Kulinarisch Reisen: Urlaub auf der Zunge
Früher träumte unsere Autorin von einer Weltreise. Dann entdeckte sie, dass man sich mit Moussaka, Kimchi und Curry einmal um die Erde essen kann.
Vergangenes Jahr war ich zuerst in Äthiopien, dann in Thailand. Als nächstes wollte ich in die Türkei, landete aber zufällig in Vietnam und blieb. In Bolivien fand ich es besonders schön. In Griechenland bin ich zwei Mal gewesen.
Mindestens zwölf Länder besuchte ich 2022. Meistens war ich alleine dort, manchmal mit Freund*innen. Ein schlechtes Gewissen habe ich nicht gehabt, denn ich bin nicht ein einziges Mal geflogen. Meine kulinarischen Reisen fanden alle dort statt, wo ich zuhause bin: in Berlin.
Ich liebe es, mich dem Geschmack nach durch die Welt treibenzulassen. Vor allem, wenn ich mich mit dem Essen aus der dunklen Jahreszeit wegträumen kann. Ganz egal, ob das die Pizza beim Italiener ist, das Moussaka beim Griechen oder das Kimchi beim Koreaner.
Mit etwas Fantasie und dem passenden Geschmack wird aus dem beschlagenen Fenster ein Regenvorhang in Manaus. Und aus dem Nebel über den Baumwipfeln der Rauch am Ufer des Amazonas, wo gerade die frisch geangelten Fische gegrillt werden. Nach dem Genuss eines Feijoadas verwandelt sich der Schnee unter den Schuhen plötzlich in den Sandstrand von Rio de Janeiro. Und nichts verscheucht meine Melancholie besser als Wein und Tapas. Oder Sake und Gyozas.
Sonntags wird gegrillt
Während der Lockdowns, als die Großstadt plötzlich ganz klein wurde und die Restaurants schließen mussten, waren meine Ausflüge zwangsläufig zu sehr kurzen Wochenendtrips geschrumpft. Jeden Freitagabend traf ich mich mit zwei Freund*innen in Buenos Aires und Madrid, um mit ihnen gemeinsam zu kochen – per Video. Reihum war jede*r einmal Küchenchef*in und schickte eine Zutatenliste, die Gerichte kochten wir dann gemeinsam vor dem Bildschirm. Für den Urlaub im Kopf wählten wir lokale Speisen: spanische Tortillas, argentinische Empanadas und deutsche Rouladen.
Kulinarisch verreist bin ich aber schon vor mehr als 20 Jahren, in meiner Heimatstadt Buenos Aires. Damals träumten eine Freundin und ich davon, eine Weltreise zu machen. Wir redeten oft darüber, meistens, wenn wir uns zum Kochen trafen. Kein Wunder: In Argentinien spielt Essen eine große Rolle. Man isst viel und gerne, am liebsten gemeinsam – und vor allem Fleisch. Das gehört zusammen mit Fußball und Tango quasi zum Nationalstolz.
Sonntags wird traditionell gegrillt. Dieses „Asado“ mit der Familie oder mit Freund*innen fängt nach dem Frühstück an und kann bis zum Abend dauern. Es gibt einen „Asador“, einen Feuermeister, der die Gäste mit Köstlichkeiten vom Grill verwöhnt. Es gibt Salat und Pommes, dazu Rotwein mit Sprudelwasser. Auch unter der Woche riecht es überall nach Fleisch: in den kleinen Straßen San Telmos mit ihrer kolonialen Architektur, in Fancy Palermo, zwischen Hipster-Cafés oder im Bankenviertel. Sogar Bauarbeiter improvisieren in ihrer Pause oft einen Grill auf dem Bürgersteig.
Wer am Sonntag nicht grillt, isst Pasta. Ravioli oder Spaghetti mit Tomatensauce und, natürlich!, Fleisch („Pastas con estofado“). Die große Migrationsbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts aus Italien hat unter anderem den kulinarischen Charakter Argentiniens geprägt. Gute Pizzerien und Pasta-Restaurants findet man überall.
Aber mit Anfang 20 hatten meine Freundin und ich das alles satt: Fleisch, Pizza und Argentinien. Deshalb – und weil das Geld für eine große Reise nicht reichte – besorgten wir uns eine Weltkarte, die wir in unserer Küche aufhängten. Abwechselnd entschieden wir uns für ein Land oder eine Region, die wir gerne bereisen würden, und wenn die eine „Philippinen“ sagte, musste die andere ein philippinisches Restaurant finden. Zum Glück sind die Lokale in Buenos Aires, dieser Megacity mit knapp 14 Millionen Einwohner*innen, genauso kosmopolitisch wie die Stadt selbst. Nachdem wir essen waren, markierten wir den Ort mit einem Kugelschreiber auf der Karte, als ob wir wirklich da gewesen wären.
Die Restaurantbesuche waren nicht günstig für unsere Verhältnisse damals, aber günstiger als Flugtickets. Ungefähr einmal im Monat konnten wir uns das leisten. Während des Abendessens liebten wir es, schon das nächste Ziel festzulegen. „Sehen wir uns nächstes Mal in Ungarn?“– „Was hältst du von Schweden?“ Die Weltkarte ist mit der Zeit verloren gegangen und ich kann nicht mehr sagen, wie viele Länder wir bereist haben. Aber definitiv viel mehr, als wir jemals in der Realität hätten schaffen können.
Und dann zog ich nach Münster. Im Gegensatz zu Buenos Aires war mein erster Wohnort in Deutschland keiner, in dem es viele internationale Restaurants gab. Also lebten mein damaliger Freund und ich unsere Reiselust in unserer Wohnung aus. Wir liebten es, „exotisch“ zu kochen, und betrieben jedes Mal einen großen Aufwand, um unser Zimmer so herzurichten, dass es aussah wie ein Imbiss in Indien oder ein „Chiringuito“, eine spanische Strandbar.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Besonders gerne denke ich an ein thailändisches Abendessen zurück. Dafür hatten wir extra Plastiktischdecken besorgt, ein Poster mit Palmen an der Wand aufgehängt und ein altes Radio bei Ebay ersteigert und auf den Tisch gestellt, da wir uns einbildeten, so sei es immer beim Streetfood in Thailand (das Radio war allerdings nur Deko, die passende Musik fanden wir im Internet). Plötzlich kam mir der Regen draußen tropisch vor, und ich bekam Lust, mit einem Mototaxi herumzufahren.
Heute baue ich beim Kochen keine Kulisse mehr auf, und eine Weltkarte, auf der ich Länder anpinne oder ankreuze, besitze ich auch nicht mehr. Ich bin so geübt im kulinarischen Reisen, dass der Anblick eines Aperol reicht und schon sitze ich auf einer Terrasse mit Meerblick, wo die Sonne die Haut erwärmt.
Mein nächstes Reiseziel? Wer weiß. Seit fünf Jahren war ich schon nicht mehr in Argentinien. Es wäre mal wieder Zeit, mein Herkunftsland zu besuchen. Kulinarisch – oder vielleicht doch in echt.
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