Kuratoren des „Club Transmediale“: „Musik ist Transformation“
Eines der wichtigsten Festivals für elektronische Musik findet in Berlin statt. Zwei Kuratoren reden über den Austausch von Musik und künstlerischen Ideen.
Am Freitagabend startet in Berlin „Club Transmediale“ (CTM), weltweit eines der wichtigsten Festivals für elektronische Musik. Bis zum 6. Februar gastieren rund 250 Musikerinnen und Musiker an zwölf verschiedenen Veranstaltungsorten der Stadt, darunter das Berghain und das Hebbel-Theater. Neben Konzerten gibt es Ausstellungen im Kunstraum Bethanien und Podiumsgespräche, Performances und Workshops.
„New Geographies“ lautet das Motto der 17. Ausgabe und ihr Fokus liegt auf elektronischer Musik aus der ganzen Welt. KünstlerInnen wie die Tunesierin Deena Abdelwahed und der Libanese Karim Shaar spielen neben Pionieren wie der kalifornischen Komponistin Pauline Oliveros und Jlin, einer jungen Künstlerin aus der Chicagoer Footwork-Szene. Kuratiert wurde das Programm vom künstlerischen Leiter Jan Rohlf zusammen mit einem Gastkurator, dem libanesischen Musiker und DJ Rabih Beaini.
taz: Jan Rohlf, wie würden Sie „New Geographies“ definieren?
Jan Rohlf: Der Titel bezieht sich zuallererst auf die gegenwärtige Musiklandschaft, denn wir gestalten ein Multimedia-Festival, für das Musik zentral ist. Durch die zunehmende Globalisierung und Digitalisierung hat sich das Nachdenken über Musik erweitert. In gleichem Maße, wie mehr Menschen Zugang zu Informationen erhalten haben, über Soundfiles verfügen und Produktionsmöglichkeiten, wurde ihnen auch die Möglichkeit gegeben, Musik im Netz zirkulieren zu lassen und in die Mediensphäre einzuspeisen, in der Musik heute stattfindet. Das bedeutet auch, Menschen aus abgelegenen Regionen, die vor wenigen Jahren noch nicht in Kontakt mit Medien, Meinungen und Märkten standen, können nun an dieser Konversation teilnehmen und auf sich aufmerksam machen.
Führt der weltweite Internetzugang auch zu stärkerem Gleichklang?
Rohlf: Das kann ich nicht erkennen, denn Künstler benutzen das Internet auch als Archiv und haben Zugang zu einer Fülle von Material. Im Netz stecken unglaublich viel Input und Inspirationen in Hülle und Fülle. Diese Stimuli wirken mal konfrontativ, mal treten sie auch in einen Dialog, mit dem, was Künstler an Material bei sich zu Hause vorfinden. So entsteht ein Mix aus kulturellem Background, situativem Verhalten, traditionellen Elementen und der sozialpolitischen Lage, in der sich Künstler jeweils befinden. Überall auf der Welt verhandeln sie globale Zirkulation und Lokalität. Dadurch klingt Musik hybrider und gleichzeitig vielfältiger, in ihren spezifischen Antworten auf die neuen Herausforderungen. Darunter verstehen wir, dass zeitgenössische Künstler ähnliche Existenzprobleme haben und diese in ihrer Musik kreativ verarbeiten. Das wiederum verstehen viele Hörer, weil sie mit ähnlichen Problemen zu tun haben. Trotz aller Differenzen gibt es aktuell viele Gemeinsamkeiten, die zu einem Perspektivwechsel geführt haben: Die Konversation findet auf Augenhöhe statt.
Rabih Beaini, Sie sind im Libanon aufgewachsen und leben in Berlin. Wie unterscheidet sich Ihre Gegenwart von der Vergangenheit im Libanon?
Geboren 1975 in Tübingen, lebt seit 1994 in Berlin, arbeitet als bildender Künstler und ist Gründer und seit 1999 auch künstlerischer Leiter des CTM.
Rabih Beaini: Meine Lebensperspektive reicht über Berlin und den Libanon hinaus. Aber natürlich hat sie auch damit zu tun, wie ich aufgewachsen bin, und diese beiden Perspektiven stehen in ständigem Widerstreit. Bis Mitte der Neunziger lebte ich in einer Bergregion im Libanon. Vom Ende der Sowjetunion habe ich dort drei Monate später erfahren. Meine Eltern hatten weder Telefon noch Internet noch Fernsehen, die Zeitungen kamen erst mit Verspätung. Heute dauert es keine 20 Minuten und wir kriegen durchs Internet alle Breaking News. Wenn man das nun auf Musik runterbricht, haben auch Leute aus der Peripherie Zugang zu den fortschrittlichsten Sounds, sie lassen sich von ihnen inspirieren. Geografische oder nationale Grenzen werden so aufgehoben.
Walter Benjamin hat mit „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ die einflussreichste Theorie über Kunst im 20. Jahrhundert verfasst. Wie hat sich die Aura von Kunstwerken durch die Beschleunigung im Netz verändert?
Geboren 1976, aufgewachsen in der Gegend von Byblos in den Jbeil-Bergen der libanesischen Yanouh-Region. Der DJ und Produzent lebte von 1996 bis 2012 in Venedig/Italien, seither in Berlin. Als Technoproduzent hat er unter dem Namen Morphosis drei von der Kritik gefeierte Alben veröffentlicht. Unter anderem für Honest Jons in London. Als DJ ist Beaini eine Bank für Stilvielfalt zwischen Avantgarde, Jazz, Folk und Techno. Beaini tritt beim CTM in verschiedenen Konstellationen auf.
Rohlf: Wir sind uns heute viel stärker bewusst, dass alles, was wir machen, praktische Arbeit am Objekt ist. Aber Musik als Objekt ist eine Chimäre, es gibt sie gar nicht. Im Moment, in dem Musik zirkuliert, produziert, angehört wird, in dem wir sozusagen „musicken“, wird Musik transformiert.
„Musicking“ ist ein Begriff des neuseeländischen Wissenschaftlers Christopher Small, der damit gezeigt hat, dass Musik niemals endgültig in eine Form gegossen ist. Aber was ist Musik in einem File dann?
Rohlf: Sie hat mit dem Austausch von Informationen und Files zu tun. Musikmachen ist in einem Beziehungsgeflecht, sie aktualisiert sich ständig und wird nonstop produziert. Und sie ist Kommunikation unterschiedlichster Menschen. Dieses Beziehungsgeflecht von Künstlern und Material lässt auch die Hörer an ihrer transkulturellen Existenz teilhaben. Man kann nicht mehr sagen, dass es nur ein Aufeinandertreffen unterschiedlichster Beteiligter ist, die von der Praxis nicht weiter berührt werden. Musik ist Transformation. Es gibt keine Quelle, kein Original, nichts, auf was wir uns beziehen können. Das ist auch eine „Neue Geografie“, weil wir Musik nun als seismografischen kulturellen Sound wahrnehmen, in ihm werden einzelne Klanglemente weit deutlicher hörbar und in einem weit früheren Stadium seiner Entstehung. Und das wiederum lässt Rückschlüsse auf Gesellschaften und Kultur als Ganzes zu. So stellt sich etwa die Frage, ob Musik überhaupt noch private Praxis ist: Manche hören zu Hause hybriden Pop und gehen dann die AfD oder den Front National wählen. Es gibt also viel Ungereimtheiten und Widersprüche, denn manche Hörer deklarieren kulturelle Konsumtion als Privatangelenheit, die nichts mit ihrer politischen Orientierung zu tun hat. Daher wollen wir mit CTM auch ein Bewusstsein schaffen dafür, dass diese Unterteilung nicht existiert.
Beaini: Man kann Musik gar nicht mehr vom Alltag trennen. Ihre Bemerkung von der Bedeutung von Benjamins Theorie im Internetzeitalter hat ja durch das Auftauchen von Popkultur eine ganze andere Beschleunigung erfahren: Denn was ist Pop anderes als die Vervielfältigung von Kunstwerken, um damit größtmögliche Auflagen und Reichweiten zu erzielen? Das beruht auch auf Andy Warhols Ideen, diese haben auf die Praxis beim Musikmachen weltweit abgestrahlt. Musik aus den abgelegensten Weltregionen strebt heute danach, aus ihrem Umfeld hinaus möglichst viele Hörer anderswo zu erreichen. Und da ist es unvermeidlich, dass sie währenddessen transformiert wird.
Anstelle der alten Kulturindustrie sind durch das Internet neue, mächtige Gatekeeper am Geschäft mit Musik beteiligt. In Ghana etwa gibt es kaum noch Plattenfirmen: Talente werden gehört, wenn sie Werbe-Botschafter von Handyanbietern werden.
Rohlf: Wenn Telefongesellschaften zu Gatekeepern werden, ist das bedenklich. Auch wenn manche Künstler davon profitieren, so hat das Einfluss auf die Entstehung von Musik und welche Person sie repräsentieren kann. Denn die Künstler dürfen mit ihrem Image keinesfalls die Marke beschädigen. Wichtig ist, dass es auch in Ghana alternative Kanäle gibt, auch wenn sie weniger Reichweite haben als die Telefongesellschaften. Die Tauschbörsen abseits der großen Netzwerke sind in der Tat wichtig, um zu kommunizieren und Musik zu schicken. Aber die Mediensphäre ist nicht alles. Es braucht Auftrittsmöglichkeiten, direkten Austausch mit dem Publikum und einen gültigen Pass, um zu reisen. Es braucht eine große Portion Optimismus, sonst können wir alles sein lassen. Schauen Sie sich die neueste Oxfam-Studie an. Sie besagt, 62 Menschen besitzen so viel Geld wie die Hälfte der Weltbevölkerung. Wenn wir dieses Ungleichgewicht nicht ändern, ist unser musikalisches Engagement sinnlos.
Beaini: Über Optimismus und Selbsttäuschung habe ich viel gelernt, als ich nach Indonesien gereist bin, um Konzerte zu spielen. Man erklärte mir dort, Kunst sei schön und gut, aber keine Notwendigkeit. Egal wie viel Energie wir im Westen der Musik widmen, wie viel wir mit dem syrischen Qanun-Musiker gemeinsam haben, den wir zur CTM eingeladen haben und der trotz Vermittlung des Goethe-Instituts nicht einreisen durfte, weil er als syrischer Flüchtling eingestuft wurde. Es war für die deutschen Behörden offensichtlich keine Notwendigkeit, dass er in Berlin spielt.
Auch CTM braucht Sponsoren, Finanzhilfen von staatlichen Kulturinstitutionen und ausländischen Botschaften. Was bedeutet das für die Credibility Ihres Festivals?
Rohlf: Unsere Planung beruht seit jeher auf einer ökonomischen Mischkalkulation. In der Tat beziehen wir kulturelle Fördergelder, erzielen Einkünfte aus Ticketverkäufen, haben Sponsoren aus der Wirtschaft, die aber im Hintergrund bleiben. Wir bemühen uns, dass ihre Präsenz den Programmablauf nicht behindert.
Elektronischer Musik eilt nach wie vor der Ruf des Futuristischen voraus, gleichwohl wird sie in der medialen Wahrnehmung von Männern dominiert. Auch dieses Jahr präsentieren Sie Künstlerinnen und talentierte Produzentinnen. Wie schätzen Sie denn die Geschlechtergerechtigkeit von elektronischer Musik ein, wäre es da nicht auch Zeit für „Neue Geografien“?
Rohlf: Alle, die die herrschende Geschlechterordnung aufbrechen, genießen unsere besondere Aufmerksamkeit. Künstlerinnen sind für uns besonders wichtig,Frauen wurde lange Zeit der Zugang zur elektronischen Musik und zu experimentellen Stilen erschwert. Das Nachdenken darüber hat nun immerhin begonnen, und auch wir haben darauf reagiert. Es ist unerlässlich, das wir hier alle gemeinsam Veränderungen erreichen. „Neue Geografien“ meint nicht nur geophysikalische Gegebenheiten, sondern adressiert generell Konzepte und Strukturen, die Möglichkeitend es persönlichen Ausdrucks und des Wir-Selbst-Seins beschneiden. Auch deshalb spielen queere Positionen und Trans-Künstler*innen wie Tara Transitory aka One Man Nation ein wichtige Rolle.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen