Lebensweisheiten in heiliger Schrift: Erkenntnis mit Götzenfleisch
Wow. Im ersten Korintherbrief von Paulus finden sich erstaunlich aktuelle Handlungsanweisungen für ein besseres Leben und eine bessere Welt
A m Palmsonntag stand ich in der Stadtkirche zu Darmstadt und hielt die Predigt. Die keine Predigt war. Der Pfarrer lädt vor Ostern Auswärtige ein, das Wort an die Gemeinde zu richten, unabhängig von ihrer Konfession. Eine willkommene Gelegenheit, sich mal wieder ins Neue Testament zu vertiefen. In diesem Fall in den ersten Korintherbrief von Paulus.
Das Thema erscheint nebensächlich. Darf man Götzen geopfertes Fleisch essen? Eigentlich nein, und somit wäre alles gesagt, aber was auf das Verbot folgt, ist erstaunlich: Die Erkenntnis bläht auf; aber die Liebe baut auf. Wow.
Was für eine Ohrfeige gegen die Löffel, mit denen manche von uns die Weisheit fressen. Gegen das Dogma der reinen Vernunft. Fast eine polemische Beschreibung der pompösen Selbstherrlichkeit jener unter uns, die meinen, das wahre Wissen gepachtet zu haben. Stattdessen der Bezug auf die Liebe. Liebende sind geneigt, mit Mitgefühl zu verstehen und Nachsicht zu üben, sich Gedanken und Sorgen zu machen. Es gehört zu den fatalen Missverständnissen im Patriarchat, dass Apodiktik und Liebe zusammengehen.
Der zweite Vers lässt die Antwort noch komplexer erscheinen: Wenn jemand meint, er habe etwas erkannt, der hat noch nicht erkannt, wie man erkennen soll. Doppelwow. Was ist das? Erkenntnistheorie? Warnung vor Selbstherrlichkeit im öffentlichen Diskurs? Postmoderne Skepsis des Schreibenden, der sich damit auch selbst infrage stellt? Ein Schlag ins Kontor orthodoxer Autoritäten? Die tiefere Frage lautet an dieser Stelle: Was ist Wahrheit? Und die Anregung von Paulus ist verwirrend klar: Wahrheit ist ein Prozess. Entscheidend ist das Verfahren der Erkenntnis. Wahrheit ist kein Diplom, das man an die Wand hängen kann. Sie ist die Betrachtung des Vogelflugs und nicht der Kolibri im Käfig.
Erkenntnis sollte nicht sesshaft werden.
Der nächste Vers – Wenn aber jemand Gott liebt, der ist von ihm erkannt – überfordert mich, weil ich nicht verstehen kann, wie wir Gott lieben sollen, ohne seine Schöpfung zu lieben. Und das tun wir nicht. Nicht als Individuen, nicht als Gesellschaft. Nicht als Wirtschaftssystem. Als hätte Paulus dieses Unbehagen vorausgeahnt, schreibt er im achten Vers: Essen wir nicht, so fehlt uns nichts, essen wir, so gewinnen wir nichts. Das ist eine Provokation, die es in sich hat. Vielleicht sogar für uns mehr als für die Korinther. Was ist wesentlich, was ist notwendig, was ist überflüssig, und wieso tun wir uns so schwer, zwischen beidem zu unterscheiden? Wieso zerstören wir das Wesentliche, um das Überflüssige zu produzieren? Unsere Drogerien sind voller Produkte, deretwegen das göttliche Wunder eines Regenwalds abgeholzt wurde, ersetzt durch die Monokultur einer Palmölplantage. Für viele der Waren, die wir kaufen, konsumieren, wegwerfen, gilt dieser Satz. Ob wir sie im übertragenen Sinn „essen“ oder nicht, ist aus essenzieller Sicht für unser Leben irrelevant. Wir versündigen uns an der Natur, um meist gedankenlos im übertragenen Sinn „Götzenfleisch“ zu essen.
Vor Kurzem sah ich ein Foto von der Atacama-Wüste im Norden Chiles. So weit das Auge reichte ein bunter Fleckenteppich, der zunächst fröhlich aussah, bis die Bildunterschrift mich ernüchterte: Altkleidung, in der Wüste deponiert, weil viel mehr in den Warenkreislauf gelangt, als wir tragen, spenden oder zu Putzlappen zertrennen können. Bald werden wir unseren Kindern die Wüste neu erklären müssen: Einst eine trockene Landschaft voller Dünen, heute eine Mülldeponie. Kaufen wir es nicht, so fehlt uns nichts, kaufen wir es, so gewinnen wir nichts. Triplewow.
Wenn wir Luxus als existenzielle Notwendigkeit betrachten, gibt es zudem – auch das deutet Paulus an – ein Problem der gesellschaftlichen Selbstdisziplin. Es ist fast unmöglich, zu verzichten und zu verweigern, wenn dies um einen herum kaum jemand tut. Vers 10: Denn wenn jemand dich, der du die Erkenntnis hast, im Götzentempel zu Tisch sitzen sieht, wird dann nicht sein Gewissen, da er doch schwach ist, verleitet, das Götzenopfer zu essen? Eine Erkenntnis, die bei jedem ökologischen Diskurs in verschiedenen Variationen bestätigt wird. Was bringt das schon (so heißt es)? Wieso sollen gerade wir damit anfangen …? Verzicht gilt als Mundraub an einem selbst.
Im Gegensatz zur frühchristlichen Gemeinde in Korinth haben wir nicht einmal ein schlechtes Gewissen, wir haben – was exzessiven Konsum betrifft – überhaupt kein Gewissen. Gelegentliche Anregungen, sich auf bescheidenste Weise zu bescheiden, werden in einem Sturm der Entrüstung ertränkt. Und weil wir konditioniert sind, den eifrigen Verzehr von Götzenfleisch stets relativ zu betrachten, also im Vergleich mit unseren Nachbarn, bilden wir uns ein, noch lange nicht zu jenen zu gehören, die den Bogen überspannen. Übertreiben tun immer nur die anderen.
Darin besteht unsere Freiheit, und sie ist den Schwachen längst zum Anstoß geworden. In unserem Land, wo die Zahl der Tafeln und der Menschen, die von diesen abhängen, kontinuierlich zunimmt. Zwar haben wir die Sklaverei in Europa abgeschafft, aber wir haben uns innerlich einem Selbst unterworfen, das in hohem Maße fremdbestimmt ist, manipuliert von den Algorithmen des Internets, den Verführungen des Wachstumswahns. Wie viel freien Willen braucht es, um nichts zu verändern?
Und wieso das alles? Weil wir das Götzenfleisch heute essen, weil es uns heute so gut schmeckt, weil es heute im Sonderangebot ist.
Eine der für mich einleuchtenden Definitionen von Freiheit lautet: „Freiheit ist, zwischen dem zu wählen, was man jetzt will, und dem, was man am meisten will.“ In meinem Fall wäre Letzteres, ein Leben im Wesentlichen zu führen, zum Wohl anderer Menschen, zum Wohl einer besseren Zukunft, bevor wir diesen Planeten gänzlich ausgebeutet, verbraucht und vergiftet haben.
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