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Lehrergewerkschafterin zum Schulstart„Über Distanzunterricht nachdenken“

Ayla Çelik ist Vorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW in NRW. Ein Gespräch über den Schulbeginn bei steigenden Corona-Inzidenzen und sichere Schulen.

Präsenzunterricht um jeden Preis? Die Gewerkschaft GEW lehnt das ab Foto: dpa
Interview von Andreas Wyputta

taz: Frau Çelik, in Nordrhein-Westfalen sind die Sommerferien am Dienstag zu Ende gegangen, und gleichzeitig explodieren im bevölkerungsreichsten Bundesland die Corona-Infektionszahlen. Wie ist der Start ins neue Schuljahr gelaufen?

Ayla Çelik: Die Kol­le­g:in­nen vor Ort tun alles, um trotz fehlender Mittel auch unter Pandemiebedingungen so viel Bildung wie möglich zu vermitteln. Leider hat das von FDP-Bildungsministerin Yvonne Gebauer geführte NRW-Schulministerium aber nicht alles getan, um wie von der Ministerin gefordert ‚so viel Normalität wie möglich‘ umsetzen zu können.

Was fehlt?

Vieles! Auch 17 Monate nach Beginn der Pandemie fehlen an nicht wenigen Schulen grundlegende Dinge wie funktionierende Waschbecken. Auch die Ausstattung mit Luftfiltern ist völlig unzureichend. Dabei rollt die vierte Welle der Deltavariante – und trifft auf Jugendliche, von denen nur eine Minderheit geschützt ist: Nach Zahlen des Robert Koch-Instituts, des RKI, von Donnerstag sind erst 26,2 Prozent der 12- bis 17-Jährigen erstgeimpft. Die zweite Impfung haben sogar nur 15 Prozent.

Im Interview: Ayla Çelik

Jahrgang 1968, hat Deutsch und Biologie studiert. Von 2001 bis 2012 hat sie an der Peter-Ustinov Realschule in Köln gearbeitet. Seit 2012 ist sie Gesamtschulrektorin in Köln. Seit Ende Juni 2021 ist Ayla Çelik Vorsitzende der GEW NRW.

Aktuell liegt die Inzidenz in NRW bei 99,2 – Tendenz stark steigend. Bei den 5- bis 14-Jährigen werden in großen Teilen des Landes Inzidenzen von über 200 verzeichnet. In Städten wie Leverkusen und Solingen sind es sogar mehr als 500. Können die Schulen damit ein sicherer Ort sein?

Sie sind sicherer als im vergangenen Jahr. Neben den 25 Prozent der älteren Schüler:innen, die immerhin eine erste Impfung erhalten haben, sind auch 90 Prozent der Lehrkräfte durchgeimpft. Das ist schon ein großer Schritt in Richtung Infektionsschutz. Trotzdem sind sie nicht so sicher, wie sie sein könnten.

Warum?

Nordrhein-Westfalen setzt auf Präsenzunterricht, der unabhängig von den Corona-Fallzahlen offenbar fast um jeden Preis stattfinden soll. Das lehnen wir ab. Wir brauchen klare Regeln, wie wir bei stärkerem Infektionsgeschehen in den Schulen verfahren. Beispielsweise ab welcher Inzidenz, ab welcher Belastung der Krankenhäuser, ab welcher Belegungsquote der Intensivstationen wir wieder über Distanzunterricht nachdenken müssen – wie es auch das RKI empfiehlt. Alles andere verunsichert Schüler:innen, Eltern und Lehrkräfte. Deshalb gilt vor allem: Es muss jetzt alles dafür getan werden, eine solche Situation zu vermeiden. Natürlich wollen auch wir so viel Präsenzunterricht wie möglich – aber er muss sicher sein.

Stattdessen hat das NRW-Schulministerium die Quarantäneregeln aufgeweicht.

Ja, leider. In Quarantäne müssen nur noch unmittelbare Sitznachbarn von Infizierten, also nur die Schüler:innen, die vor, hinter oder neben einem Menschen gesessen haben, der das Virus in sich trägt. Das geht natürlich völlig an der Lebensrealität in den Schulen vorbei: Kinder und Jugendliche sind nun einmal sehr agil.

Ist das fahrlässig?

Die Aufweichung der Quarantäneregeln ist fahrlässig, ja. Besonders, wenn wir alle sicheren Präsenzunterricht wollen und das Wohl der Kinder in den Mittelpunkt stellen.

Was fordern Sie stattdessen?

Sicherer wäre, per genauem PCR-Test zu überprüfen, ob es noch weitere Infizierte gibt – auch wenn das bedeutet, dass währenddessen die gesamte Klasse, der gesamte Kurs drei bis vier Tage in Quarantäne muss und sich dann schnell wieder für den Präsenzunterricht freitestet.

Ministerin Gebauer setzt dagegen auf eine schnelle Immunisierung zumindest der 12- bis 17-Jährigen, die jetzt auch von der Ständigen Impfkommission, der STIKO, empfohlen wird – etwa durch mobile Impfstationen direkt vor den Schulen. Ist das keine Alternative?

Natürlich ist es richtig, gerade Jugendlichen möglichst viele möglichst unkomplizierte Impfangebote zu machen. Die Frage ist aber, wie schnell das flächendeckend möglich ist. Noch einmal: Aktuell sind gerade einmal 15 Prozent von ihnen flächendeckend geschützt. Dazu kommt: Kinder unter 12 Jahren werden Stand heute nicht geimpft.

Was bedeutet das?

Besonders für ungeimpfte Kinder bleibt die Deltavariante gefährlich. Schon heute gibt es etwa in Gütersloh eine Grundschule, in der es in fünf von sieben Klassen Infizierte gab, schon heute berichtet das RKI, manche Gesundheitsämter seien nicht mehr in der Lage, alle Infektionswege zurückzuverfolgen. Wir plädieren deshalb für mehr Vorsicht – und fordern klare Leitlinien und Konzepte des NRW-Schulministeriums: Es muss klar sein, was in welcher Situation, bei welchen Inzidenzen, bei welcher Belastung der Krankenhäuser passiert. Aktuell fehlt den Schulen in dieser Hinsicht jede Planbarkeit. Und natürlich müssen schnell wirkende Sofortmaßnahmen wie Luftfilter flächendeckend eingesetzt werden.

Kritiker halten dagegen, auch Luftfilter böten keine absolute Sicherheit – und setzen weiter auf viel Lüften der Klassenräume. Außerdem sind Luftfilter teuer: Trotz Unterstützung von Bund und Land können sie Städte hunderttausende Euro kosten.

Luftfilter können die Aerosolbelastung um bis zu 90 Prozent reduzieren – und natürlich soll weiter gelüftet werden. Zur Finanzierung: Geld darf keine Rolle spielen, wenn es um die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen geht. Trotzdem ist der Bildungsbereich im größten Bundesland NRW seit Jahren chronisch unterfinanziert.

Inwiefern?

Pro Bil­dungs­teil­neh­me­r:in gibt NRW pro Jahr nur 9.000 Euro aus – in Hamburg sind es fast 12.000, in Bayern und Berlin mehr als 11.000 Euro. Der Bundesdurchschnitt liegt bei 10.000 Euro. Zusammen mit Schleswig-Holstein ist Nordrhein-Westfalen damit bei den Bildungsausgaben bundesweites Schlusslicht. Die Folgen sind dramatisch: In NRW fehlen rund 4.000 Lehrkräfte – davon rund 1.450 an den Grundschulen. Ein Grund hierfür: Leh­re­r:in­nen an den Grundschulen werden verfassungswidrig und schlechter bezahlt. Ihr Versprechen, dies zu ändern, hat die Landesregierung noch nicht eingelöst. Dies gilt im Übrigen auch für viele Leh­re­r:in­nen an Haupt-, Real-, Sekundar- und Gesamtschulen.

Immerhin gab es den vom Bund mit Milliarden unterstützten Digitalpakt.

Trotzdem bleibt die IT-Ausstattung oft nicht ausreichend: Noch immer haben viele Schulen kein WLAN – und noch längst verfügen nicht alle Schü­le­r:in­nen über einen Laptop. Auch deren Wartung durch bezahlte Sys­tem­ad­mi­stra­to­r:in­nen ist zu selten gewährleistet. Stattdessen wird oft immer noch mit Overheadprojektor unterrichtet. Gerade unter Pandemiebedingungen wird so die Chancenungleichheit noch einmal verschärft: Wer aus einer finanzstarken Familie kommt, ist oft einfach besser ausgestattet.

Wieviel Geld fehlt denn?

Die Kreditanstalt für Wiederaufbau rechnet allein bei den Schulgebäuden bundesweit mit einem Sanierungsstau von 46,54 Milliarden Euro. Allein in NRW sind das 10 Milliarden – und das sehen unsere Kol­le­g:in­nen jeden Tag: In Schulen, in denen der Putz von der Decke rieselt, kann ich einfach keinen vernünftigen Unterricht anbieten. Außerdem fehlt Geld für die Entlastung der Lehrkräfte, etwa durch Assistenzen für die Schul­lei­te­r:in­nen oder mehr Schulsozialarbeit.

Aber ist es nicht unrealistisch, auf zusätzliche Milliarden zu hoffen?

Sehen Sie: Allein in NRW gibt es 2,5 Millionen Schüler:innen. Würde für die so viel Geld ausgegeben wie im Bundesdurchschnitt, also 1.000 Euro mehr, wären das 2,5 Milliarden – pro Jahr. Ein Ende der chronischen Unterfinanzierung ist also nicht nur möglich, sondern längst überfällig. Alles andere verringert die Bildungs- und damit die Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen, gerade aus finanziell schwächeren Familien.

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8 Kommentare

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  • „Über Distanzunterricht nachdenken“

    bissle spät jetzt, oder?

    PS: warum die Aufweichung der Quarantäneregeln? Ganz einfach: es sind Wahlen! Scheiß auf die Gesundheit der Kinder! Hauptsache die Eltern sind so strunzdumm und wählen einen dafür.

  • die bundesregierung stellt 2 milliarden für den ausgleich coronabedingter lerndefiziete bei schulkindern zur verfügung. pro kind ca 100.-€ superst !



    holland stellte am gleichen tag für den gleichen zweck 7 milliarden zur verfügung.



    die holländische bevölkerung ist ein wenig kleiner als die deutsche.



    wie sagen unsere amerikanischen freunde ?



    : money talks , bullshit walks.



    mehr muss man nicht wissen

  • Weil es sich seit letztem Jahr nicht geändert hat: Hier nochmal ein Lagebild aus einer Berufsschule.

    In den Klassenräumen wurde die Abstandspflicht aufgehoben. Ebenfalls darf in den Klassenräumen (natürlich ohne Maske) gegessen und getrunken werden, z.B. in der Regenpause. Viele machen es auch einfach so. Einige tragen ihre Maske im Klassenraum nicht richtig. Lehrer ignorieren das, sie wollen wohl keinen Streß.

    Auf den Fluren und in den Treppenhäusern drängeln sich die Massen, von Abstand kann keine Rede sein. Schüler verstopfen beinahe die engen Korridore. Abstand halten ist dort einfach physisch unmöglich.

    In der Pause nimmt praktisch jeder sofort die Maske ab. Die Schüler sitzen und stehen in Grüppchen, essend, trinkend, rauchend, als gäbe es gar keine Pandemie. Eine Aufsicht erfolgt de facto nicht mehr.

    Auf den WCs wird die Regel, einzeln einzutreten, komplett mißachtet. In den winzigen Räumen drängeln sich die Schüler.

    Beim Anstehen für belegte Brötchen und Getränke in der Mensa werden ebenfalls die Abstände nicht eingehalten. Die Angestellten dort tragen weder Masken noch Handschuhe.

    Im öffentlichen Nahverkehr sind die Busse mit Schülern überfüllt. Abstandhalten ist nicht möglich. Kinder bis ca. 14 Jahre tragen offenbar generell keine Masken.

    Zweimal die Woche wird gemeinsam, in den Klassenräumen, ein Schnelltest durchgeführt. Dies nehmen die Schüler selbst an ihren Plätzen vor, natürlich ohne Maske. Es wird nur das Material ausgeteilt.

    Es wird ständige mündliche Mitarbeit erwartet, ständiges Reden. Mit der Maske muß extra laut gesprochen werden. Gruppenarbeit findet weiterhin statt, beispielsweise Diskussionen oder auch technische Aufgaben im Labor. Dabei laufen und stehen Schüler wild durcheinander. Die Sitzpläne lösen sich in Wohlgefallen auf.

    Wenige Schüler nutzen die Möglichkeit zum Händewaschen oder Desinfizieren. Türen sind generell zu, Hunderte tatschen die Türgriffe an.

    Mehrere Schüler sind in diesem Schuljahr bereits an COVID erkrankt.

  • > "Stattdessen hat das NRW-Schulministerium die Quarantäneregeln aufgeweicht.



    >



    > Ja, leider. In Quarantäne müssen nur noch unmittelbare Sitznachbarn von Infizierten, also nur die Schüler:innen, die vor, hinter oder neben einem Menschen gesessen haben, der das Virus in sich trägt."

    Au weia. Hat eigentlich schon jemand den Politikern in NRW erzählt, dass sich das Virus nach breit bestätigten Erkenntnissen vorwiegend durch Aerosole verbreitet? Die sich etwa so verhalten wie Zigarettenrauch? Also, es ist nicht so, dass sich diese Aerosolpartikel 40 Zentimeter durch die Luft bewegen und sie dann wie ein Stein zu Boden fallen. Sie schweben sozusagen.

    > In Städten wie Leverkusen und Solingen sind es sogar mehr als 500.

    Ah, dann sind in zwei Wochen oder so die Intensivstationen für Kinder voll, so wie jetzt schon im Südosten der USA? Dann kann man wohl nur hoffen, dass kein Kind anderweitig ernsthaft erkrankt, weil es sonst kein Bett mehr kriegt bevor ein anderes stirbt?

    Ich denke, die Kinder werden das verstehen. Sie müssen sich halt solidarisch zeigen mit den älteren Wählern der CDU, der Wirtschaft, der Braunkohle-, Erdöl- Erdgas und sowie der Autoindustrie, da müssen sie halt ihre persönlichen Befindlichkeiten zurück stellen. Viel wichtiger, dass deren Eltern arbeiten gehen und nicht durch Betreuung abgelenkt sind.

    Und da wir schon dabei sind, hat irgendwer dem Herrn Laschet und den sonstigen Zuständigen vielleicht gesagt, dass der koreanische Gesundheitsminister schon im Mai warnte, dass die Delta-Variante zu einem höheren Anteil ernsthaft kranker Kinder führt?

    Vielleicht hätte man ihm das per Einschreiben mit Rückschein schicken sollen, damit es nicht wieder so ein Problem gibt wie mit den Unwetterwarnungen, wo man leider leider gar nicht mehr rekonstruieren kann wer wann nichts wusste? Und da wir gerade bei grundsätzlichen Fragen sind, gibt es in der NRW Landesregierung eigentlich überhaupt jemanden, der für solche Dinge zuständig und kompetent ist?

  • Hier eine Karte mit den Inzidenzzahlen nach Altersstufen:

    Legende / Quellenangabe zu Daten / Code:

    github.com/semohr/...ebiete_deutschland

    aktuelle Daten:

    semohr.github.io/r...biete_deutschland/

  • Dieser Wischi-Waschi-Gesundheitsschutz für Kinder, Lehrer und deren Familien geht auf die Regierung von NRW zurück, oder?

    Laschet. Alles klar! Mögen es die Nordrhein-Westfalen bis zur Wahl nicht vergessen.

    • @Elli Pirelli:

      > Dieser Wischi-Waschi-Gesundheitsschutz für Kinder, Lehrer und deren Familien geht auf die Regierung von NRW zurück, oder?

      Ja. Wenn man es allein nach den Handlungen beurteilt, ist die Strategie offensichtlich, das Problem Corona für die Wirtschaft los zu werden, indem Kinder und Jugendliche ungebremst durchseucht werden. Die daraus zwingen folgenden sehr zahlreichen Long Covid Fälle, von denen wir die dauerhaften Folgen für Kinder kaum abschätzen können, werden offenbar als Kollateralschaden angesehen.

      Und das ist nicht mal überraschend von einer Regierung, die wissentlich das Klima zerstört und dazu gezielt Maßnahmen blockiert, welche die Zerstörung zumindest bremsen könnten - und damit die Chancen der nächsten Generation auf faire und freie Entfaltung auf Null reduziert.

      In NRW sind offenbar genau wie bei Trump Soziopathen an der Spitze.