Lebensentscheidungen: Was hätte sein können
Die Liebe, der Job, die (falschen) Freunde: Entscheidungen gehören zum Leben, nicht immer sind sie richtig. Vier Geschichten übers Hadern und Hoffen.
„Bis heute denke ich an meine erste große Liebe“
Alexander Bohmbach (Name geändert), 51 Jahre, lebt in Berlin:
Frühe 90er-Jahre. Ich war Zivi in dem Altersheim, in dem sie arbeitete. Sie fiel mir sofort auf: wie sie beherzt die kleinen täglichen Probleme anging und sich nicht die Butter vom Brot nehmen ließ. Wie sie die Sorgen der BewohnerInnen ernst nahm, ohne in diese als Fürsorglichkeit getarnte Übergriffigkeit zu verfallen („Wir nehmen jetzt diese Tabletten, Frau Müller“).
Sie hatte kurze blonde Haare und trug knallroten Lippenstift. Ich verliebte mich sofort in sie. Das Problem: Ich wusste als schmaler 19-Jähriger nicht, wie man einer sechs Jahre älteren Frau Avancen macht.
Eines Abends, ich hockte im Kellergeschoss in meiner Zivi-Bude und hörte wie üblich U2, klopfte es. Sie hatte Nachtschicht, sie fragte, ob ich mal hochkommen wolle. Ich konnte mein Glück nicht fassen. Im Dienstzimmer saß ich ihr aufgeregt gegenüber, wie bei einem Vorstellungsgespräch. Sie blies souverän ihre Marlboro Light durch das offene Fenster in die laue Frühlingsnacht. In der Nacht küssten wir uns zum ersten Mal. Von dem Tag an fühlte sich alles leicht und licht an. Ein paar Tage später schliefen wir das erste Mal miteinander, am nächsten Morgen sang ich überdreht in der Heim-Großküche Gianna Nanninis „Bello e impossibile“ mit, das gerade im Radio lief. Eine Kollegin grölte albern mit, sie dachte, es geht in dem Lied um einen Hund.
Ein paar Wochen später zog ich mit meiner Reisetasche in die Wohnung der Frau mit dem knallroten Lippenstift ein und wurde neben ihrem Kater der zweite Mitbewohner. Der Kater akzeptierte mich umstandslos.
Sie war eine richtige Hamburgerin, was mich als Vorstadt-Hamburger mit Ehrfurcht erfüllte: selbstbewusst, ein bisschen derb und direkt – was sie wollte, das sagte sie geradeaus. Ich fand das gut. Wir lebten zusammen, als ob wir nie etwas anderes getan hätten. Sie ging mit mir in die Hamburger Clubs, ich ging mit ihr in die Programmkinos der Stadt. Wir entdeckten durch den anderen jeweils eine neue Welt.
Sie zeigte mir auch ihre Zerbrechlichkeit hinter ihrer selbstbewussten Seite: Ihr Vater war früh gestorben, das Verhältnis zur Mutter kühl. Sie sah in uns eine neue kleine Familie. Mich engte das mit meinen 19 Jahren nicht ein, ich teilte die Ernsthaftigkeit des Ganzen.
Ein paar Monate später ging es für mich fürs Studium in eine nicht weit entfernte Stadt, wir blieben natürlich ein Paar. Während meine MitstudentInnen das neue freie Leben ausgiebig nutzten, freute ich mich auf unsere gegenseitigen Wochenendbesuche. Als ich einmal wieder bei ihr war, spazierten wir durch eine Siedlung mit schmalen Reihenhäusern. Ich sah ein junges Paar, das gerade einen Babysitz samt Baby aus dem Auto hievte. Wäre doch eigentlich ganz schön, dieses ganz normale kleinbürgerliche Leben, dachte ich: zwei Kinder und ein Häuschen, am Sonnabend Großeinkauf mit dem VW Polo, am Sonntag zu zweit „Tatort“ gucken.
Wir beide stammten aus ebendiesem Milieu, aus dem ich doch eigentlich hinauswollte. Und tatsächlich, mit der Zeit zerrieben mich meine zwei so verschiedenen Leben – Studium und Beziehung – immer mehr. Wenn ihre Freundinnen, allesamt Altenpflegerinnen und Krankenschwestern, zu Besuch kamen, auf einen Weißwein von Blanchet, langweilten mich ihre Themen zunehmend. Heute befremdet mich meine damalige Arroganz – aber mit seinem Herkunftsmilieu geht man, wenn man jung ist, oft ungnädig um.
Einmal sagte sie zu mir, sie könne doch in meine Unistadt ziehen, da gebe es genug Stellen für sie. Ich versuchte, meine intuitive innere Abwehr hinter einem „Ja, gucken wir mal“ zu verbergen – und erschrak über meine Reaktion.
Zwei Jahre später folgte die nächste Station für mich: Auslandsstudium. Jetzt war mir klar, ich entscheide mich für das andere Leben. Arrogant (oder unsicher?) und mit der Herkunftsscham vieler Aufsteiger stellte ich mir vor, wie es wäre, den polyglotten MitbewohnerInnen meine Freundin, die kaum Englisch sprach, vorzustellen. Als ich ihr eines Tages – die Abreise nahte – beim Essen ankündigte, dass es das mit uns dann wohl gewesen sein dürfte, reagierte sie nicht überrascht, aber tief getroffen.
Ein Jahr später sahen wir uns wieder und nahmen eine unverbindliche Bettgeschichte auf. Aber es fühlte sich schlecht an. Ich merkte ihre tiefe Kränkung durch die Trennung; gleichzeitig bedeutete es für sie mehr als für mich. Irgendwann war auch das vorbei.
Als sie fast zwei Jahrzehnte später 50 wurde, nahm ich mir vor, sie anzurufen. Wie geht es ihr? Hat sie die Kinder, die sie sich wünschte? Ist sie glücklich? Das schlechte Gewissen ploppte wieder auf. Ich besorgte mir bei ihrer überraschten Schwester, die ich ergoogeln konnte, ihre Nummer. Mein Herz klopfte bis zum Hals, aber sie ging nicht ran. Ich versuchte es nicht noch mal. Vielleicht soll es so sein, dachte ich. Oder mich verließ der Mut.
Was wäre gewesen, wenn? Die Frage ist nicht realistisch – was war, das ist. Ich wurde Vater, heiratete, später folgte eine „einvernehmliche“ – wie es so unschön heißt – Scheidung. Aber es bleibt der schale Geschmack des Verrats an der ersten großen Liebe. Wenn Frühling ist und die Luft diesen besonderen Geruch hat, muss ich bis heute an die Frau mit dem knallroten Lippenstift denken.
„Ich tat alles für das Prestige im Job“
Eva Hartmann, 36 Jahre, lebt in Berlin:
Meine Mutter arbeitete als Pädagogin für Krankenpflege, mein Vater als Architekt, selbständig, mit eigenem Büro. Sein Beruf war unfairerweise deutlich präsenter in unserem Familienalltag als der meiner Mutter. Oft brach er abends zu Veranstaltungen auf, in weißem Hemd. Als ich Kind war, Anfang der 2000er, ging es zu Hause oft um die Baukrise und manchmal auch um ganz konkrete Geldsorgen meiner Eltern. Aber das schreckte mich nicht ab. Als Teenager nahm mich mein Vater ab und zu mit zu den Veranstaltungen. Ich lernte, dass Architekt ein Beruf mit Ansehen war, einer, für den man Anerkennung und Bestätigung bekam.
Wenn Freunde meiner Eltern zu Besuch waren, wurde ich oft gefragt: Und du? Wirst du auch mal Architektin? Beim Besuch einer Berliner Kunstmesse erklärte ich meinem Vater schließlich: Du, Papa, ich will auch Architektin werden.
Nach dem Abitur reiste ich zuerst etwas herum, dann bewarb ich mich bei der renommierten Weimarer Bauhaus-Uni für ein Architekturstudium. Es klappte, und so saß ich kurz darauf aufgeregt, erwartungsvoll und ehrfürchtig in meiner ersten Vorlesung. Doch mein Studium war schon bald geprägt von Überforderung und Selbstzweifeln. Ich kämpfte mit den hohen Ansprüchen an mich selbst, verglich mich und meine Leistungen ständig mit den Besten der Besten. Es herrschte ein enormer Konkurrenzdruck. Wir Studierenden kokettierten damit, wer am wenigsten geschlafen hatte, weil er oder sie sich mal wieder die Nacht im Arbeitsraum mit einem Entwurf um die Ohren geschlagen hatte.
Trotzdem zog ich es durch. Nach einigen Praktika bekam ich meine erste Festanstellung in einem Architekturbüro. Nach einer Frist von zwei Jahren ließ ich mich sofort in die Architektenkammer aufnehmen. Ich durfte mich nun offiziell Architektin nennen und bekam einen eigenen Stempel mit dem Berliner Bären drauf. Wieder spürte ich den Stolz meines Vaters, der auch mich mit Stolz erfüllte. Ich hatte es geschafft.
Dann begann der Putz zu bröckeln. Auf der Baustelle nahmen mich die Männer oft nicht ernst, obwohl ich mittlerweile die Bauleitung innehatte. „Junges Fräulein“, sagte einmal einer zu mir. Ich ließ mir daraufhin einen Kurzhaarschnitt schneiden. Ich verdiente wenig und arbeitete viel. Ich erkannte, dass meine Gestaltungsspielräume deutlich begrenzter waren, als ich sie mir im Studium noch ausgemalt hatte, und fühlte mich bald wie eine Dienstleisterin.
Ich kündigte, nahm eine kurze Auszeit, dann stieß ich auf eine Stelle im Bundesamt für Bauwesen und Bauordnung. Ich dachte, endlich könnte ich Bauherrin sein. Maestra statt Dienstleisterin. Und öffentliche Gebäude zu planen kam mir sinnstiftender vor als Gebäude für Investor:innen. Dazu mehr Geld, weniger Arbeit, mehr Urlaubstage und ein 13. Gehalt. Ich bewarb mich und bekam die Stelle.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Doch schon in der ersten Woche schlug die Ernüchterung ein. Gefühlt alle Klischees über Verwaltungsjobs erfüllten sich in kürzester Zeit. Die Prozesse waren zäh, jeder hatte seine eigene Kaffeetasse im Schrank, und als ich die stellvertretende Projektleitung übernehmen sollte, fühlte ich mich bald wie ein Spielball für politische Mätzchen. Hinter vielen Entscheidungen, die ich mich gezwungen fühlte zu treffen, stand ich nicht. Oft fühlte ich mich ausgebrannt und unglücklich. Ich nahm mir vor, das Jahr noch zu Ende zu bringen und bis dahin einen neuen Plan gefasst zu haben.
Ich war nun Mitte 30. In meinem Umfeld tat sich viel. Eine Freundin wechselte die Branche von Marketing zur Sozialen Arbeit, eine andere verabschiedete sich aus der Theaterszene, um ein Lehramtsstudium zu beginnen, ein Bekannter gab seinen Beruf als Dirigent auf und wurde Bäcker.
Sie alle tauschten einen Beruf mit Prestige gegen einen anderen mit geringerem gesellschaftlichen Ansehen. Ein Gedanke, der mir nie in den Sinn gekommen war oder den ich mir vielleicht nicht erlaubt hatte, nahm immer mehr Gestalt an: Vielleicht war ich nicht oder nicht mehr die geborene Architektin, die den Vater mit so viel Stolz erfüllt, sondern jemand anderes.
Gleichzeitig musste ich immer wieder an diese eine Radiosendung denken, die ich vor ein paar Jahren gehört hatte. Ein Bestatter war zu Gast und wurde ausführlich zu seinem Leben und seinem Beruf interviewt. Ich war fasziniert. Nun stellte ich mir immer wieder vor, mich als Bestatterin selbständig zu machen. Reden, Zuhören, Dasein – das kann ich doch ganz gut, dachte ich. Auch für meinen offenen Umgang mit Tod und Trauer hatte ich von Freunden, die selbst Angehörige verloren hatten, schon Bestätigung bekommen. In unserer Familie war das Thema nie ein Tabu gewesen, ich fühlte mich nicht unbeholfen damit, sondern selbstsicher.
Mit meiner Mutter sprach ich schon bald über diese Gedanken, meinem Vater wollte ich es erst erzählen, wenn ich einen konkreten Plan hätte. Ich machte einen Deal mit meinem Chef auf dem Amt. Ich würde für zwei Monate unbezahlten Urlaub nehmen, um in der Zeit ein Praktikum in einem Bestattungsunternehmen zu machen.
Daraufhin erzählte ich bald auch meinem Vater davon. Ich hatte einen Riesenkloß im Hals, aber er reagierte gut. Mit dem Beruf Bestatterin könne er nicht so viel anfangen, aber die Selbständigkeit, die würde mir sicher guttun. Obwohl ich die Rolle meines Vaters in der Wahl meines Berufes in einer Therapie schon voll und ganz durchgekaut hatte, spürte ich trotzdem eine riesige Erleichterung, ihn mit meiner Entscheidung gegen die Architektur offenbar nicht enttäuscht zu haben.
Das Praktikum wenige Monate später machte mir Spaß. Ich konnte mich nun klar als Bestatterin sehen. Ich fand über Kontakte eine Partnerin für die Selbständigkeit und kündigte meine Stelle auf dem Amt. Ab Januar 2024 widmete ich mich in Vollzeit dem Aufbau des Gewerbes, im August eröffneten wir unseren kleinen Laden.
Manchmal treibt mich die Angst vor dem Statusverlust noch um, aber meine Therapie hat mir geholfen, einen Umgang damit zu finden. Und manchmal habe ich Sorge, dass ich in drei Jahren wieder unzufrieden bin und alles hinschmeißen will. Aber dann sage ich mir, dass, selbst wenn es so käme, ich doch jetzt gelernt habe, wie so ein Neuanfang geht – und dass er geht.
Protokoll: Nora Belghaus
„Einmal habe ich ohne Führerschein Drogen über die holländische Grenze gebracht“
Dennis Kimani (Name geändert), 26 Jahre, lebt in der Nähe von Frankfurt:
Meine erste Anzeige müsste jetzt zwölf Jahre her sein. Damals wurde ich mit meinen Freunden beim Graffitimalen erwischt. Drogenkonsum, Anzeigen wegen Diebstahls und Körperverletzung, das alles hat bei mir ziemlich früh angefangen. Alkohol habe ich mit Jahren getrunken, mit zwölf habe ich geraucht, mit dreizehn gekifft.
Als ich dann die neunte Klasse beendet hatte, bin ich auf eine andere Schule gewechselt, um mein Abitur zu machen. Dort habe ich mich einem Freundeskreis angeschlossen, der nicht gerade positive Auswirkungen auf mich hatte. Weil ich damals schon gekifft habe, bin ich mit teilweise fünf Jahre älteren Jungs in Kontakt gekommen. Zwei von denen haben Drogen verkauft, also habe ich auch damit angefangen. Durch die Jungs habe ich außerdem selbst neue Drogen ausprobiert, LSD und Ecstasy zum Beispiel. Mit fünfzehn.
Ich glaube, das ist ungefähr der Punkt, an dem ich angefangen habe, aktiv falsche Entscheidungen zu treffen. Rückblickend kann ich nicht genau sagen, warum. Ich glaube aber, es war eine Mischung aus vielem: nicht zu wissen, was ich mit mir anfangen soll, und definitiv auch eine Form von Rebellion. Ich hatte immer das Gefühl, das System ist nicht gerecht zu mir. Warum sollte ich mich dann an alle Regeln halten?
Was ich damals sicherlich gebraucht hätte, sind männliche Vorbilder. Mein Vater ist abgehauen, mein Opa zu ungefähr der gleichen Zeit verstorben. Meine Mutter hat zwar versucht, das alles aufzufangen, trotzdem haben mir gewisse Dinge wohl gefehlt. Dadurch habe ich immer Anschluss bei älteren männlichen Personen gesucht und war bereit, viel zu tun, um deren Anerkennung zu gewinnen.
Natürlich ist es nicht beim Drogenverkaufen geblieben. Wir haben uns gegenseitig unsere Drogen geklaut und sie oft auch anderen Leuten abgenommen. Das Ganze ist nicht immer gewaltfrei abgelaufen: Entweder die haben die Drogen freiwillig rausgerückt oder eben nicht. Wenn nicht, haben wir sie geschubst, geschlagen, getreten. Das sind Aktionen, die ich heute keinesfalls wiederholen würde. Damals in diesem Umkreis haben sie zur Routine gehört. Und sie haben Geld gebracht. So konnte ich mein Kinderzimmer einrichten oder mir Klamotten kaufen, die meine Mutter sich nicht hätte leisten können in der Zeit.
Mit den Jungs von damals habe ich heute keinen Kontakt mehr. Einige sind ins Gefängnis gegangen, weil sie über die Jahre noch wesentlich schwerer straffällig wurden. Der eine hat eine Tankstelle ausgeraubt, der andere hat gezielt Beamte angegriffen. Zwei wurden noch einige Jahre von der Polizei gesucht. Rückblickend hatte ich großes Glück, mich an manchen Dingen nicht zu beteiligen, sonst hätte mir ein ähnliches Schicksal geblüht.
Als ich volljährig wurde, habe ich keine Drogen mehr verkauft. Trotzdem hatte ich immer wieder ein unstillbares Bedürfnis danach, in irgendeiner Form auffällig zu werden und Konsequenzen zu ignorieren. Zum Beispiel bin ich ständig unter Drogeneinfluss Auto gefahren, das war fast schon Normalität. Irgendwann wurde ich von der Polizei erwischt, daraufhin bin ich konsequent ohne Führerschein weitergefahren. Ich weiß noch, dass ich einmal sogar ohne Führerschein nach Holland bin und Drogen über die Grenze mitgenommen habe.
In meinem Studium hatte ich dann eine Phase, in der ich so viel gestohlen habe, dass man fast von Kleptomanie sprechen könnte. Ein halbes Jahr lang war ich jeden zweiten Tag in einem Mediamarkt und habe Handys und andere Geräte mitgenommen. Ich habe Tüten mit Alufolie ausgelegt, damit die Sender nicht ausschlagen. Der Moment, in dem ich wusste, dass es funktioniert hat, hat sich jedes Mal wie eine krasse Belohnung angefühlt. Vielleicht war das mein Fluch und Segen zugleich: Ich bin niemand, der nach einer Straftat direkt erwischt wurde. Ich musste erst tausende Male Drogen verkaufen, bekifft Auto fahren und klauen, bis ich wieder vor Gericht saß.
Mein Wendepunkt war der Moment, als ich das erste Mal wegen Diebstahls angezeigt wurde. Da war ich 21. Die Richterin hat mir damals eindrücklich erklärt, dass jetzt die Grenze erreicht ist, dass das hier die letzte Chance für mich sein könnte. Wenn ich noch mal in irgendeiner Form auffällig würde, würde mir Gefängnis winken. Zu dem Zeitpunkt hatte ich schon hunderte Sozialstunden gemacht und Tausende Euro beim Gericht gelassen.
Da habe ich gemerkt, dass es tatsächlich um mein Wohl und meine Freiheit geht. Ich hatte nicht nur Angst vor dem Knast, sondern habe auch erkannt, dass ich alles, was ich mir durch das Klauen angespart habe, durch die Prozesse eh wieder verliere. Das Geld hat hinten und vorne nicht gereicht, weil ich konstant Schulden abbezahlen musste. Und dann war da noch die Gefährdung anderer Menschen. Das Fahren unter Drogeneinfluss, die Körperverletzungen, das sind alles Situationen, wo jemand auch ernsthaft zu Schaden hätte kommen können. Dafür empfinde ich bis heute Scham und Reue.
Ich frage ich mich oft, wer ich wäre, hätte ich das alles nicht gemacht. Ich bin mir sicher, dass ich die Schule und mein Studium besser und früher abgeschlossen hätte. Aber ich empfinde auch Glück, dass ich aus eigener Kraft heraus die Kurve gekriegt habe. Heute arbeite ich im sozialen Bereich, das hätte ich mit einem Eintrag im Führungszeugnis knicken können. Seit meinem Gerichtsprozess habe ich vielleicht ein Spätibier mal nicht bezahlt.
Bis heute habe ich manchmal das Bedürfnis, etwas Verbotenes zu tun – für den Kick. In solchen Momenten meine Vernunft nicht einfach zu ignorieren, kostet mich Überwindung. Aber es klappt.
Protokoll: Katharina Federl
„Wofür mein Geld genau draufging, habe ich irgendwann nicht mehr überblickt“
Marion Meyer (Name geändert), 65 Jahre:
Am meisten vermisse ich das Haus, in dem ich gelebt habe. Die Bäder waren mit Marmor verkleidet, die Wände mit Edelstahlputz. Die Möbel bestanden aus dem feinsten Holz und wurden eigens für mich angefertigt. Es war alles vom Feinsten, ja, wirklich.
Zu dieser Zeit war ich jung und strotzte vor Selbstbewusstsein. Die Bilder von früher mag ich mir gar nicht mehr anschauen. Alle nannten mich eine Traumfrau. Bei Festen fühlte ich mich wie eine Königin, in schulterfreien Kleidern, funkelndem Glitzer und teurem Schmuck.
Mein Vater hat mich finanziell sehr unterstützt, da ich als alleinerziehende Mutter nicht besonders gut verdiente. Er hat auch das Haus bezahlt. Im Gegenzug habe ich ihn gepflegt. Trotzdem gab ich meinen Job nicht auf. Ich wollte selbstständig sein.
Ich habe mich um meinen Vater gekümmert, meinen Sohn großgezogen und dabei noch gearbeitet. Dass ich das alles geschafft habe, machte mich sehr stolz. Mein Leben war schön. Ich hatte alles und hätte gar keinen Mann gebraucht.
Bis ich 1986 eben doch einen kennenlernte und mich stark in ihn verliebte. Jeden Tag hat er meinen Sohn aus dem Kindergarten abgeholt, um mich zu entlasten. Da bin ich geschmolzen. Ein Jahr später haben wir geheiratet. Irgendwann habe ich dann meinen Job gekündigt, um im Lebensmittelhandel meines Mannes zu arbeiten. Wir bekamen einen zweiten Sohn und ich habe mehr Zeit zu Hause verbracht. Rückblickend wünsche ich mir, ich wäre einfach alleine geblieben.
Es fing langsam an: Erst bat er mich einmal um Geld. Zwanzigtausend Mark für die Firma. Dann ein zweites Mal. Dann wieder und wieder. Ich hatte Geld von meinem Vater, über das nur ich verfügen konnte. Davon habe ich die Summen gezahlt. Ich erinnere mich an eine Situation, in der ich einen ganzen Kühlwagen für sein Unternehmen bar bezahlt habe. Fünfzigtausend Mark auf die Hand.
Wofür mein Geld genau draufging, habe ich irgendwann nicht mehr überblickt. Trotzdem habe ich immer Ja gesagt. Auch dann, als ich gesamtschuldnerisch eine Bürgschaft unterschreiben sollte. Weil bereits so viel Geld von mir in der Firma steckte, fühlte ich mich verpflichtet, immer weiterzuzahlen. Als gäbe es kein Zurück.
Mein Mann hat dazu auf mich eingeredet. Alles wird gut, meinte er. Dass ich auf keinen Fall mein Haus verliere, hat er mir versprochen. Deshalb habe ich die Bürgschaft unterschrieben. Seiner Firma ging es schlechter und schlechter, ich wollte sie retten. Hätte ich damals schon verstanden, was mich erwartet, hätte ich nicht unterzeichnet. Am Ende habe ich alles verloren.
Über die Jahre musste ich mein ganzes Vermögen flüssig machen. Meine Aktien, Geschäftsanteile. Als Letztes wurde mein Haus zwangsgeräumt. Ich musste mit meinen Kindern zu meiner Mutter ziehen, in ihre kleine Wohnung. Mein Mann zog woandershin.
Nachdem das Haus weg war, wollte ich mich scheiden lassen. Nach ein paar Wochen ist mein Mann dann mit Blumen angekommen, um mich aufzuheitern. Wir packen das zusammen, wir kommen wieder auf die Beine, hat er zu mir gesagt. Da bin ich wieder weich geworden. Ein paar Jahre später, 2007, zogen wir zusammen in eine Wohnung. Eine richtige Familie sind wir aber nicht mehr geworden. Kurze Zeit später, 2008, erlitt er einen Schlaganfall. Drei Jahre später ist er gestorben.
Heute, mit 65, lebe ich in der Wohnung, in der ich meine Mutter bis zu ihrem Tod gepflegt habe. Hier fühle ich mich sehr unwohl. Ich habe keinen Balkon und keinen Garten. Dafür leben neun Parteien im Haus, und es ist immer laut. Die Gegend ist nicht schön. Meine persönlichen Gegenstände, die mir nach der Zwangsräumung geblieben sind, lagern seit Jahren in Garagen – weil aber mein Auto kaputt und die Reparatur zu teuer ist, kann ich nicht mehr dorthin fahren. Meine Füße sind zu kaputt. Mein letztes Stück Selbstständigkeit habe ich verloren.
Geld habe ich nur wenig. Als ich zuletzt auf meinen Rentenbescheid geschaut habe, ist mir schlecht geworden. Ich habe so viel Zeit damit verbracht, die Menschen in meinem Leben zu pflegen. Meine Mutter, meinen Vater und selbst meinen Mann habe ich, nachdem er all mein Vermögen vernichtet hat, bis zum Tod gepflegt. Dass ich jetzt so wenig Rente kriege, liegt auch daran. Das finde ich enttäuschend. Es lohnt sich in diesem Land weder Kinder großzuziehen noch alte Leute zu pflegen.
Ich habe kaum Perspektiven für mein Leben. Ich bin froh, dass sich wenigstens die Seniorenhilfe Lichtblick um mich kümmert. Vergangenes Jahr im Dezember wurde ich von ihnen zu einer Musicalaufführung eingeladen. Vorher gab es Kaffee und Kuchen für uns. Das war schön. Gleichzeitig fühlte ich mich etwas unwohl, weil alle anderen so schick angezogen waren. Schöne Kleidung kann ich mir ja nicht mehr leisten.
Im Alltag versuche ich, nicht an das zu denken, was ich verloren habe, an das, was hätte sein können. Es fällt mir schwer. Es fühlt sich an, als wäre die Zwangsräumung gestern gewesen. Mein ganzes Leben habe ich nie etwas für mich getan. Irgendwann habe ich es vermutlich verlernt und bin auf der Strecke geblieben. Ich wollte immer nur helfen.
Hätte ich damals einfach Nein gesagt, zu der Bürgschaft, zu den Zahlungen, wäre heute alles anders. Es ist der Fehler, der mir mein Leben kaputt gemacht hat. Protokoll: Jerrit Schlosser
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!