Landtagswahl in Baden-Württemberg: Der Bahnhof entzweit die Bewegung
Der Protest gegen Stuttgart 21 hob vor fünf Jahren den grünen Ministerpräsidenten Kretschmann mit ins Amt. Und jetzt?
Während auf der Baustelle Fakten geschaffen werden, geht in der Fußgängerzone vor dem Neuen Schloss der Kampf weiter. Montag für Montag treffen sich hier um die tausend Gegner. Zwar ist ihre Zahl seit dem Höhepunkt der Proteste deutlich gesunken und das Durchschnittsalter sichtbar gestiegen, aber noch immer tragen sie die Buttons mit dem durchgestrichenen S 21-Logo und lauschen engagierten Ansprachen, Kabarett und Musik. Und rufen wie früher: „Oben bleiben!“
Doch der Ruf verhallt weitgehend ungehört. Nach dem verlorenen Volksentscheid von 2011 sei „der Käs‘gegessen“, wie Ministerpräsident Winfried Kretschmann betont volkstümlich sagt. Sein Verkehrsminister Winfried Hermann erklärt immer wieder mit zusammengebissenen Zähnen, das Projekt sei zwar falsch, „aber jetzt bauen wir es halt“.
Auch wenn die Baugrube jeden Tag weiterwächst – die Leute der Montagsdemo werden sich nicht damit abfinden. Rechtsanwalt Eisenhart von Loeper, ein Aktivist der ersten Stunde, hat eine Klage wegen Veruntreuung gegen Politiker und Bahnvorstände angestrengt. Und weil die Staatsanwaltschaft Berlin die Ermittlungen nicht aufnehmen will, klagt er nun auch gegen die Ermittler. Die Parkschützer haben letzte Woche ein Gutachten vorgelegt, das belegen soll, dass der Ausstieg zum jetzigen Zeitpunkt finanziell um 6 Milliarden Euro günstiger wäre, als den Bahnhof zu Ende zu bauen.
Pressekonferenz der Linkspartei in einem Gewerkschaftshaus: „Ich habe Winfried Kretschmann und Winfried Hermann zweimal gewählt“, sagt dort Siegfried Bassler: „zum ersten und zum letzten Mal.“ Bassler ist 82 Jahre alt, er war in den 70er Jahren Fraktionsvorsitzender der SPD im Stuttgarter Stadtrat. Jetzt unterstützt er einen Wahlaufruf für die Linkspartei als für ihn einzig wählbare Stimme gegen Stuttgart 21. Das öffentliche Interesse an dem Wahlaufruf hält sich in Grenzen. Etwa zwanzig Funktionären sitzen ganze zwei Journalisten gegenüber.
Gegner ohne Mehrheit
Man müsse wissen, dass die Volksabstimmung keine richtige gewesen sei, doziert die Linke-Politikerin Sybille Stamm. Es sei nur über die Finanzierung durch das Land abgestimmt worden, nicht über das Projekt selbst. Dass die Gegner bei der Abstimmung nicht einmal in Stuttgart eine Mehrheit hatten, darüber wird auf der Veranstaltung nicht gesprochen. Neben Bassler sitzt Rosemarie Glaser, eine ehemalige Landtagsabgeordnete der Grünen aus Freiburg.
Zusammen mit einem anderen Ex-Grünen, Jürgen Rochlitz, wollte sie mit einem charmant formulierten Brief ihren ehemaligen Fraktionskollegen und jetzigen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann umstimmen. Er solle sich doch an alte grüne Erfolge erinnern. Der schnelle Brüter in Kalkar zum Beispiel sei noch sechs Jahre nach seiner Fertigstellung stillgelegt worden. Als „allseits beliebter Ministerpräsident“ müsse er so ein Projekt nicht zu Ende führen.
Eine Antwort hat Glaser nicht bekommen. Auch sie empfiehlt jetzt die Wahl der Linkspartei. Die Linke mit ihrem Spitzenkandidaten Bernd Riexinger hat den Übriggebliebenen der Antibahnhofsbewegung so etwas wie politisches Asyl gegeben. Es war eine kleine Sensation in Stuttgart, als im Herbst Hannes Rockenbauch verkündete, er trete bei der Landtagswahl für die Linke an. Der junge, scharfsinnige und ebenso temperamentvolle Kopf der Antibahnhofsbewegung sitzt bereits im Stadtrat, dort sind die S 21-Gegner mit der Linkspartei eine Fraktionsgemeinschaft eingegangen.
Die Nähe zur Linkspartei im Landtagswahlkampf ist nicht unumstritten. Vielleicht auch deshalb setzt sich Rockenbauch mit quietschgrünen Wahlplakaten deutlich vom Erscheinungsbild der Linkspartei ab.
Die alte Geschichte von Realos und Fundis?
„Nach dem Volksentscheid hat sich die Bewegung gespalten“, sagt die Stuttgarter Autorin Johanna Henkel-Waidhofer, die den Protest immer ganz aus der Nähe und trotzdem kritisch beobachtet hat. Der Ton habe sich damals in Teilen der Bewegung verschärft. Politiker, auch die der grün-roten Regierung, wurden „Lügenpack“ gerufen – was in den Ohren vieler allzu sehr nach Pegida klang. Der „BUND“, „Pro Bahn“ und der „VCD“ haben das Bündnis der Bahnhofsgegner im Jahr 2014 verlassen. Es sei um strategische Fragen gegangen, heißt es offiziell, man wolle aber Teil der Protestbewegung bleiben. Doch seitdem geht man weitgehend getrennte Wege.
Es ist die alte Geschichte von Fundis und Realos. Da sind jene, die sich nicht damit abfinden können, vielleicht recht zu haben, aber nicht recht bekommen zu haben. Sie fühlen sich betrogen: von Schlichter Heiner Geißler, der trotz aller Kritik den Bau, wenn auch unter Auflagen, empfohlen hat; vom jetzigen Ministerpräsidenten Kretschmann, den sie gewählt haben, damit er den Wahnsinnsbahnhof verhindert, und von seinem Verkehrsminister, der feurige Reden am Bauzaun gehalten und nach der Wahl seine Handynummer geändert hat, unter der er früher für die Bewegung erreichbar war.
Und sie fühlen sich vom Volk betrogen, das doch ganz anders abgestimmt hätte, wenn es nur genauso gut wie sie über Bahnsteighöhen, Verkehrstakte und Tunnelbau Bescheid gewusst hätte. Doch so funktioniert Politik nicht, das haben die Realos der Bewegung längst eingesehen. Die Schlacht ist verloren, jetzt geht es darum, Bahn und Politik auf die Finger zu schauen. Der Bahn bei den Baukosten. Der Stadt beim Bebauungskonzept des riesigen Areals, das frei werden wird, wenn der Bahnhof irgendwann in zehn Jahren unter der Erde verschwunden ist. Es dürfe nicht irgendwelchen Immobilienspekulanten in die Hände fallen, forderte auch Schlichter Geißler.
Frieden mit der Niederlage gemacht
Walter Sittler gehört zu diesen Realos. Der Schauspieler lebt seit 28 Jahren in Stuttgart mitten in der Innenstadt und war lange ein Aushängeschild der Protestbewegung auf Bühnen und im Fernsehen. Jetzt macht er in Stuttgart für Winfried Hermann Wahlkampf. Sittler ruft aus seinem Ferienhaus in Schweden zurück. Er habe seinen Frieden mit der Niederlage gemacht, betont er, nicht mit dem Bahnhof. Der sei immer noch dumm und falsch. Er freut sich, dass das inzwischen auch viele seiner einstigen Gegner zugeben.
Die Bewegung habe trotz allem viel erreicht, sagt Sittler. Es gebe in der Stadt eine ganz neue Diskussionskultur für politische Themen. Aber noch wichtiger sei: Keine Stadt würde es seit Stuttgart 21 mehr wagen, auch nur eine Straßenbahnhaltestelle ohne die Beteiligung der Bürger zu verlegen. Und immerhin habe der Protest eine grün-rote Regierung ermöglicht und die habe aus seiner Sicht auf so vielen Feldern den Aufbruch geschafft.
Realos und Fundis der Bewegung treffen sich noch einmal zur Diskussion, an einem Montagabend im Januar. Fünf Jahre nach Geißlers Schlichterspruch soll noch einmal das Ergebnis der Diskussionsrunde bewertet werden, die damals zeitweise eineinhalb Millionen Menschen im Fernsehen verfolgten. Ein Jubiläum, wie man es nur in Stuttgart begehen kann. Auf der Bühne treffen sich Heiner Geißler, Verkehrsminister Hermann, der Architekt und ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Peter Conradi, auch ein Gegner von Stuttgart 21. Draußen lärmen die Montagsdemonstranten mit Transparenten wie „Schöpfung bewahren, Stuttgart 21 verhindern“, wie in den besten Zeiten der Bewegung.
Fünf Jahre nach dem Schlichterspruch
Auch drinnen geht es hoch her. Geißler versucht wortreich, seinen Schlichterspruch zu rechtfertigen, der eigentlich keiner war, weil sich die Bahn nicht daran gehalten hat. Winfried Hermann gesteht Fehler bei der Kontrolle der Bahn ein. Auch der sogenannte Stresstest, der die Leistungsfähigkeit des Tiefbahnhofs nachweisen sollte, sei keiner gewesen. Doch viele Zuschauer wollen lieber ihre eigene Meinung hören. Geißler wird ausgepfiffen, als er sagt: „In der Politik gibt es keine absoluten Wahrheiten“, und vom Balkon schreien sie „Lüge!“ und „Verrat!“.
Sittler ist an diesem Abend Teil des Programms. Er rezitiert als Diskussionsimpuls Passagen aus dem Schlichterspruch. Die aufgeheizte Stimmung wie an diesem Abend sei auch ein Grund gewesen, warum er irgendwann aufgehört habe, die Montagsdemos zu besuchen. Der Ton der Protestierenden erschien ihm zu verbittert. Sittler sagt, er habe viel aus der Niederlage gelernt. Auch für sich selbst. Und eines dürfe man nicht vergessen, wenn man zum Beispiel die Krisen in Europa und der Welt betrachtet: „Es geht hier nur um einen Bahnhof.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!