Lech Wałęsa gewinnt in Straßburg: Desaster für die polnische Justiz
Nach dem EGMR-Urteil zugunsten von Wałęsa muss Polen sein mangelhaftes Gerichtswesen in Ordnung bringen. Er hatte gegen die Republik Polen geklagt.
Dies habe es der Staatsführung (unter der nationalpopulistischen Morawiecki-Regierung, Anm. d. Autorin) ermöglicht, politische Ziele auf dem Gerichtswege durchzusetzen. Das Gericht sprach Wałęsa 30.000 Euro Entschädigung zu. Zugleich forderte es die Regierung Polens auf, die Missstände im Gerichtswesen unverzüglich zu beheben.
Zbigniew Ziobro, bis Ende 2023 Generalstaatsanwalt und Justizminister in einer Person, hat als Hauptschuldiger das „mangelhafte Gerichtswesen in Polen“ zu verantworten. Er kommentierte das Straßburger Urteil auf der Plattform X: „Der EGMR wollte Lech Wałęsa so sehr vom Vorwurf der Zusammenarbeit mit dem kommunistischen Geheimdienst (SB) freisprechen, dass er selbst das Recht und die Europäische Menschenrechtskonvention gebrochen hat.“ Unter den urteilenden Richtern des EGMR müsse auch einer aus dem beklagten Staat sein. „Aber“, so Ziobro weiter, „statt eines Polen wählte man einen Griechen, so dass niemand das Femegericht daran hindern können sollte, Polen schuldig zu sprechen.“
Dass der polnische Richter sich vor der Urteilsverkündung selbst zurückgezogen hatte, erwähnte Ziobro nicht. Der griechische Richter, der kurzfristig für den Polen einsprang, musste sich unter großem Arbeitsaufwand erst in die schwierige Materie einarbeiten, bevor er am Urteil mitwirken konnte.
PiS hält das Urteil für rechtswidrig und nicht verpflichtend
„Das heutige Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes ‚Wałęsa gegen Polen‘ ist rechtswidrig und hat keine verpflichtende Kraft“, hieß es noch einen Ton schärfer auf der Website des von Ziobro geleiteten Justizministeriums. „Der EGMR negiert ohne jede Grundlage die Legalität des Landesjustizrates (KRS) und des Obersten Berufungsgerichts in Polen, bricht aber selbst die Regeln des internationalen Rechts“.
Der Landesjustizrat, den Ziobro so sehr verteidigt, ist das Kernproblem des polnischen Gerichtswesens. 2018 hatte die nationalpopulistische Recht und Gerechtigkeit (PiS) den alten Landesjustizrat (KRS) aufgelöst und durch ein politisches Organ ersetzt, das ebenfalls „Landesjustizrat“ genannt wurde. Das Richtergremium entschied bis 2018 als ein unabhängiges Gremium der Judikative über Neubesetzungen von Richterstellen an allen Gerichten Polens. Die PiS entließ widerrechtlich alle dort arbeitenden Richter und schuf einen „Neo-Landesjustizrat“, wie ihn die demokratische Opposition nannte, in dem durch ein ausgeklügeltes Entsende- und Wahlverfahren politischer Institutionen fast nur noch PiS-loyale Richter saßen.
Diese setzten dann „Neo-Richter“ auf die freiwerdenden Richterstellen. Da diese aber laut polnischer Verfassung keine korrekt ernannten Richter sind, kann jedes Urteil angefochten werden, an dem ein solcher „Neo-Richter“ beteiligt war. Die inzwischen über 3.000 Neo-Richter dürften bereits hunderttausende Urteile gefällt haben. Viele Prozessverlierer klagen nun – durchaus mit Aussicht auf Erfolg – vor dem Straßburger EGMR.
Ziobro und Polens Präsident Andrzej Duda hatten sich aber bereits 2017 ein „Sonderüberprüfungsrecht“ ausgedacht, das es Ziobro ermöglichte, das rechtskräftige Urteil in einem Verleumdungsprozess anzufechten, den Lech Wałęsa 2011 gewonnen hatte. Hier kam nun die von Ziobro angerufene „Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten“ am Obersten Berufungsgericht ins Spiel. Die „Neo-Richter“ dieser Kammer hoben das rechtskräftige Urteil auf, so dass Wałęsa erneut öffentlich als „Spitzel des kommunistischen Geheimdienstes“ verleumdet werden konnte.
Der EGMR qualifizierte dies als politische Justiz und forderte die Republik Polen auf, die Missstände im polnischen Gerichtswesen umgehend abzustellen und zu korrigieren. Dies wird nun Aufgabe der künftigen Regierung sein, die anders als Ziobro das Straßburger Urteil anerkennt und dessen Forderungen umsetzen will.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Schraubenzieher-Attacke in Regionalzug
Rassistisch, lebensbedrohlich – aber kein Mordversuch