Kuss-Überfall auf Baerbock: Sexismus pur
Mächtiger Mann küsst ungefragt Frau. So weit, so bekannt, die sexistische Chose. Sie ist auch Zeichen für den erstarkenden Antifeminismus in der Welt.
S pätestens seit dem Kuss-Skandal bei der Fußball-Frauen-WM in diesem Sommer dürfte allen Menschen klar sein, dass man(n) es besser lässt, eine Frau (oder auch einen Mann) ungefragt zu küssen. Der kroatische Außenminister Gordon Grlić Radman hat es bei seiner deutschen Amtskollegin Annalena Baerbock beim Europa-Kongress in Berlin trotzdem getan – und sich nach einem Shitstorm auf Social Media mit den lapidaren wie scheinheiligen Worten entschuldigt, das sei doch nur ein „herzlicher menschlicher Umgang unter Kollegen“ gewesen.
Ja, doch, Küssen zur Begrüßung ist durchaus üblich, selbst unter Fremden. In Frankreich etwa tut man es, auch in Italien und in der Schweiz küsst man sich gegenseitig links und rechts auf die Wange. Dieses Ritual findet meist im privaten Rahmen statt – und wird neuerdings seltener praktiziert, weil sich zunehmend mehr Menschen nicht mehr von Unbekannten küssen lassen wollen. Das ist der große Unterschied zum aktuellen Kuss-Eklat: Der Außenminister hat sich nicht nur ungefragt einer Frau auf unangemessene Weise genähert, er hat auch die politische Dimension seines Übergriffs übersehen.
Der Fall zeigt erneut, wie leichtfertig sich Männer, zumal in gehobenen Positionen, über Regeln hinwegsetzen, wenn eine Frau involviert ist. Das ist Sexismus pur. An diesem Fall lässt sich deutlich erkennen, wie der Antifeminismus erstarkt und sich überall auf der Welt weiter ausbreitet.
Wie aber passt der antifeministische Backlash mit feministischen Erfolgen durch globale Kampagnen wie #MeToo, #NeinheißtNein, #aufschrei in Deutschland zusammen? Ganz klar: Beide Entwicklungen laufen parallel ab. Einerseits erlebt die Gesellschaft eine größere Sensibilisierung, die sich unter anderem in Debatten über Vergewaltigungen und Gewalt gegen vulnerable Gruppen niederschlägt. Gleichzeitig erbeuten antiemanzipatorische Gruppierungenen mehr und mehr Macht. Der Feminismus hat eine neue Stufe erreicht: Er muss sich nicht verteidigen, er muss einen neuen Kampf antreten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung
Aktionismus nach Magdeburg-Terror
Besser erst mal nachdenken