Lage von minderjährigen Geflüchteten: Unbegleitet auf der Flucht
Viele Minderjährige fliehen allein übers Mittelmeer. Was NGOs, eine Psychologin und ein Seenotretter von ihrer Arbeit mit ihnen berichten.

Mehr als 4.200 Menschen sind in den vergangenen zwei Jahren im zentralen Mittelmeer ertrunken. Die Dunkelziffer ist nach Untersuchungen des Projekts „Missing Migrants“ der Internationale Organisation für Migration weitaus höher. Aktuell handelt es sich nach Angaben der zivilgesellschaftlichen Organisation „SOS Humanity“ bei einem Fünftel bis zu einem Drittel der über das Mittelmeer fliehenden Personen um Kinder und Jugendliche.
Seit zwei Jahren ist das Rettungsschiff „Humanity 1“ Teil der zivilen Seenotrettung. „Für mich im Einsatz das Schockierendste: Fast alle Minderjährigen waren unbegleitet“, berichtete der „SOS-Humanity“-Geschäftsführer Till Rummenhohl von Bord des Schiffes mit wackeliger Internetverbindung.
In einem Pressegespräch am Dienstag berichtete Rummenhohl von der Arbeit auf dem Rettungsschiff. Auch Lanna Idriss, Vorstandsvorsitzende der SOS-Kinderdörfer, sowie eine Psychologin, die selbst an Bord arbeitete, sprachen über die Lage von Kindern und Jugendlichen auf der Flucht.
„Teilweise haben mir die jungen Menschen ihre Folterspuren gezeigt“, berichtete die Psychologin Esther, die als ehrenamtliche Psychologin an Bord der „Humanity 1“ war und nur ihren Vornamen angab. So gut wie alle Kinder, mit denen sie gesprochen habe, hätten ihr von traumatischen Erfahrungen berichtet, erzählte sie. Auch seien ihr Foltervideos aus libyschen Lagern gezeigt worden, in denen über die Sahelzone ankommende Menschen teils bis zu zwei Jahre festgehalten werden.
Zahlen könnten weiter steigen
„Die Organisation der Boote und Abfahrten ist Teil eines großen Business geworden“, kritisierte Rummenhohl. Viele Geflüchtete in Libyen erlebten Folter, Gewalt und Zwangsarbeit. Rummenhohl berichtete von Booten, auf denen ausschließlich Minderjährige anzutreffen gewesen seien, und von „panischen Jugendlichen, die aus Angst vor der libyschen Küstenwache ins Wasser gesprungen sind“.
Aber warum gibt es überhaupt so viele Minderjährige, die ohne ihre Familien auf der Flucht sind? Lanna Idriss hatte hier Antwortmöglichkeiten, denn die SOS-Kinderdörfer unterstützen elternlose Kinder. Ein umfassendes Monitoring zu den Ursachen könne man allerdings nicht leisten, merkte sie an.
Prinzipiell beginne die Misshandlung von Geflüchteten jedenfalls nicht erst in Libyen oder Tunesien, sondern bereits früher, so Idriss. Hier würden Familien teils unfreiwillig getrennt. Kinder hätten ihr Vertrauen in Erwachsene teils völlig verloren, und organisierten sich daher in abgeschotteten Gruppen, berichtete Idriss über Erfahrungen vor Ort.
Die SOS-Kinderdörfer versuchen, Kinder auf den Fluchtrouten so gut es geht zu betreuen. Dafür gibt es sogenannte „Transithomes“. „Nur, wenn es gelingt, Kinder auf der Flucht zu schützen, gelingt auch unsere Arbeit“, so Idriss. Sie kritisierte den Abzug von Hilfsmitteln wie der US-Entwicklungshilfe USAID und forderte von der EU, stärker mit Strukturen vor Ort zusammenzuarbeiten.
Idriss warnte davor, dass in Zukunft noch mehr Minderjährige zur Flucht gezwungen sein könnten. In Somalia beispielsweise seien 70 Prozent der Bevölkerung unter Dreißig. Das Land war stark von der Entwicklungshilfe USAID abhängig, welche die Trump-Regierung auf ein Minimum gekürzt hat.
In Deutschland sank die Zahl der neu registrierten unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten allerdings zuletzt leicht, von etwa 15.200 auf 13.300 Erstanträge, nachdem die Zahl vorher jahrelang gestiegen war.
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