Lautes Telefonieren in Öffis: Quiet please! Lasst Privates privat sein
Busse und Bahnen sind zur öffentlichen Telefonzelle geworden. Ist man spießig oder humorlos, wenn man sich ein Verbot zu lauter Handynutzung wünscht?
A lter, ich will dir nicht vor den Karren pissen, aber das ist echt Scheiße … Versteh ich, aber du bist so was von verwichst … du bist ein echter Scheißwichser.“
Hört man so etwas in der Straßenbahn, wird es lustig – oder sehr anstrengend. Nicht nur für den „Scheißwichser“, der von dem Typen mit Headset, der gerade einsteigt, beschimpft wird, sondern auch für alle anderen Fahrgäste.
Denn der Headset-Mann hat offenbar keine Ahnung, wie laut er telefoniert, er hört sich selbst ja leiser als sein Umfeld. Und so erfährt der gesamte Waggon, dass „die Situation total verfahren ist“ mit dem „Scheißwichser“, und als der Spuk sechs Stationen später wieder vorbei ist, wissen auch alle, dass „die Knete ratzfatz wieder her“ muss.
Fragt man Reisende, was beim Bahnfahren oder in der U-Bahn am stärksten nervt, antworten die meisten: Menschen. Zu voll sind die ICEs, Busse, Trams und S-Bahnen. Und am allerallerschlimmsten sollen die Lauttelefonierer sein, egal, ob die Kopfhörer tragen oder ihr Handy direkt vor ihren Mund halten und trotzdem reinbrüllen, als habe die andere Seite das Hörgerät ausgeschaltet.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Sind Kinder im Spiel, wird gern die Handykamera dazugeschaltet – und das Abteil darf sich mit daran erfreuen, wie das Baby zu Hause bei der Oma seinen Brei wegschmatzt. Später fragt der Papa liebevoll: „Und? Hat er heute schon in die Windel gemacht?“ – „Gleich dreimal, einmal war es ganz grün, ich denke, das ist vom Spinat.“
Corona hat das Private endgültig ins Öffentlich verschoben
War lautes Telefonieren im öffentlichen Raum vor gut 30 Jahren noch eine Angeberpose – ätsch, ich kann mir solch ein geiles Mobilteil und erst recht die superteuren Verbindungskosten dafür leisten –, ist es in den vergangenen Jahren eine Selbstverständlichkeit geworden.
Flatrates und Handys in allen Preisvarianten machen es möglich, von überall nach überall zu telefonieren. Das hat große Vorteile: Schlüssel vergessen, kein Problem, ich ruf meine Nachbarn an, die haben einen Zweitschlüssel. Oder: Was sollte ich noch mal aus dem Supermarkt mitbringen? „Ich steh gerade vor dem Käseregal, was wolltest du haben?“
Das Vermengen des privaten mit dem öffentlichen Ich wurde durch die Coronalockdowns verschärft. Dank Videokonferenzen konnte man plötzlich in die Wohn- und Arbeitszimmer der Kolleg:innen schauen. Man sah vertrockenete Gummibäume, Filmplakate und ungemachte WG-Hochbetten, manchmal lief ein halbbekleideter Mann durch den Hintergrund oder ein Kind schob seinen Kopf vor die Kamera, ach wie süß, und die Kolleg:innen an ihren Bildschirmen winkten dem Kind zu.
Keine Ruhe im Ruheabteil
Corona hat die Hemmschwelle, Privates als Privates zu verhandeln, gefühlt in die Keller geräumt. Vor allem beim Bahnfahren. „Schatzimatzi, ich freu mich so auf dich. Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Vier Tage, puh, ja, ganz schön lange. Wir gehen dann gleich ins Bett, ja? Bereitest du schon mal alles vor?“
Ist man spießig, humorlos oder zu wenig resilient, wenn man sich wünscht, dass lautes Telefonieren in Bussen und Bahnen verboten werden sollte? Dass Chefs keine Anweisungen aus einem ICE geben dürfen und „Schatzimatzi“ von selbst auf die Idee kommen sollte, das Liebesnest herzurichten?
Selbst in den Ruheabteilen in der Bahn hat man selten seine Ruhe. Da stören einen dann auch die Menschen nicht mehr, die immer noch nicht wissen, wie sie ihre Tastentöne ausstellen können, und bei denen jede Textnachricht mit einem unentwegten Piepiepiepiep durchs Abteil fliegt.
Nur in ganz, ganz seltenen Fällen nerven laute Handygespräche nicht, sondern sind sogar nützlich. Ich jedenfalls weiß neuerdings, wie man ein französisches Orangenhühnchen zubereitet.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Trump macht Selenskyj für Andauern des Kriegs verantwortlich
Wahlarena und TV-Quadrell
Sind Bürger die besseren Journalisten?
Emotionen und politische Realität
Raus aus dem postfaktischen Regieren!