Third-World-Problems: Berichte vom täglichen Leid

Während der Bundespräsident die üblich einschläfernde Rede in der Paulskirche hält, treffen sich aktive Menschen gleich nebenan zur Global Assembly.

Die Paulskirche in Frankfurt am Main

In der Paulskirche in Frankfurt versammelten sich Ak­ti­vis­t:in­nen im Rahmen der Global Assembly Foto: Imago

Vielleicht war das wichtigste Ereignis in unserem Land letzte Woche ein Treffen in der Evangelischem Akademie in Frankfurt. Direkt am herausgeputzten Römer, wo am Tag darauf der Bundespräsident eine gewichtige Rede mit einschläferndem Potenzial hielt zu Ehren des ersten deutschen demokratischen Parlaments vor 175 Jahren in der Paulskirche. Die knapp fünfzig Aktivistinnen, die in einem hellen, nüchternen Raum vier Tage lang debattierten, waren sich des deutschen Jahrestags zwar bewusst, aber sie wollten nicht Vergangenheit abfeiern, sondern Zukunft einfordern. Mit robuster Leidenschaft und unerbittlicher Zärtlichkeit.

„Global Assembly“ heißt das Ereignis, und es lockte Menschen aus allen Ecken und Enden der Welt nach Frankfurt, divers in Herkunft, Aussehen und Zungenschlag. Eingeladen von zivilgesellschaftlichen Kräften hierzulande, von engagierten Bürgerinnen. Ohne Bürokratie. Ohne staatliche Kontrolle. Ohne ideologische Einfärbung. Mit klarer Sehnsucht, aber ohne feste Absicht.

Denn die Gäste aus aller Welt sollten selbst ausloten und aushandeln, welche Schritte und Forderungen für sie zentral sind, um die vielen Krisen der Gegenwart im Sinne aller zu überwinden. Was mitten in Deutschland letzte Woche stattfand, war ein kleines Wunder: ein selbst organisiertes Treffen, eine offene Struktur, ein ebenbürtiges Miteinander, ein Reden auf Augenhöhe, ohne Vorgaben, ohne Einschränkungen, ohne Tabus.

Schon am ersten Tag fiel auf, wie angemessen miteinander geredet wurde. Menschenwürde wurde nicht vollmundig vor einem großen Buffet beschworen, sondern im Umgang miteinander gelebt. Der gegenseitige Respekt sowie die Fähigkeit, zuzuhören und einander ausreden zu lassen, beweisen, dass es durchaus Alternativen gibt zu dem hasserfüllten kommunikativen Masturbieren in den sozialen Medien, das teilweise auch unsere professionellen Medien infiziert hat.

Vielleicht erstrahlte die Würde jedes Einzelnen so sehr, weil es sich um Menschen handelt, die Schreckliches erlebt haben. Der Kampf um Menschenrechte und Gerechtigkeit provoziert nicht nur leere Versprechen und hohle Zusicherungen, sondern auch Gewalt. Nicht nur in Diktaturen.

Das Unfassbare

Unvermittelt sprach jemand von Unfassbarem. Vom Morden der Generäle in Myanmar, von einer Bombe in Afghanistan, die den eigenen Bruder zerfetzt hat, von Nickelförderung und -veredelung in Indonesien, für die es viel Energie und wenig Menschen braucht, weswegen die örtliche Bevölkerung brutal vertrieben und ein Kraftwerk errichtet wurde. „Für eure E-Autos“, so endete die Geschichte. Ohne Vorwurf in der Stimme. Ohne Agitation. Einfach so, als eine Wahrheit, die wir weiterhin nicht wahrhaben wollen: Dass wir auf Kosten anderer leben und technologische Lösungen die ökologische Zerstörung nicht aufhalten.

Darin bestand für einen aufmerksamen Chronisten aus Mitteleuropa die enorme Stärke dieser Global Assembly: Bei der Diagnose wurde nicht von Theorien oder ideologischen Positionen ausgegangen, sondern von dem täglich erlittenen Leid. Das hat eine zwingende Prägnanz. Wer selbst auf einer Müllhalde lebt, lässt sich nicht vorgaukeln, Müll wäre eine feine Sache. In diesem Zusammenhang wurde von fast allen Anwesenden die Doppelmoral des Westens, die atemberaubende Heuchelei des herrschenden kapitalistischen Weltsystems hervorgehoben.

Als Navid Kermani bei der Eröffnungsveranstaltung in der Paulskirche von seinen Recherchen im äthiopischen Tigray berichtete, von den unzähligen Abgeschlachteten, von den vergewaltigten Frauen (weit über hunderttausend), dürfte jedem klargeworden sein, wie unsere Wahrnehmung und unser Mitgefühl hierzulande Konjunkturen des Selbstinteresses unterliegt, wie entfernt wir von einer universellen Haltung sind, von einem Weltethos, von einer kosmopolitischen Praxis.

Für eine bessere Welt

All das soll die Global Assembly fördern. In dem schon erfolgten Treffen wurden die Rahmenbedingungen und Themenschwerpunkte diskutiert und definiert, teilweise in Arbeitsgruppen: Frauenrechte, Klimawandel, autoritäre Herrschaft, unternehmerisches Handeln verpflichtend an die Menschenrechte binden.

In einem nächsten Schritt, der eigentlich aus vielen kleineren Schritten besteht, werden die Teilnehmerinnen einerseits die formulierten Themen bis zum nächsten März hinsichtlich der Herausforderungen und Aufgaben präzisieren, zum anderen aber exemplarische Geschichten sammeln. Denn immer wieder kam zur Sprache, wie wichtig Geschichten seien, als Vergewisserung der eigenen Erfahrung und als neue Narrative für eine bessere Welt. Als Visionen, als Utopien.

Pünktlich zur nächsten Global Assembly im Frühjahr 2024 soll diese Sammlung von erfahrenen und erlittenen Geschichten aus aller Welt – Geschichten des Scheiterns, aber auch des Erfolgs, traurig und ermutigend – in Buchform erscheinen (zumindest auf Deutsch).

Medien sind weniger willig, von Alternativen zu berichten

Vielleicht haben Sie sich gewundert, dass Sie von dem Ereignis nichts gehört haben. Unsere Medien, die so eifrig von jedem Busunglück berichten, sind im Großen und Ganzen weniger willig, von Alternativen zu berichten, von Widerstand und Auflehnung, von Versuchen, die gewaltigen Krisen unserer Zeit grundsätzlich zu bekämpfen. Auch das ist Teil des Problems. Die beeindruckenden Menschen, die in Frankfurt zusammenkamen, sind in unserer öffentlichen Wahrnehmung meist nur Opfer.

Höchste Zeit, sie als kluge, nachdenkliche und mutige Mitmenschen zu betrachten, denen zuzuhören sich lohnt. Und die zudem ihren Sinn für Humor nicht verloren haben. Es wurde trotz der grimmigen Themen oft ausgelassen und ausgiebig gelacht. Wer in einer der Kaffeepausen in die Fußgängerzonigkeit unserer Republik hinausging, dem fiel auf, wie schwer die Menschen hierzulande an ihrem Luxus zu tragen haben. Die Profiteure der imperialen Lebensweise haben offenbar wenig zu lachen.

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