Kunsttipps der Woche: Letzter Aufruf Unschuld
Die Spur des gezeichneten Kunstfilms führt nach Leipzig zu Birgit Brenner. Bei Isa Melsheimer tritt das Haus als Chimäre der Moderne auf.
G erade jetzt, im grauen Januar des zweiten Pandemiejahres, schauen die Bilder ungeheuer verlockend aus: Da werden Koffer gepackt, nachdem man im Karstadt Reisebüro das Ziel in der Sonne gebucht und Rayan Air bestiegen – und nicht zu vergessen: nachdem man den Hund an der Straße ausgesetzt hat. Okay, das ist nun nicht so verlockend. Auch wenn der Hund im Tierheim landet und dort mit einem Kollegen herzerweichend durch den Maschendraht des Zwingers in die Kamera schaut. Spätestens hier weiß man, mit wem man es zu tun hat.
Mit Birgit Brenner, wem sonst? „Final Call“ heißt ihr, wie sie selbst sagt, farblich völlig übersteuerter, 32minütiger Film aus schnell aneinander geschnittenen Tuschezeichnungen über den Horror der Pauschalreise in den globalen Süden, den sie in der gleichnamigen Ausstellung bei Eigen + Art in Leipzig zeigt. In Leipzig? In Leipzig!
Um mal das Gute an der Pandemie und dem von ihr verursachten Stillstand der Welt zu benennen: Da die Galerien sowieso geschlossen sind und die Kunst, wenn nicht durchs Schaufenster, sich nur noch digital erfahren lässt, kann sie ruhig in Leipzig gezeigt und im Berliner Rundgang besprochen werden.
Vor allem, wenn die digitale Aufbereitung der Ausstellung so gelungen ist wie hier. Ohne großes Tamtam wurde der Film über einen Tag hinweg in voller Länge auf der Homepage der Galerie gezeigt. Derzeit ist eine Gesprächsaufzeichnung mit der Künstlerin und Elke Hannemann zu sehen. Die Direktorin der Galerie stellt die richtigen Fragen, bis auf die eine, die fehlt: wer hat eigentlich die hypnotische, kongeniale Filmmusik gemacht? Sie fällt besonders dann auf, wenn die Kamera hin und wieder den Raum durchfährt und die Ausstellungssituation deutlich wird.
Sehr clean, mit der hell strahlenden, riesigen LED-Wand, steht sie in deutlichem Kontrast zu der absolut großartigen, unvergesslichen Installation „Die besten Jahre“ mit der Birgit Brenner 2005 die Leipziger Räume von Eigen + Art in der Baumwollspinnerei mit Bergen von Bauholzlatten und Papp-Collagen einweihte. „Final call“ ist die dritte Ausstellung von Birgit Brenner in Leipzig, parallel zur großen, jetzt bis Juli verlängerten Schau, die ihr als Trägerin des Wolfsburger Kunstpreises „Junge Stadt sieht junge Kunst“ in der Städtischen Galerie eingerichtet wurde.
Empfohlener externer Inhalt
Auch hier zeigt sie neben skulpturalen Installationen ihre aus Tuschzeichnungen montierten Filme, charakteristisch in der Kombination von Bild und Text, von Visualität und Sprache und damit der Möglichkeit von Sprecherpositionen. Über sie stellt die Künstlerin den Raum her und verankert sie die Situation, nicht nur räumlich, sondern in Slogans und gesprächigen Gemeinplätzen auch politisch und gesellschaftlich.
Melsheimers Ruinen
Über eine 10teilige Folge von Installationsansichten lässt sich bei Esther Schipper ein erster Eindruck von Isa Melsheimers Schau „false ruins and lost innocence“ gewinnen. Bedruckte Stoffe, als Vorhänge installiert, strukturieren den Ausstellungsraum, in dem man zuerst auf einem Pfad in steilem Fels trifft, bewachsen von einem üppig grünen Strauch, der beim Näherkommen freilich vor dem Vorhang steht, leicht versetzt zu einem weiteren Bild von einem Paar Wurzeln schlagender, menschlicher Beine.
Birgit Brenner: Final Call, Eigen + Art Leipzig, bis 20. Februar, Spinnereistr. 7, Gespräch mit Elke Hanneman aktuell auf vimeo.
Isa Melsheimer: false ruins and lost innocence, Esther Schipper, bis 27. Februar, Potsdamer Straße 81 E, Videobesuche nach Vereinbarung.
Mit der nächsten Ansicht weitet sich der Blick, im Raum verstreut sind kolossale Tonskulpturen zu erkennen und an den Wänden glaubt man gerahmte Abstraktionen zu sehen. In der darauffolgenden Ansicht entpuppen sie sich als eine Reihe von Gouachen, die von Raumsituationen handeln, die durch Vorhänge schaffen und definiert werden. Dass der Faltenwurf der Vorhänge im Fortgang der Reihe durch den von Gewändern und Stolen ersetzt wird, wie sie besonders die Engel in den Gemälden der Frührenaissance tragen, ist dann aber nicht mehr zu erkennen.
Dazu braucht es den direkten, nahen Blick auf das Bild. Die Fotokamera hat ihn nicht, dafür aber die Videokamera. Sie zeigt, dass das altmeisterliche Zitat nur ein scheinbares ist, und es tatsächlich eine ebenso lässige wie gekonnte ungegenständliche malerische Geste ist, mit der Isa Melsheimer Piero della Francesca und Perugino in Erinnerung ruft. Im Videobesuch erkennt man auch die Füllung der technisch anspruchsvollen, weil von mächtigen Statur und mit farbenfroher Glasur geschaffenen Keramiken. Unschwer erkennt man in ihnen schon in der Fotoansicht Gebäude der klassischen Moderne, des Brutalismus und der Postmoderne.
Daher kommt denn auch der Titel der Schauer Schau. Konkret vom Architekturhistoriker Charles Jencks, der zu James Sterlings Erweiterungsbau der Stuttgarter Staatsgalerie kritisch Stellung nahm und sagte: „Man kann auf diesen falschen Ruinen sitzen und über die Wahrheit unserer verlorenen Unschuld sinnieren“. Isa Melsheimer, die für ihre Auseinandersetzung mit der von den Menschen erschaffenen Welt, besonders der architektonischen, bekannt ist, erkennt diese Wahrheit nun mehr und mehr in der Natur und ihren organischen Formen.
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Und daher steckt in le Corbusiers „Villa Shodhan“ ein Pferdekopf aus dem Giebel des Parthenon und menschliche Beine flankieren säulengleich das brutalistische Rathaus von Boston, Massachusetts, während im luftigen Gebäude eines vietnamesischen Architekturbüros ein kleiner Wald zuhause ist. Das Haus als Chimäre aus Antike, Natur, Tier und Baukunst der Moderne.
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