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Lech Wałęsa gewinnt in StraßburgDesaster für die polnische Justiz

Nach dem EGMR-Urteil zugunsten von Wałęsa muss Polen sein mangelhaftes Gerichtswesen in Ordnung bringen. Er hatte gegen die Republik Polen geklagt.

Der Friedensnobelpreisträger Lech Wałęsa, hier bei einer Demonstration im Juli in Warschau Foto: REUTERS/Kacper Pempel

Warschau taz | Lech Wałęsa, der einstige Solidarność-Gewerkschaftsführer, Friedensnobelpreisträger und Präsident Polens, hat vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) in Straßburg seinen Prozess gegen die Republik Polen gewonnen. Die Richter bestätigten am Donnerstag die Vorwürfe des Klägers. Der polnische Staat habe Wałęsa nicht nur das Recht auf einen fairen Prozess, sondern auch das Recht auf seine Privatsphäre verweigert. Die Gründe für diese Verfehlungen seien in einem mangelhaft strukturierten Gerichtswesen zu suchen.

Dies habe es der Staatsführung (unter der nationalpopulistischen Morawiecki-Regierung, Anm. d. Autorin) ermöglicht, politische Ziele auf dem Gerichtswege durchzusetzen. Das Gericht sprach Wałęsa 30.000 Euro Entschädigung zu. Zugleich forderte es die Regierung Polens auf, die Missstände im Gerichtswesen unverzüglich zu beheben.

Zbigniew Ziobro, bis Ende 2023 Generalstaatsanwalt und Justizminister in einer Person, hat als Hauptschuldiger das „mangelhafte Gerichtswesen in Polen“ zu verantworten. Er kommentierte das Straßburger Urteil auf der Plattform X: „Der EGMR wollte Lech Wałęsa so sehr vom Vorwurf der Zusammenarbeit mit dem kommunistischen Geheimdienst (SB) freisprechen, dass er selbst das Recht und die Europäische Menschenrechtskonvention gebrochen hat.“ Unter den urteilenden Richtern des EGMR müsse auch einer aus dem beklagten Staat sein. „Aber“, so Ziobro weiter, „statt eines Polen wählte man einen Griechen, so dass niemand das Femegericht daran hindern können sollte, Polen schuldig zu sprechen.“

Dass der polnische Richter sich vor der Urteilsverkündung selbst zurückgezogen hatte, erwähnte Ziobro nicht. Der griechische Richter, der kurzfristig für den Polen einsprang, musste sich unter großem Arbeitsaufwand erst in die schwierige Materie einarbeiten, bevor er am Urteil mitwirken konnte.

Viele Prozessverlierer in Polen klagen nun – durchaus mit Aussicht auf Erfolg – vor dem Straßburger EGMR

PiS hält das Urteil für rechtswidrig und nicht verpflichtend

„Das heutige Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes ‚Wałęsa gegen Polen‘ ist rechtswidrig und hat keine verpflichtende Kraft“, hieß es noch einen Ton schärfer auf der Website des von Ziobro geleiteten Justizministeriums. „Der EGMR negiert ohne jede Grundlage die Legalität des Landesjustizrates (KRS) und des Obersten Berufungsgerichts in Polen, bricht aber selbst die Regeln des internationalen Rechts“.

Der Landesjustizrat, den Ziobro so sehr verteidigt, ist das Kernproblem des polnischen Gerichtswesens. 2018 hatte die nationalpopulistische Recht und Gerechtigkeit (PiS) den alten Landesjustizrat (KRS) aufgelöst und durch ein politisches Organ ersetzt, das ebenfalls „Landesjustizrat“ genannt wurde. Das Richtergremium entschied bis 2018 als ein unabhängiges Gremium der Judikative über Neubesetzungen von Richterstellen an allen Gerichten Polens. Die PiS entließ widerrechtlich alle dort arbeitenden Richter und schuf einen „Neo-Landesjustizrat“, wie ihn die demokratische Opposition nannte, in dem durch ein ausgeklügeltes Entsende- und Wahlverfahren politischer Institutionen fast nur noch PiS-loyale Richter saßen.

Diese setzten dann „Neo-Richter“ auf die freiwerdenden Richterstellen. Da diese aber laut polnischer Verfassung keine korrekt ernannten Richter sind, kann jedes Urteil angefochten werden, an dem ein solcher „Neo-Richter“ beteiligt war. Die inzwischen über 3.000 Neo-Richter dürften bereits hunderttausende Urteile gefällt haben. Viele Prozessverlierer klagen nun – durchaus mit Aussicht auf Erfolg – vor dem Straßburger EGMR.

Ziobro und Polens Präsident Andrzej Duda hatten sich aber bereits 2017 ein „Sonderüberprüfungsrecht“ ausgedacht, das es Ziobro ermöglichte, das rechtskräftige Urteil in einem Verleumdungsprozess anzufechten, den Lech Wałęsa 2011 gewonnen hatte. Hier kam nun die von Ziobro angerufene „Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten“ am Obersten Berufungsgericht ins Spiel. Die „Neo-Richter“ dieser Kammer hoben das rechtskräftige Urteil auf, so dass Wałęsa erneut öffentlich als „Spitzel des kommunistischen Geheimdienstes“ verleumdet werden konnte.

Der EGMR qualifizierte dies als politische Justiz und forderte die Republik Polen auf, die Missstände im polnischen Gerichtswesen umgehend abzustellen und zu korrigieren. Dies wird nun Aufgabe der künftigen Regierung sein, die anders als Ziobro das Straßburger Urteil anerkennt und dessen Forderungen umsetzen will.

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7 Kommentare

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  • Die Kartei, die Kartei, die hat immer Recht…

    Bei der Causa handelt es sich um die Anschuldigung an die Adresse Wałęsas er sei ein IM des Geheimdienstes SB gewesen. Die zitierte Formulierung („Verleumdung“) setzt voraus, daß diese Anschuldigung in toto gegenstandslos ist.

    Allerdings hat nun Wałęsa selbst nie bestritten, eine Loyalitätserklärung unterschrieben zu haben, als er 1970 als Streikführer in Danzig in Haft saß. („Bolek“ und das rote Spinnennetz“, FAZ, 31. 7. 2017) In seiner Autobiographie gab Walesa zu, er sei damals „nicht ganz sauber“ aus den Verhören der Staatssicherheit herausgekommen.“ Ein Schriftgutachten belege eindeutig, so die FAZ, „daß Walesa Anfang der siebziger Jahre eigenhändig Berichte für die Staatssicherheit verfaßt und dafür Geld erhalten hat. Durch Vergleiche mit Schriftstücken, die eindeutig von Walesa stammen, seien Sachverständige zu dem Schluß gekommen, daß eine Verpflichtungserklärung, Unterschriften auf Quittungen und handschriftlich verfaßte Berichte über die Stimmung unter den Arbeitern der Danziger Lenin-Werft eindeutig belegen“, daß der spätere Solidarność-Führer von 1971 bis 1976 SB-Spitzel war.

    Daß Wałęsa ein SB-V-Mann gewesen sein könnte, hatten schon seit den 70er Jahren die Spatzen von allen Warschauer Dächern gepfiffen. Auch in den Geheimakten des SED-Politbüros wurden Gesprächsprotokolle über Spitzentreffen in Warschau gefunden, die diese Hypothese nahelegen.

    Mehr noch wurde unter der Hand über Verbindungen Wałęsas zum KGB spekuliert, auf die wundersame Tatsache verweisend, daß sich in den Solidarność-Verlautbarungen nirgends antisowjetische Äußerungen finden oder gar der Abzug der sowjetischen Truppen gefordert wurde. Man munkelte von einem Agreement, die über polnisches Territorium verlaufenden Nachschublinien für die GSSD nicht anzutasten, was wider aller Erwartung dann auch tatsächlich geschah.

    • @Reinhardt Gutsche:

      Seiteneinwurf. Sach mal so:

      Ihr immer wieder gern gezogenes Karteikärtchen - ist hinlänglich bekannt! Woll.



      Frage ist aber - ob das damit insinuierte Prozeßgegenstand war?! M.E Nein Denn



      “Die Richter bestätigten am Donnerstag die Vorwürfe des Klägers. Der polnische Staat habe Wałęsa nicht nur das Recht auf einen fairen Prozess, sondern auch das Recht auf seine Privatsphäre verweigert.“



      Danach jedenfalls gerade nicht! Newahr



      Danach geht es allein um gezielt herbeigeführtes “staatliches Versagen“.

      kurz - nach meinem laienhaften Verständnis liegt Ihr Einwand neben der Sache. Ein zweifelhafter Versuch - die bis dato verantwortliche polnische Staatsführung zu exkulpieren! Woll

  • Danke für diesen sehr informativen Artikel. Erst durch die Lupe auf einen Einzelvorgang wie in diesem prominenten Fall wird klar, mit welchen entstellenden Rechtsbeugungen die PIS arbeitet und bald gearbeitet haben wird.

  • "Lech Wałęsa gewinnt vor EGMR Straßburg



    :Ein Desaster für polnische Justiz"

    Eine irreführende Überschrift: nicht das Urteil ist das Desaster, sondern das polnische Justizwesen ist selbst das Desaster.

    • @spaltarsch:

      Es war glaub ich Fritz Pearls - der sagte



      “If you say asshole - look to your own!“

      kurz - Haare - wie anderes spalten - wa Will gekonnt sein! Woll



      oder so - headlinerastellis gelang diesmal - nein - kein Griff ins 🚽!



      Get it? Fein.

      Daß Lech Wałęsa vor dem EMRK in Straßburg gewinnt ist ein Desaster für die polnische Justiz. & ♨️ s.o. 👍🏻



      Pascht scho! Woll

  • "Da diese aber laut polnischer Verfassung keine korrekt ernannten Richter sind, kann jedes Urteil angefochten werden, an dem ein solcher „Neo-Richter“ beteiligt war."

    Na, da kann man nur hoffen, dass die neue Regierung nicht nur diese Winkeladvokaten feuert, sondern wegen Rechtsbeugung und Teilnahme an einer Verschwörung gegen die Verfassung aus dem Verkehr zieht und für etwaigen Regress in Privathaftung nimmt.

    Ruiniert die PiSser! Aber so richtig!

  • Ach was! ©️ Vagel Bülow

    “Der EGMR qualifizierte dies als politische Justiz und forderte die Republik Polen auf, die Missstände im polnischen Gerichtswesen umgehend abzustellen und zu korrigieren. Dies wird nun Aufgabe der künftigen Regierung sein, die anders als Ziobro das Straßburger Urteil anerkennt und dessen Forderungen umsetzen will.“

    kurz - “Noch ist Polen nicht verloren“



    🇵🇱 Od dołu do góry Lech Wałęsa 🇵🇱