Künstlerin über deutsche Sprache: „Keine guten Wörter für Sex“

Stine Marie Jacobsen ist Künstlerin. Sie beschäftigt sich mit deutschem Wortschatz, Grammatik und Strukturen, die Liebe kompliziert machen.

Eine Frau und ein Mann sehen sich lächelnd an, sie hält etwas Spitzes in der Hand. Hinter ihnen steht ein Baum. Das Wort "Wortschatzi" ist groß über die Szene gechrieben

„Wortschatzi“ klingt gleich viel süßiger als „Wortschatz“ Foto: Sebastian Kahnert/dpa

Ein wenig mehr Liebe macht oft alles einfacher. Womöglich sogar das Deutschlernen für Menschen, die aus dem Ausland nach Berlin ziehen. Das zumindest glaubt die im dänischen Sonderburg geborene und inzwischen in Berlin lebende Konzeptkünstlerin Stine Marie Jacobsen. Jacobsen, die an der Royal Danish Academy of Fine Arts und am California Institute of the Arts studiert hat, beschäftigt sich in ihrer Kunst bevorzugt mit Sprache, Stereotypen, Gesetzestexten und Gewalt. In ihrem neuen Buch, „German for Lovers“, erforscht sie die Tücken und Abgründe der deutschen Sprache und versucht Wege aufzuzeigen, trotz allem die Liebe zu ihr zu entdecken. „German for Lovers“ ist nach „German for Artists“ und „German for Newcomers“ bereits ihr drittes Künstlerinnenbuch zur deutschen Grammatik.

taz: Stine Marie Jacobsen, Sie haben gerade ein Grammatikbuch mit dem Titel „German for Lovers“ veröffentlicht. Was hat Grammatik mit Liebe zu tun?

Stine Marie Jacobsen: In meinem Kopf sehr viel. Ich behaupte, dass die Grammatik der deutschen Sprache Distanz zwischen Personen kreieren kann.

Wie meinen Sie das?

Das hat mit den vier Fällen im Deutschen zu tun. Es gibt die handelnde Person, also das Subjekt, und dieses Subjekt macht die andere Person zum Objekt. Indem man der Nominativ ist, macht man den oder die andere*n zu einem Akkusativ. Zu einem oder einer dem Wortsinne nach Angeklagten. Ich behaupte, dass es Distanz statt Nähe kreieren kann, wenn man immer dieser Komposition folgt, die man Syntax nennt. Das Subjekt dominiert über das Objekt. Genitiv und indirektes Objekt werden sogar auf den dritten und vierten Platz gestellt.

Puh. Können Sie das an einem Beispiel erklären?

Nehmen wir den Satz: „Ich gebe dir einen Kuss“. Du bist darin das indirekte Objekt und weiter von mir entfernt als der Kuss. Ich habe dich quasi mit dem Kuss von mir entfernt. Daraus ergeben sich für mich viele Fragen: Sorgt diese Struktur dafür, dass ich mehr an den Kuss denke als an dich? Beeinflusst sie, wie ich fühle und handle?

ist 1977 in Dänemark geboren und lebt in Berlin. Sie hat in Kopenhagen, London und Berlin ausgestellt. 2016 gewann die Konzeptkünstlerin den Berlin Art Prize für ihre sozial engagierte Kunst.

Wollen Sie damit sagen, dass die deutsche Sprache die Liebe komplizierter macht?

Es ist nicht die Sprache selbst, aber deren Gebrauch, ihre strenge Struktur, an die sich alle unbedingt halten müssen. Und dann ist da noch diese deutsche Fehlerkultur! Viele haben Angst, Deutsch zu sprechen, weil sie wissen, dass sie korrigiert werden können.

Ist es denn etwas typisch Deutsches, Menschen zu korrigieren, wenn sie grammatikalische Fehler machen?

Ich habe mit vielen meiner deutschen Freund*innen darüber gesprochen und sie gefragt: Was passiert in dem Moment, wenn ich einen Fehler mache. Einer meinte, es tue ihm weh, weil er wüsste, wie schön die Sprache ist. Das ist nachvollziehbar, Deutsch ist so präzise. Unter Linguistiker*innen gibt es großen Streit darüber, ob man als Nichtdeutsche die deutsche Sprache überhaupt verändern darf. Wie im Kiezdeutsch etwa, für das Menschen mit Migrationshintergrund ihre eigenen Regeln entwickelt haben. Ob man beispielsweise, wie dort üblich, der, die, das zum de machen darf. Ich habe das im Buch einfach gemacht.

Heißt das, Sie wollen die verschiedenen Artikel abschaffen?

Natürlich will ich nicht das Hochdeutsche verändern, sondern nur den Zugang dazu.

Wie kann das gelingen?

Ich plädiere für einen spielerischen Umgang. Zum Beispiel sage ich Wortschatzi. Wortschatz ist schön, aber Wortschatzi ist noch schöner.

Was ist denn bitte ein Wortschatzi?

Stine Marie Jacobsen: „German for Lovers“. Broken Dimanche Presse, 174 S., 10 Euro, erhältlich im Voo Store, Oranienstraße 24

Auf Englisch würde ich Darling Vocabulary sagen. Ich animiere das Wort. Ein Wortschatzi ist ein Wortschatz, den ich lieb habe. Warum wird Deutsch oft als kalt und mathematisch empfunden, obwohl es so tolle Wörter gibt? Warum gilt Französisch hingegen als die Sprache der Liebe? Ich glaube, das liegt am jeweiligen Umgang mit der Sprache. Meine Hoffnung ist, dass man ein bisschen netter mit der Sprache umgeht und locker bleibt, wenn jemand nicht ganz korrekt spricht.

Wie kann so ein netterer Umgang mit Sprache aussehen?

Indem man weniger streng ist, wenn der falsche Artikel benutzt wird. Oder indem man Mischsprachen erlaubt. Viele Englischsprachige in Berlin machen tolle Wörter, die halb englisch, halb deutsch sind. Die kann man natürlich in keinem offiziellen Brief benutzen, aber im Alltag sehr wohl. Das ist ähnlich wie beim Essen, wo man auch nach Lust und Laune Rezepte mischt. Hinterher wird es gegessen und schmeckt sogar gut. Wenn man mit Sprache spielen kann, fühlt man sich darin gleich viel willkommener.

In weiterer Konsequenz schlagen Sie in Ihrem Buch ein vereinfachtes Deutsch, eine Pidginsprache vor. Wie kann man sich so ein Pidgin-Deutsch vorstellen?

Pidgin bedeutet, dass man noch mehr mischt und dass es mehr um Tonalität und Aussprache geht als um eine korrekte Orthografie oder Grammatik. Im Pidgin gibt es keine Fälle und auch keine Zeitformen. Man muss die Zeiten anders hineinbringen, sie direkt benennen: gestern, heute, morgen. Pidgin ist auch, wenn man, um einen Superlativ auszudrücken, etwas doppelt sagt: Ich lieb lieb dich. Das ergibt ja auch Sinn, weil es auf diese Weise emotional stärker deutlich wird.

An wen richtet sich Ihr Buch?

„German for Lovers“ ist ein Buch für Liebende, die andere Muttersprachen haben und sich im Deutschen treffen. Oder für Menschen, die ein*en nichtdeutsche*n Partner*in haben. Es geht aber eigentlich über die Idee von Paarbeziehung hinaus. Worüber ich im Buch vor allem spreche, ist Fürsorge, Queerness, Empathie. Im Film, den ich zu dem Buch gedreht habe, demonstrieren die Schauspieler*innen Shahd Katba und Martin Hansen die Regeln meiner Pidginsprache in kleinen Filmszenen. Shaed und Martin sind beide queer. Das habe ich sehr bewusst so ausgewählt. Ich stecke die beiden in eine Art von Heteronormativität hinein, breche diese Norm aber wieder, weil sie offensichtlich nicht aufeinander stehen.

Wie über Gefühle gesprochen werden kann, liegt ja auch an den Wörtern, die eine Sprache dafür kennt.

Sprachen haben ein sehr unterschiedliches empathisches Vokabular. Ich liebe zum Beispiel das Wort cafuné, ein brasilianisches Verb dafür, mit den Händen durch das Haar der geliebten Person zu streichen. Das gibt es in keiner anderen Sprache. Ich habe sehr viele Leute interviewt, und die meisten denken, dass es im Deutschen keine guten Wörter für Flirten gibt und für Sex. Viele Wörter sind uncharmant. Dem würde ich zustimmen. Tatsächlich flirte ich selbst auch nie auf Deutsch. Andererseits bietet das Deutsche, weil es eine sehr philosophische, komplexe Sprache ist, die Möglichkeit, eine tiefe Verbindung zu beschreiben. Aber dafür muss man sie sehr gut beherrschen.

Wie haben Sie selbst eigentlich Deutsch gelernt?

Vom Fernsehen. Von ARD, ZDF und NDR3. Ich bin in Süddänemark aufgewachsen. Damals hatten wir nur einen dänischen Fernsehsender, aber drei deutsche. Als ich in der Schule Deutschunterricht bekommen habe, konnte ich es schon. In Süddänemark habe ich das Buch und den Film Ende Oktober präsentiert. Aus meiner Kindheit weiß ich, wie kompliziert dort das Verhältnis zu Deutschland ist. Es gibt eine dänische Minderheit auf der deutschen Seite und eine deutsche Minderheit auf der dänischen Seite.

Welche Rolle kann die Sprache bei derlei komplizierten Verhältnissen spielen?

Sprache ist eine Tür zu anderen Sachen. Wenn man den Umgang mit Sprache sensibilisieren kann, wird es auch leichter, andere Sensibilisierungen einzuleiten.

Aus einem offeneren Umgang mit Sprache folgt ein offenerer Umgang mit Menschen?

Ja. Und du kriegst mehr Sex. Die Frage ist: Warum gibt es manche Sprachen, wo man einfach drauflosplappert? Ich glaube, das ist kulturell. Was ich mit „German for Lovers“ sagen möchte, ist, dass man die deutsche Sprache mehr lieben wird, wenn man mischt, Neues erfindet und damit spielt. Es entsteht eine Liebe zur Sprache, und so kann sie auch zu einer Sprache für die Liebe werden.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.