Landtagswahl in Bayern: Die Jammer-Bayern
In Ostbayern erhält die AfD besonders viel Zuspruch. Dabei ist die Region alles andere als strukturschwach. Warum wählen die Menschen dort rechts?
E s gibt Dinge, gegen die würde kein Mensch wetten. Zum Beispiel, dass die CSU den Ministerpräsidenten in Bayern stellt, seit 1957 wird das Land stets von einem Konservativen regiert. Auch bei den anstehenden Landtagswahlen am 8. Oktober wird das wohl wieder so sein, bei der Partei von Ministerpräsident Markus Söder werden voraussichtlich mindestens 35 Prozent der Wählerschaft ihr Kreuz machen. Die einzig spannende Frage ist deshalb: Wer wird zweitstärkste Kraft im flächengrößten Bundesland? Drei Parteien liegen in Umfragen ungefähr gleichauf (zwischen 12 und 17 Prozent), es könnten die Grünen werden, die Freien Wähler – oder doch gar die AfD, mit der eine Koalition allerdings ausgeschlossen ist.
Ministerpräsident Markus Söder (CSU) betont zwar gerne stolz, dass die AfD in Bayern keine große Rolle spiele und nicht so viel Zustimmung wie in anderen Bundesländern erhalte. Im Juli veröffentlichte das Meinungsforschungsinstitut Wahlkreisprognose jedoch eine Umfrage, die Söders Bild ins Wanken bringt. Die AfD besitzt vier bayerische Stimmkreishochburgen, in denen für westdeutsche Verhältnisse ungewöhnlich viele Menschen ihr Kreuz bei der Partei setzen könnten.
Ein Stimmkreis, Cham, liegt in der Oberpfalz, drei davon – Deggendorf, Passau-West und Freyung-Grafenau – liegen im angrenzenden Niederbayern. In Freyung-Grafenau könnten nach diesen Umfragewerten 31,5 Prozent der Stimmen auf die AfD entfallen, sie wäre dort nur einen halben Prozentpunkt hinter der CSU.
Und diese Werte kommen nicht aus dem Nichts. Bei den Bundestagswahlen 2017 und 2021 war der Osten Bayerns bereits das stärkste Gebiet der AfD, und ganz besonders der Stimmkreis Deggendorf. Bei beiden Wahlen wurden hier die höchsten AfD-Werte verzeichnet. 2021 waren es 14,4 Prozent, 2017 sogar über 19 Prozent, im Landkreis Freyung-Grafenau – welcher bei der Bundestagswahl zum Stimmkreis Deggendorf gehört – durchbrach die Partei bereits vor sechs Jahren die 20-Prozent-Marke. Wie kann man sich den Erfolg der AfD hier erklären?
Wahl Am 8. Oktober wird in Bayern gleichzeitig mit Hessen ein neuer Landtag gewählt. Im Jahr 2018 holte die CSU nur 37,2 Prozent der Stimmen in Bayern – das schlechteste Landtagswahlergebnis seit fast 70 Jahren. Seither regiert Ministerpräsident Markus Söder mit den Freien Wählern und will diese Koalition auch fortsetzen. Hubert Aiwanger räumte zuletzt ein, dass in seiner Schulzeit ein antisemitisches Flugblatt in seinem Ranzen gefunden worden war.
Umfragewerte Laut dem Institut GMS liegt die CSU derzeit bei 36 Prozent. Bei den Freien Wählern ist die Zustimmung bei 17 Prozent. Das sind trotz Aiwangers Affäre 4 Prozentpunkte mehr als Anfang September. Grüne und Afd kommen auf 14 Prozent. (afp, dawum)
In den USA wird gerne das Bild eines Gürtels herangezogen, um Regionen nach Merkmalen einzuteilen. Es gibt beispielsweise den „Bible Belt“, den Bibelgürtel, der Teile der Südstaaten beschreibt, wo besonders viele evangelikale Protestant*innen leben. Wenn man der ostbayerischen Region einen Namen geben wollte, könnte man sie den „Keine-Autobahn-Gürtel“ taufen. Von Cham über Regen nach Freyung-Grafenau durchquert man drei Landkreise, die im Osten von Tschechien begrenzt werden, Freyung-Grafenau teilt sich sogar noch ein Stück Grenze mit Österreich. Zusammen besitzen sie eine Fläche von etwa 3.500 Quadratkilometern, ungefähr so groß wie das Saarland und Berlin zusammen – und haben keinen Autobahnzugang.
Will man dort von einem Ort zum anderen, bleibt meist nur das Auto. Die Schienenanbindung in der Region gehört zu den schlechtesten Deutschlands und so zuckelt man über zweispurige Bundesstraßen hinter Lastwägen durch den Bayerischen Wald, der sich in der Region über eine Länge von 100 Kilometern ausdehnt. Menschen, die dort leben, sagen meist, sie kommen aus dem „Woid“, dem Wald.
Freyung ist eine kleine Kreisstadt mit knapp über 7.000 Einwohner*innen. Seit 15 Jahren leitet Olaf Heinrich die Geschicke der Stadt. Der CSU-Mann ist populär, bei der letzten Kommunalwahl 2020 wurde er mit über 94 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt, zudem ist er Bezirkstagspräsident von Niederbayern. Bis 2006 war er Mitglied der Ökologisch-Demokratischen Partei, die er damals aufgrund inhaltlicher Differenzen verließ. Als er 2013 in dieses Amt kam, war er mit damals 34 Jahren der jüngste Bezirkstagspräsident Bayerns nach dem Zweiten Weltkrieg.
Im Rathaus von Freyung trägt er einen dunkelgrünen Anzug mit dicken Knöpfen, der halb nach Trachtenanzug, halb nach Försterkleidung aussieht. Der Vater war auch Forstbeamter, er selbst hat über die kommunale Profilierung von Freyung im ländlichen Raum promoviert. Wenn er spricht, dann in klaren, aber kurzen Sätzen. Er muss sich seine Zeit auch gut einteilen bei seinen zwei Jobs, er arbeitet 50 Stunden pro Woche in seinem Hauptamt als Bürgermeister – und 30 in seinem Nebenamt als Bezirkstagspräsident. Wie die Stimmung vor Ort ist? „Ich nehme schon wahr, dass die Zustimmungswerte für die AfD relativ hoch sind“, sagt Heinrich. Ein verfestigtes Wahlverhalten ist das für ihn aber nicht, er kenne niemanden, der überzeugt davon ist, dass die AfD Probleme gut lösen kann.
Ein Unterschied im Vergleich zu anderen Teilen Bayerns liegt für Heinrich darin, dass der Wohlstand in die Region des Bayerischen Waldes sehr viel später gekommen sei. Dieser sei „extrem hart erarbeitet“. Dass die meisten Menschen eher einer körperlichen Arbeit nachgehen, belegen neue Zahlen der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES). Wenn man im Bild der Gürtel bleiben will: Von der nördlichen Oberpfalz bis hin zum südlichen Niederbayern reihen sich einige der Landkreise mit der geringsten Akademisierungsquote. In Freyung-Grafenau liegt diese bei 7,31 Prozent, der zweitniedrigste Wert in ganz Deutschland. Zum Vergleich: In München haben 40 Prozent der Menschen einen Hochschulabschluss.
Bei den letzten beiden Bundestagswahlen zeigte sich, dass die AfD kaum von Akademiker*innen gewählt wird. Bei der Wahl 2017 machten 7 Prozent der Akademiker*innen ihr Kreuz bei der Partei, vier Jahre später 6 Prozent. Dennoch: Am beliebtesten bei Menschen mit einfacher Bildung waren mit weitem Vorsprung Union und SPD.
„Es gibt Menschen, die sitzen am Tag vier, viereinhalb, fünf Stunden im Bus, um in einem großen Automobilwerk zu arbeiten“, sagt Heinrich. Das große Automobilwerk ist das von BMW, in Niederbayern hat das Unternehmen zwei Standorte, in Landshut und Dingolfing. Das Werk in Dingolfing ist eines der größten von BMW weltweit, 18.000 Mitarbeiter*innen sind dort beschäftigt. 115 Kilometer sind es von Freyung dorthin, die BMW-Werksbusse sind oft eine der wenigen Buslinien durch die Dörfer.
Aber deswegen die AfD wählen? Heinrich führt an, diese Leute hätten jetzt einen gewissen Wohlstand erreicht, ein Haus gebaut und durch die „multiplen Krisen, die es momentan gibt, große Angst, das zu verlieren.“ Mechanismen, die der Politikwissenschaftler Tassilo Heinrich, der das Wahlverhalten in ostbayerischen Regionen untersucht hat, bestätigen kann. „Man hat Angst, etwas zu verlieren, wenn man tatsächlich etwas hat.“ Viele aus der AfD-Wählerschaft seien Ende 40, Anfang 50, da fange man an, sich Gedanken über die Rente und mögliche Altersarmut zu machen.
Es ist eine typische Erklärung für den vermeintlichen Erfolg der AfD: Wähler*innen fühlen sich abgehängt. Dass dies auch auf die Menschen in Freyung-Grafenau zutrifft, das will Heinrich „überhaupt nicht unterschreiben“. Das sieht auch die Studie der FES so. Alle ostbayerischen Landkreise zählt sie zumindest zu der Kategorie „Deutschlands solide Mitte“. Die Mediangehälter liegen bei etwa 3.300 bis 3.400 Euro brutto im Monat, die Mietkostenbelastung ist durchschnittlich. Die Altersarmut pendelt zwischen 1 und 2 Prozent, die Kinderarmut bewegt sich meist im mittleren einstelligen Bereich, kein Vergleich zum Ruhrgebiet oder Berlin, wo diese weit über 20 Prozent beträgt.
Menschen ziehen eher in die Landkreise als davon weg, das Wanderungssaldo ist positiv. Gerade beim Nachwuchs an jungen Arbeitskräften ist der Unterschied zwischen Ostbayern und Ostdeutschland gewaltig. In weiten Teilen der neuen Bundesländer kommen auf 100 Beschäftigte im Alter von 50 bis 65 Jahren nur meist 30 bis 40 Beschäftigte unter 30 Jahren, in Niederbayern überschreiten die Werte oft die 70er-Marke. Und auch bei den Investitionen gehört Niederbayern zur Bundesspitze. Je Einwohner*in werden dort meist über 800 Euro in den Kommunen investiert, in weiten Teilen Deutschlands werden nur wenige hundert Euro pro Bürger*in ausgegeben.
Heinrich sieht drei Themen, welche die Menschen vor Ort bewegen und für Frustration sorgen: Migration, Energie und Wirtschaft. Themen, die sich oft auf regionaler Ebene kaum lösen lassen, da der Bund in der Verantwortung steht. Das spiegelt sich auch bei der AfD wider: Sie setzt vor Ort kaum auf lokale Themen. Unter Plakaten von Heinrich hängt der AfD Kreisverband Freyung-Grafenau beispielsweise eigene mit dem Konterfei ihrer Spitzenkandidat*innen Katrin Ebner-Steiner und Martin Böhm. „Nie wieder Lockdowns“ steht darauf geschrieben, obwohl es gerade überhaupt keine Coronamaßnahmen gibt. Und der Deggendorfer Kreisverband veröffentlichte auf Facebook ein Bild, auf dem steht, dass 75 Prozent der Bevölkerung unzufrieden mit der Ampelregierung seien.
Dass der Wahlkampf so von bayerischen Themen entkoppelt wird, daran sind auch Mitglieder der Unionsparteien schuld. Ministerpräsident Söder twitterte Anfang September: „Ja zu Bayern, Nein zur Ampel!“ Für den Politikwissenschaftler Heinrich ergeben sich da Parallelen zur Landtagswahl 2018. Schon da hätten „kaum bayerische Themen stattgefunden, es war definitiv ein Referendum über die Bundesregierung“.
Auch ein Blick in das 148 Seiten umfassende Parteiprogramm der AfD zur Landtagswahl zeigt: Mit vielen spezifisch bayerischen Forderungen geht die Partei nicht ins Rennen, stattdessen zieht sich der bundesweite Duktus durch das Blatt: Es werden Ängste vor einer „Islamisierung“ geschürt, gegen das Gendern und angebliche ideologische Zwänge gewettert. An den Auftritten der AfD im Internet und in sozialen Medien kann die Zustimmung auch kaum liegen. Während der Deggendorfer Kreisverband immerhin noch Veranstaltungen aus dem November 2021 auf seiner Termineseite ausweist, kann die Seite beim Chamer Ableger nicht korrekt dargestellt werden – und Freyung-Grafenau besitzt nicht einmal eine Website.
Dass die AfD hier wegen bundespolitischer Themen gewählt wird, unterstreichen auch die Ergebnisse der letzten Kommunalwahl. 2020 erreichten sie etwas über sechs Prozent bei der Wahl zum Kreistag, was vier Sitzen entspricht. „Unauffällig“ seien die Abgeordneten dort aber seitdem geblieben, besonders viele Anträge haben sie nicht gestellt. Vor zwei Jahren traten sie das einzige Mal in den Regionalmedien in Erscheinung. Sie versuchten vergebens, ein Ordnungsgeld gegen die Fraktion der Grünen durchzusetzen, weil sich deren Abgeordnete bei einer Abstimmung enthalten hatten, um ein Anliegen nicht zusammen mit der AfD durchsetzen zu müssen.
Im Stadtrat von Freyung findet man gar keine*n Vertreter*in der AfD, sie waren nicht angetreten. Vor Ort sei die Partei kaum präsent, sagt Heinrich. Und das, obwohl der Stimmkreis Deggendorf der Heimatwahlkreis von Ebner-Steiner ist. „Veranstaltungen gibt es höchst selten, ich würde sagen eine im Jahr, Infostände sind es in den Wahlzeiten natürlich deutlich mehr.“ Die Leute, die dort hingehen, seien ein harter Kern von aktiven Wahlkämpfer*innen.
Im kleinen Örtchen Karpfham im Landkreis Rottal-Inn, 30 Kilometer südwestlich von Passau, wird an einem Donnerstag Ende August das Karpfhamer Fest eröffnet. Ein Volksfest, wie es viele in Bayern gibt, ein Ort, wo Bier aus Maßkrügen die einzig legale Droge ist und das auch so bleiben soll. „Oans wie koans“, „eines wie kein anderes“, lautet der Wahlspruch des Festes. Angegliedert ist die Rottalschau, eine der größten Landtechnikmessen Deutschlands, Traktoren und anderes schweres Gerät stehen dort.
Es ist Punkt 18 Uhr, das Fest hat gerade begonnen und der Kreisverband der AfD Rottal-Inn hat zum Treffen an der Polizeiinspektion neben dem Festplatz gebeten. Zahlreiches Erscheinen sei gewünscht, wurde auf Facebook angekündigt, alle in blauen T-Shirts würden ein Freibier bekommen. Vor dem Gebäude stehen drei Personen. Einer davon ist der Landtagskandidat Dietmar Seidl, weißes Haar und Hemd, dunkelblaue Trachtenweste, lange Lederhose und dunkelblaue Schuhe. Mit ihm gemeinsam wartet ein Mann mittleren Alters, ebenfalls lange Lederhose, Hut, AfD-Shirt, und eine Frau, die sich auch an den blauen Dresscode hält.
Warum sie AfD wählen? „Die AfD steht für Heimatschutz, für das arbeitende Volk“, sagt der Mann mit Hut, Taxifahrer von Beruf. Und im selben Atemzug, ohne dass danach gefragt wurde: „Wir sind keine Nazis und auch keine Rechtsextremisten.“ In der Presse würden sie so dargestellt werden, pflichtet ihm die Frau bei. Dass sie in Niederbayern hohe Werte erzielen, liege ihrer Meinung nach an Leuten, die aus dem CSU-Lager wechseln. CSU und Freie Wähler seien für sie nicht wählbar, vor allem die Union sei unter Merkel nach links abgedriftet, sagt Seidl. „Wir hätten die AfD nicht gebraucht, wir waren früher CSU-Stammwähler“, seine Begleiter*innen stimmen zu. „Wenn der Franz Josef Strauß wieder auferstehen würde, wäre er in der AfD“, sagt der Mann mit Hut mit breitem niederbayerischem Akzent. „Oder wir alle in der CSU“, lacht die Frau.
Die AfD würden sie nicht wählen, weil es ihnen aktuell schlecht gehe, sagen beide. „Aber es wird schlechter“, befürchtet der Taxifahrer. Er kann seine Zukunftsängste dann aber nicht näher begründen. Auch die FES-Studie sieht den Landkreis für die Zukunft eigentlich gut aufgestellt. Genau wie Freyung-Grafenau und alle anderen Landkreise in der Region bezeichnet die Studie Rottal-Inn als „resilienten ländlichen Raum“. Den meisten westdeutschen Gegenden und so gut wie allen ostdeutschen Kreisen werden schlechtere Zeugnisse ausgestellt.
Ob die drei die AfD wegen der Bundespolitik wählen würden, oder wegen der Politik in Bayern? Zum ersten Mal muss Seidl stutzen. „Beides“, sagt er dann, obwohl er auf Nachfrage kein konkretes lokales Projekt nennt. Der Taxifahrer deutet auf die Straße, über welche die Menschenmassen Richtung Eingang des Festes strömen. Er zeigt auf die Trachten, man sieht viele Lederhosen, Westen, Jancker und Dirndl. „Bayern ist sehr mit der Tradition verbunden.“ Einmal bleibt ein Mann mit seinem Sohn kurz stehen, drückt seine Unterstützung aus. Er sei aber nicht von hier, komme aus dem fränkischen Bamberg. „Vor zwei Jahren war das noch anders“, meint der Taxifahrer. „Jetzt zeigt von 20 Leuten einer den Stinkefinger und die restlichen 19 recken den Daumen hoch.“
Zwanzig Kilometer weiter, in Pfarrkirchen, steht am Ortseingang ein unscheinbares Haus. Hier im Lokal Grün sitzt der Kreisverband der Grünen Rottal-Inn, die Kreisrätin Mia Goller empfängt. Die 45-jährige vierfache Mutter hat als Landratskandidatin bereits 23 Prozent geholt, das beste Ergebnis der Grünen niederbayernweit. Die gelernte Journalistin bietet ihr eigenes Bier an, „Mia Bier“. Gibt’s das auch alkoholfrei? „Na, wir sind in Niederbayern“, lacht sie. „Ich verstehe es nicht, warum die Leute hier auf die Idee kommen, dass die AfD eine gute Idee ist, die Menschen in Niederbayern werden gehört von der Politik“, sagt sie. Es gebe ausreichend politische Bildung, den Leuten gehe es gut, man habe BMW, viele Arbeitgeber, den Tourismus.
Grüne als Feindbild
Dass man da im Bierzelt Stammtischparolen von sich gibt, könne sie ja gerade noch verstehen, aber „dass man wirklich sonntags hingeht und die wählt, das verstehe ich nicht.“ Schließlich mache die AfD feindliche Politik für die Leute, die sie wählen, mache „keine Politik für Geringverdiener, die kümmern sich eigentlich nur um die, die richtig gut verdienen.“ Auch die drei AfD-Abgeordneten, mit denen sie im Bezirkstag sitzt, seien keine schlecht situierten Menschen, sondern eine Lehrerin, ein Vertriebsleiter und ein Kaufmann.
Gerade auf Facebook merkt Goller eine zunehmende Feindseligkeit, die Grünen sind das Hauptfeindbild der AfD-Anhänger*innen. Der Politikwissenschaftler Heinrich übt sich in einer Erklärung: Bei der Debatte über das Gebäudeenergiegesetz standen die Grünen mit dem zuständigen Minister Robert Habeck sinnbildlich für die nach wissenschaftlichen Fakten effiziente, aber gefürchtete Wärmepumpe. Katharina Schulze, die Spitzenkandidatin für die Landtagswahl, wurde zuletzt auf einer Veranstaltung beschimpft, gerade die Frauen bei den Grünen würden angegangen.
Goller erzählt von einer Mitarbeiterin im Lokal Grün, die Angst habe, dort zu arbeiten. Auch Goller glaubt, dass die AfD vor Ort wegen bundespolitischer Themen gewählt werde. Niederbayern hänge sehr am Verbrenner, nicht zuletzt, weil BMW dort ein wichtiger Arbeitgeber ist. „Die denken, wenn sie AfD wählen, können sie den Klimawandel abwählen.“
Während des Gesprächs mit Goller läuft gerade medial die Aiwanger-Affäre heiß: Ob Vizeministerpräsident Hubert Aiwanger (Freie Wähler) aufgrund der in seiner Schulzeit bei ihm gefundenen antisemitischen Flugblätter zurücktreten muss? Einer klaren Antwort weicht sie aus und betont, dass die Freien Wähler trotz allem die Leute abfangen können, bevor sie die AfD wählen. Wenige Tage später entscheidet Söder, ihn trotz schwammiger Antworten im Amt zu behalten. Die Freien Wähler gewinnen in Umfragen trotz des Skandals bis zu 4 Prozent dazu, ohne dass die AfD an Prozentpunkten verliert.
Die Grünen-Politikerin stört, dass derzeit kein breites Bündnis der Demokrat*innen gegen die AfD in Sicht ist. Mitte August gab es im nahe gelegenen Eggenfelden eine Demonstration unter dem Motto „Gesellschaft schützen, Demokratie verteidigen“. Die Freien Wähler stellten nur ihr Logo für das Plakat zur Verfügung, die CSU war nicht einmal auf diesem vertreten. Dennoch verteidigt Goller die Partei. Sie komme aus einem CSU-Haushalt, sei mit Strauß’ Bild an der Wand aufgewachsen, ihr Vater habe um ihn getrauert. „Aber mit dem rechten Gedankengut zu flirten, das habe ich persönlich von der CSU bisher nicht erlebt. Das ist neu und sehr erschreckend.“
Am Ende kann sich niemand wirklich erklären, wieso die AfD genau hier in Ostbayern so viel Zuspruch erfährt, nicht mal die AfD selbst. Die bayerische AfD ist einer der zerstrittensten Ableger, die Fraktion im Landtag spaltete sich fast während der Legislaturperiode. Sie ist auch eine der extremsten Landesverbände, erst kürzlich bestätigte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, dass der Verfassungsschutz die AfD in Bayern als Gesamtpartei beobachten darf. Auch der Politikwissenschaftler Heinrich sieht keine einfache Antwort, sondern einen Mix aus verschiedenen Faktoren. Die Regionen ohne große urbane Zentren, dazu die Angstnarrative vom Abstieg sowie die Migrationsströme, welche über die Bahnlinie durch Österreich 2015 nach Deutschland kamen.
Eins scheint jedoch sicher: Eine AfD-Wahl ist keine Faktenwahl, sondern eine Emotionswahl. Auch in der eigentlich heilen ostbayerischen Welt kontrollieren die Ampelparteien angeblich das heimische Thermostat und zwingen zum Gendern. In dieser Welt ist Angela Merkel immer noch Schattenkanzlerin einer angeblich zu linken Union und nicht mal ein Hubert Aiwanger rechts genug. Egal ob Cham, Deggendorf, Freyung-Grafenau oder Rottal-Inn: Am 8. Oktober wird nicht München gewählt, sondern Berlin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Rückzug von Marco Wanderwitz
Die Bedrohten
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül