jahren haben kleine Läden und Kaffeehäuser den Reiz der Innenstadt ausgemacht. Nun sind sie von Ketten geschluckt worden. Die Freiräume, die vielen Kleinigkeiten sind verschwunden. Die fette Sahnetorte gibt’s nicht mehr. Stattdessen überall Krimi-Dinner und Events, Leipzig kommt gar nicht mehr zur Besinnung. Und wenn ich mir anschaue, was gebaut wird, denke ich, das war ein zugekokster Architekt ohne jeglichen Abschluss.
Im Rahmen der „Zukunftswerkstatt“ der taz erscheint jeden Freitag statt der Neuland-Seite eine eigene Seite für Leipzig, die taz.leipzig: geplant, produziert und geschrieben von jungen Journalist*innen vor Ort.
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Trotzdem wird Leipzig meine letzte Station werden, ich war schon zu viel unterwegs. Mit 14 Jahren bin ich ausgezogen – meine Mutter hatte sich’nen italienischen Gastarbeiter geangelt, und ich kam mit der neuen Situation nicht klar. Drei Jahre lang habe ich auf’nem Jahrmarkt gearbeitet, danach habe ich mich um die Pferde in einem Zirkus gekümmert. Weil ich meiner Mutter beweisen wollte, dass ich einen Beruf lernen kann, bin ich Straßensozialarbeiter geworden. Als Junggeselle wurde ich von Projekt zu Projekt geschickt. Das war interessant, aber das ständige Unterwegssein tut dem Körper nicht gut. Jetzt kommen die Leute zu mir.“
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